Subtraktion statt Subversion

Stell dir vor, es ist Kapitalismus, und keiner geht hin. Dann kommt der Kapitalismus zu dir! Und wenn er kommt? Dann laufen wir! Eine soziopolitisch angewandte Grundrechenart nach Alain Badiou und Slavoj Žižek, vorgestellt

von Timotheus Schneidegger

 

„Die kleinere Zahl wird immer von der größeren abgezogen, sonst kriegt man komische Ergebnisse“, so lehrst du in der Grundbildung. Dabei bekommen die „Problemjugendlichen“ der Provinz die Grundlagen an Lesen, Schreiben, Rechnen (sowie Körperpflege und Betragen) beigebogen, die in der Förderschule ausgespart oder in der Regelschule verpasst wurden. Da kein Banker den Kinderchen einen Dispo einräumen würde, ist mangels Anwendbarkeit nicht mit negativen Ergebnissen zu rechnen. Die schwereren Jungs und Mädels bringen im Übrigen oft Vorwissen im angewandten Abziehen mit, an das sich anschließen lässt:

Wenn man „ein Opfer sein Smartphone abzieht“ (Grammatik im Original; könnte Ellipsen „enthalten“), hat man mit Blick auf den Minuenden ein Opfer ohne Smartphone. Der Subtrahend ist aber nicht in der Differenz aufgehoben, sondern geht in den Besitz des Abziehenden über.

Diese Güterwirtschaft als Nullsummenspiel ist einerseits kindisch-naiv, verrät jedoch eine von Wirtschaftsmeldungen unverstellte Klarsicht. Sie gipfelt während des WiSo-Themas Geld in einer Analyse, für die Marx und Engels ganze Bücherregale vollschrieben: „Das, was die Reichen zu viel haben, ist das, was den Armen fehlt.“

Vor einer Generation konnte man auf dem Land noch eine Familie durchbringen, wenn man Traktor zu fahren verstand und die Sauferei im Griff hatte. In der heutigen Landwirtschaft braucht es Agraringenieure und für den Hofladen eine Minijobberin. Mit der Deindustrialisierung war die proletarische Kultur aus Rache für jahrzehntelang die Gewinne schmälernde Streikfähigkeit dem Hohn preisgegeben worden. An Stelle des Arbeiterstolzes trat nichts als der Konsum. Der sorgt dafür, auch mit gefülltem Magen noch zu hungern.

Als die Mittelschicht aus Sorge um ihr in Shareholder Value verwandeltes Erspartes die Seile des sozialen Fahrstuhls kappte, ist der Hoffnungsträger des Klassenkampfs ins Souterrain hinabgerauscht. Viel zu erwarten oder zu befürchten hat die arschoffene Gesellschaft nicht von denen, die selten smarter sind als die Mobiltelephone in der einen Hand und der Burger in der anderen. Vernetzter und vereinzelter denn je, im Glauben, Superstar werden zu können, im Bewusstsein, höchstens den Aufstieg ins Prekariat zu schaffen, haben sich die Kinderchen „abgeschrieben“. Bei der Subtraktion des Buchhalters werden Bestände zu Verlusten umgebucht. Abschreiben lassen sich nur die Teile, für die eine „voraussichtlich dauernde Wertminderung“ belegt werden kann. Bei den am Zugang zu einem nicht mehr vorhandenen Markt scheiternden „Unternehmern ihrer Selbst“ ist das ihre Arbeitskraft. Sie galt seit jeher als Quell der Bürgerrechte, aus dem sich alle weiteren ableiten.

Denn in der bürgerlichen Wirklichkeit ist die Würde des Menschen abhängig von seiner Kaufkraft. Darauf wird ein Jedes dressiert, um die „möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie“ (Horkheimer) zu sichern: von der Drohfrage „Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“ über die elterliche Sorge um Familien-, Berufs- und Hausstand der Fortplanzen bis hin zur medial vorgelebten Sozialrealität, in der jede Art von Gemeinschaft, die nicht nach Casting-Show-Gesetzen funktioniert, als spinnert und parasitär ausgewiesen wird.

