Notennot

Wir sind jung und machen uns Sorgen über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt: über sechs Zahlen, die die Welt bedeuten.

von IPuP-Press

 

Es gibt Zahlen, die persönliche Bedeutung haben. Es gibt welche, die auch über eine kulturell überlieferte Bedeutung verfügen. Es gibt welche, die nur in bestimmten Kreisen Bedeutung besitzen und wahrscheinlich noch ganz viele andere Arten von Zahlen. Aber die wohl gesellschaftlich am bedeutsamsten erscheinenden Zahlen sind die ersten sechs, nämlich genau dann, wenn sie als Zensuren oder Noten daherkommen. Keine anderen Zahlen bestimmen die gesellschaftliche Position und zugleich das Selbstbild so sehr. Das ist doch seltsam – es sind sechs abstrakte Zahlen, warum können die eine solche Kraft entwickeln?

Aus gegebenem Anlass, der dieses Mal ein zugegebenermaßen persönlicher ist, wird es um Noten oder Zensuren gehen. Dieser persönliche Anlass besteht im eigenen Abschluss. Und dem Warten auf das Abschlusszeugnis, Warten auf die Benotung. Das zugleich immer auch ein Warten auf das Urteil ist: Hast du es drauf oder gehörst du doch