Kaum besser beleumundet sind nach dem Kollaps der Sowjetunion und Chinas Übergang zum Stamokap die Überlegungen, ob die großen Erzählungen damit zu Ende sind. Slavoj Žižek nannte 2008 eines seiner Bücher „In Defence of Lost Causes“ (deutsch: „Auf verlorenem Posten“). Zu den gescheiterten Anliegen, um die er sich bemüht, zählt die globale Emanzipationsbewegung, die zweifellos in der Krise ist. Jene findet ihre anhaltende Berechtigung wie Delegitimierung im postmodernen Liberalismus. Das Subjekt ist frei zu Entscheidungen, deren jede innerhalb einer alternativlosen Totalität diese affirmiert. Punk, Bio und SPD sind Mainstream, weil kein richtiges Leben im falschen möglich ist. Adorno verweigerte folgerichtig die Teilnahme, um erstmal nachdenken zu können. Allenfalls müsse es in einer „kleinen Praxis“ darum gehen, die Katastrophe abzuwenden, heißt es in der Negativen Dialektik, freilich ohne Tipp, wie das gehen soll, ohne erst dadurch die Katastrophe herbeizuführen.

Žižek kennt das Problem. Zum Vordenker der Occupy-Bewegung und Gruselmonster des Feuilleton wurde er, weil er trotzdem über den Sturz der herrschenden und die Schaffung einer gerechteren Ordnung nachdenkt.

Als eine solche Möglichkeit zur bestimmten Negation betrachtet Žižek die „Politik der Subtraktion“, mit der Alain Badiou auf die Unmöglichkeit emanzipatorischer Politik innerhalb und außerhalb des Staatsapparats reagiert. Die einzig verbliebene Alternative zur Affirmation besteht darin, sich der herrschenden Ordnung zu entziehen, wodurch der Totalität ihre Grundlage entzogen und sie ihrer eigenen Leere ausgesetzt werde. Das Subjekt geht auf Distanz zum soziopolitischen System, ohne es zu zerstören. Der Revolutionär als beleidigte Leberwurst im Schmollwinkel?

(Photo: Georg Frost)

Es ist Sache der Doktoranden, durch wie viele und wessen Hände der Hegel von Badiou und Žižek gegangen ist. Letzterer stützt sich – mehr noch als Badiou – auf die psychoanalytische Lesart Lacans, welche wiederum von der sozialphilosophischen Kojèves geprägt ist. Das transformative Potential des Subjekts, das nach Lacan vom Großen Anderen durchgeprägt ist, steckt in der Sackgasse, weil seine Wünsche nie seine eigenen sind und seine Entscheidungen nur scheinbar autonom getroffen werden. Die herrschende Ordnung erzwingt überdies Entscheidungen in falschen Wahlen („Freiheit oder Sozialismus“, „Religion oder Sittenverfall“, „Karriere oder Hartz IV“). Indem man jemanden immer wieder fragt, ob er Fisch oder Fleisch möchte, wird die eigentliche Ernährungsfrage verstellt.

Drum folgert Žižek, jede Negation innerhalb der herrschenden Ordnung sei die Unterwerfung unter sie. Ihre Ideologie ist der „demokratische Materialismus“, Globalisierung ohne Wahrheit. Indem sie ihren „Hauptwiderspruch“ (freier Markt vs. Totalitarismus) als maßgeblichen ausgibt, verdeckt sie ihren tatsächlichen. Die Subtraktion weist den Hauptwiderspruch als falschen zurück und hebt den verworfenen Rest jenseits des Gegensatzfelds („Liberalismus (1) vs. Fundamentalismus (1)“ vs. „Das ist nicht der wahre Widerspruch! (a)“) auf.

Mit ins Soziopolitische übertragener Lacanscher Psychomathematik (1+1+a) erweist Žižek diesen Überschuss (das Lacansche Kleine Andere) als den eigentlichen Antrieb historischen Wandels, wie er am Klassenkampf zeigt: Hieße die Gleichung bloß 1+1, hüben Bourgeoisie (1) und Proletariat (1) einander auf. Das inkommensurable a (Juden) ist ein Überschuss des Antagonismus, der zu seiner Leugnung dient und seine Beilegung verhindert: „Gerade weil es niemals nur zwei gegensätzliche Klassen gibt, gibt es Klassenkampf.“

Die Politik der Subtraktion zielt darauf, den gesellschaftlichen Exzess a (und damit die Instabilität der Gleichung 1+1) zu vergrößern.

Krisen sind zu Tage tretende innere Widersprüche und Momente der Wahrheit. Kleine Reformen können dann zum Zusammenbruch führen (Perestroika, Schabowski, Euro), während mit revolutionärer Verve betriebene Radikalumbauten die Ordnung stärken (New Deal, die rot-grüne „Rettung des Sozialstaats“). So bezweifelt Žižek, ob es subversiv ist, der herrschenden Ordnung mit hochgekrempelten Ärmeln zu begegnen. Kleine, scheinbar affirmative Maßnahmen einer „Politik der minimalen Differenz“ können dagegen, „obwohl sie die Funktionsweise des Systems in keiner Weise stören, dessen ‚Untergrund bewegen‘ und einen Riß in seinem Fundament bewirken.“ Würde jeder nur etwas auf Fleisch verzichten, bräche dieser Wirtschaftssektor bald zusammen; die Subtraktion zwänge ihn zu dem Umbau – genauer: erlaubte ihm erst den Umbau, den Tierschützer und Gesundheitsexperten innerhalb der herrschenden Ordnung noch jahrelang vergeblich einfordern müssten.

Überhaupt ist die moderne Nutztierhaltung ein gutes Bild für die herrschende Ordnung, nicht nur weil beide eine Schande für die Menschheit sind. Skepsis über das transformative Potential der Subtraktion ist aus zwei Gründen angebracht: Selbst wenn sich das Vieh seines Schicksals bewusst wäre, würde es sich darin sicherer als in der Utopie wähnen. Zum anderen sorgt die Ordnung ganz handfest für sich selbst: Der Schäferhund ist der Kleine Andere, der die Herde konstituiert und weder Teil von ihr noch des Verwertungsbetriebs ist.

Darum ist es an den Schäferhunden, die Schafe in die Lage zur durchhaltbaren Subtraktion zu versetzen. Wenn hier von „Herde“ gesprochen wird, dann weniger aus Kaderdenken als infolge einer systemischen Notwendigkeit. Kant nennt 1784 den Großteil der Menschheit „Hausvieh“ derer, „die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben“ und damit leichtes Spiel haben, denn: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Das Bildungssystem der herrschenden Ordnung zielt auf die Herstellung von Berufsreife. Nimmt einer der so Erzogenen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, ist das eher ein Unfall.

Widerspräche es nicht dem Aufklärungsgedanken, jemanden im Gebrauch seines Verstandes anzuleiten? Das Urteil, junge und ratlose Menschen sehnten sich nach Führung, wird nicht falsch, weil es von rechten Operettenfreunden vertreten wird. Wenn du nicht Führung übernimmst, macht es ein anderer, der allerdings nicht Skepsis lehrt. Die ist nötig, wenn die Subtraktion mehr sein soll als Politikverdrossenheit und Hikikomori.

Fabio Vighi und Heiko Feldner haben sich im „International Journal of Žižek Studies“ (Vol. 4, Nr. 1) – ganz recht, schon zu Lebzeiten ist ihm eine eigene Fachzeitschrift gewidmet – die Mühe gemacht, die Subjektkonzeption aufzudröseln, die der Subtraktion zugrundeliegt. Wie bei Hegel entsteht Žižeks Subjekt erst aus seiner inneren Negativität. Im demokratischen Materialismus ist das Subjekt narzisstisch-solipsistisch (Konsum & Eigenverantwortung) allein in Gesellschaft und dem Großen Anderen ausgeliefert. Um sein transformatives Potential wiederzugewinnen, muss es seine Negativität sich selbst und der Gesellschaft gegenüber annehmen. Das ist allerdings wenig attraktiv, gewinnt das Subjekt dadurch doch nichts. Vielmehr verliert es zunächst einmal alles, allen voran seine Legende als vollständiges Ich.

Sowohl das cartesianische Cogito als auch die durch den Großen Anderen vermittelte Subjektivität des demokratischen Materialismus hängen von Verleugnungsmechanismen ab, die zugleich das Scheitern dieser Subjektivität bedingen. Vermittelte Subjektivität und symbolische Ordnung hängen zusammen, darum bringt das Wirkliche erst als Verleugnetes die symbolische Ordnung hervor. Žižek nennt als Beispiel den Klassenkampf, den es nicht geben darf und der darum Kulturindustrie und Warenwelt hervorbringt, die wie Hegels Idealstaatsmonarch von Anhängern und Gegnern für das Ganze gehalten werden.

Um das Ganze als das Falsche zu erkennen und sich nicht im angeblichen Hauptwiderspruch zu verlieren, braucht es Zeitdisziplin, die das Maß zwischen Hyperaktivität und Quietismus hält, die sorgfältig abwägt, den Blick für ideologische Verschleierungen schärft und auf den richtigen Moment wartet.

Im Zuge der Occupy-Bewegung ist die Subtraktion als „Bartleby politics“ bekannt geworden, benamst nach dem von Melville ersonnenen Schreiber, der auf die Zudringlichkeiten der herrschenden Ordnung antwortet: „I would prefer not to.“

Die Disziplin, mit der Occupy der Negation treu blieb und sich aller Führerfiguren und Weltrevolutionsparolen enthielt, hat viele irritiert und fasziniert. Im öffentlichen Raum wurden autonome Zonen geschaffen, in denen die Umgangsform des demokratischen Materialismus („Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“) aufgehoben ist.

Das müffelt nach Kommune (in diesem Sinne übrigens versteht sich Badiou als Kommun-ist), geht aber noch über das hinaus, wovon Michel Houellebecq in seinem Essayband „Die Welt als Supermarkt“ sprach: „Eine Gesellschaft, die die Stufe der Überhitzung erreicht hat, fällt nicht zwangsläufig in sich zusammen, sondern erweist sich als außerstande, einen Sinn zu produzieren … Dennoch ist jedes Individuum in der Lage, in sich selbst eine Art kalte Revolution zu verursachen … Es reicht aus, eine Ruhepause einzulegen, das Radio auszustellen, den Fernseher auszumachen; nichts mehr zu kaufen, nichts mehr kaufen zu wollen. Es reicht aus, nicht mehr mitzumachen, nichts mehr zu wissen, jede geistige Tätigkeit vorübergehend einzustellen. Es reicht im wahrsten Sinne des Wortes aus, für einige Sekunden reglos zu werden.“ Angesichts der Beherrschung des Subjekts durch den Großen Anderen scheinen auch kaum andere Optionen offen. Die Subtraktion wagt – statt Houellebecqs kalter Revolution und Adornos kontemplativer Selbstzurücknahme – das unbestimmte utopische Risiko, das Adorno scheute, weil es eine noch schlimmere Ordnung bergen könnte.

Sie zielt auf das, was Badiou als „Ereignis“ ins Zentrum seines Werks „Sein und Ereignis“ stellt. Die Ähnlichkeit zu Heidegger ist kein Zufall. Wie bei diesem ist Badious Ereignis ein krisenhafter Moment, in dem eine Wahrheit sich zeigt. Subjektivität ist das Verhältnis, das dazu eingenommen wird. Im demokratischen Materialismus ist Wahrheit durch den Großen Anderen geleugnet und echte Subjektivität unmöglich. Das Ereignis als Entstehen von etwas Neuem, das nicht auf seine Ursachen reduziert werden kann, bedarf jedoch eines Subjekts.

Subjektivität als Bezugsweise auf das Ereignis kann sein Treue, Wiedereingliederung, Leugnung, Ablehnung, Durchsetzung oder Erneuerung. Žižeks Hypothese mit Blick auf verfehlte revolutionäre Ereignisse lautet: „Ein Ereignis wird beim erstenmal notwendigerweise verfehlt, wahre Treue ist nur in der Form der Wiederbelebung möglich“. Den Marxismus gab es erst mit seiner Erneuerung durch Lenin, die Psychoanalyse erst mit Lacans Update Freuds. Diejenigen, die schließlich aus dem Zuccotti Park und vorm EZB-Gebäude vertrieben wurden, hatten Maos Slogan „von Niederlage zu Niederlage zum Sieg“ im Kopf. Denn das Ereignis als revolutionärer Akt ist immer voreilig. Drum lohnt es sich, den verlorenen Posten des Subjekts zu halten.

Žižek bringt auch hier die Lacansche Dialektik ins Spiel, wonach das Ereignis einem Überschuss aus Sein und Welt entspringt. Der Kapitalismus kennt den Überschuss nicht als Problem, sondern als Triebkraft. Darum ist jede Gegenbewegung Teil der Bewegung selbst, wie die Tafeln, die überschüssige Lebensmittel an überschüssige Mitglieder einer Gesellschaft verteilen, deren Wohlstand von Überschussproduktion abhängt. Antikapitalistische Politik ist unmöglich, wenn der Kapitalismus wie bei Badiou als Ökonomie zum Hintergrund allen Handelns renaturalisiert wird. Dies macht Žižek als gedankliche Voraussetzung für die Empfehlung aus, den Staat aus allen revolutionären Gleichungen zu streichen und als bloßen Verwaltungsapparat zurückzulassen.

Politik der Subtraktion muss nicht mehr antagonistisch sein, weil sie von der politischen Wirklichkeit gelöst ist. Sie ist mit Hegel eine bestimmte Negation, da sie im Bereich jenseits vom Staat und Ökonomie einen autonomen Raum schafft. Ihre indirekte Destruktivität besteht darin, das System im wahrsten Sinne zu unterminieren. Žižek bemüht das Bild eines Kartenhauses und lobt Badiou für den Dreh, „daß die negative Geste des Rückzugs, des Wegnehmens, an sich produktiv ist und eine neue Dimension eröffnet.“

Es geht dabei weder um den Subtrahenden noch um den Minuenden, den es in der Tat nicht beeindrucken muss, was ein paar Spinner im Abseits treiben. Žižek erzählt, wie das massenhafte Abgeben ungültiger Wahlzettel die „Gewählten“ zwingt, sich durch ihr Handeln zu beweisen, da ihnen die Legitimation durch einen angeblichen Wählerwillen fehlt. Allerdings bleibt er skeptisch. Muss am Ende nicht jemand übrig bleiben, der den Verwaltungsapparat in Gang hält? „Überlassen wir darüber hinaus nicht allzu leicht dem Feind das Feld (des Staates), wenn der Raum der emanzipatorischen Politik über die Distanz zum Staat definiert wird?“

Es zeigt sich das alte Dilemma der Kritischen Theorie von der Unmöglichkeit richtigen Lebens im falschen. Wer nichts tut, macht auch mit. „Es gibt aus der Verstricktheit keinen Ausweg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung, wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.“ (Minima Moralia, 6)

Wer dem entgegnet, hier sei es immerhin besser als in einem nordkoreanischen Straflager, möge über solche Trostbedürftigkeit ins Grausen und Grübeln geraten. Notwendig ist die Subtraktion schon wegen der ökonomisch vergifteteten Subjektivität im demokratischen Materialismus. Wahrhaftigkeit erscheint selbst dann unglaubwürdig, wenn jemand etwas sagt, was seinen Interessen zuwiderläuft; geglaubt wird nur das Bedeutungslose, für wahr gehalten nur das, was schon geglaubt wird oder an die niederen Instinkte rührt. Ein Sinnbild für das Große Andere, das euch noch bis ins Intimleben bestimmt, ist das Phoebuskartell. Die führenden Glühlampenhersteller kamen 1924 darin überein, die Lebensdauer ihrer Produkte zugunsten höherer Verkaufszahlen zu begrenzen. Längst aufgeflogen, ist das Kartell weiterhin wirksam in der Form, dass ein Glühlampenhersteller sich selbst schaden würde, investierte er in die Lebensdauer seiner Produkte. Der Verbraucher ist nicht bereit, den höheren Preis zu zahlen und den Herstellerversprechen zu glauben. Auf gleiche Weise wird der ehrliche Verzicht auf Verwertungslogik für einen scheinbaren gehalten, Teil einer umso perfideren Verwertungslogik.

Dies betrifft sogar die Tugenden, die ihren Zweck in sich selbst haben. Loyalität gegen Bezahlung ist keine, ebenso wie sie karrieretaktisch bekundet keinen Wert hat. In der Unterschicht gelten solche altmodischen Tugenden noch was, während sie vom Bürgertum nur noch im Munde geführt werden. Im Umsichgreifen der „Sozialkompetenz“ des „Sich-verkaufen-könnens“ nähern Menschen sich einander in der herrschenden Ordnung nur noch, um einander leichter übervorteilen zu können.

Die Selbstauskunft der Schriftstellerin Sibylle Berg in ihrem Twitterprofil wirkt wie eine griffige Formel der Subtraktion: „kaufe nix, ficke niemanden“ Es wäre allerdings nicht das erste Mal, wenn es sich mit einem solchen Slogan in der herrschenden Ordnung ganz kommod leben lässt, wie auch Politiker aus einem „Anstand“ heraus zurücktreten, der nur das Kalkül eines Comebacks ist.

Die echte Subtraktion ist eine inkommensurable Negation der Negation, der Verzicht auf die demokratisch-materialistische Subjektivität. Das ist erstmal unerfreulich, zumal Konsum das einzige ist, was über die ökologischen und seelischen Verheerungen der herrschenden Ordnung hinwegtäuscht.

Von der Subtraktion ist nichts zu erwarten, sie ist zuallererst ein Sprung ins Nichts, in die absolute Negativität – auch sozial, denn man kann sich der Ordnung nicht innerhalb der Ordnung entziehen. Faulheit und Feigheit sind die größten Hindernisse der Aufklärung, sagt Kant, drum muss diese erstmal den Mut zur Überwindung jener lehren. Danach kommt der Rest der Entfesselungskunst. Da die Medienwelt von der PR kolonialisiert ist, ist der „Verblendungszusammenhang“ keine linke Verschwörungstheorie mehr. „BILD lügt“, reicht nicht. Man muss sich klar werden, warum die BILD-Macher ein vitales Interesse daran haben, die Schwachen mit dem Kampf gegen die Schwächsten beschäftigt zu halten. Nur wer nicht weiß, was es mit „Dublin II“ auf sich hat, kann schamlos über „Wirtschaftsflüchtlinge“ schimpfen. Solange die Herde den griechischen Schlendrian verachtet, fragt sie nicht, wessen Vermögen da gerettet werden. Das auch mit denen durchzugehen, die zur Verwertung im Niedriglohnsektor vorgesehen sind, bedeutet deren didaktische Überforderung statt einer Ausbildung, die „die Menschen da abholt, wo sie sind“, und sie auf diese Weise aktionistisch ebendort belässt.

Nicht die Leute sind das Problem, sondern die Ordnung, in der sie leben. Die herrschende Ordnung ist eine, die mehr Leid und Elend als Wohlstand produziert. Auch im globalen Maßstab ist das, was den Armen fehlt, das, was die Reichen zu viel haben. Die Rede von der „herrschenden Ordnung“ hat ihren Sinn, weil es die Ordnung ist, die herrscht. Es ist dumm, auf „die da oben“ zu schimpfen. Innerhalb der herrschenden Ordnung kann jeder Politiker, selbst wenn er wollte und gar als „mächtigster Mann der Welt“ gilt, nur noch das Beste für sich und die Seinen herausholen.

Während die Staaten mit immer neuen Demutsgesten „um das Vertrauen der Märkte werben“, breiten sich unfrei machende Ordnungszustände aus, ohne dass sich jemand dafür verantwortlich fühlen müsste. In Staatswesen, die zu sehr damit beschäftigt sind, Vermögenden ihre Spekulationsverluste abzukaufen, um noch ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden, wird nicht mehr geherrscht, nur noch verwaltet. Überall tun sich minimale Differenzen auf. Private Dienstleister übernehmen einstmals hoheitliche Aufgaben: Bildungsträger, Zeitarbeitsfirmen, Nachhilfeinstitute, Sicherheitsdienste. Wohltätigkeit dient dem Sozialprestige und Extremisten wissen die Bereiche, aus denen sich der Staat zurückgezogen hat, zu füllen.

Die Abseitigen sind bereits im Abseits, hier hat die Herde ihrer Sozialhygiene zuliebe bereits die Subtraktion vorbereitet. Die Subtrahenden indes hängen noch am Minuenden. Dabei entwickeln sie eine beachtliche Ausdauer und Kreativität, um nicht den Strich ziehen zu müssen. Analphabeten und die in Hartz IV erodierte Mittelschicht tun alles, um den Anschein der Zugehörigkeit zu wahren. Niemand hat ein gründlicheres Verständnis von der herrschenden Ordnung als die, deren Überleben davon abhängt, in ihr nicht als unzugehörig aufzufallen. Das revolutionäre Potential solcher Klarsicht ist durch die Furcht des Ausgestoßenen, als Ausgestoßener erkannt zu werden, gegen ihn selbst gerichtet. Diese Klammer gilt es zu lösen.

Zugleich muss gelehrt werden, aller Hoffnung ledig zu sein, Versprechungen zu misstrauen, Unsicherheit zu ertragen und Zweifel zu sähen, um beim Subtrahieren keine schäbigen Ergebnisse zu kriegen. In Rechtsradikalismus oder Islamismus antworten die, die angenommen haben, von der Gesellschaft verworfen zu sein, ihr damit, sie zu verwerfen und für sich selbst einen sonnigeren Platz in der herrschenden Ordnung zu beanspruchen. Damit ist in der Negation der Negation Schluss: Die Subtrahenden müssen zu einer Menge ohne Eigenschaften werden, nie zu einer Zahl, die zum neuen Minuenden wird.

Das Ziel ist, jedem ein richtiges Leben zu ermöglichen, nicht bloß Deutschen, Rechtgläubigen oder Leistungsträgern. Es geht in der Subtraktion nicht darum, dem Schäfer seinerseits das Fell über die Ohren zu ziehen oder seinen Platz einzunehmen. Die Schafe lassen ihn einfach – eines nach dem anderen – allein auf der Weide stehen. Im Schäferhund ist der Wolf aufgehoben. Das ist kein Ende, sondern ein historischer Auftrag.

 


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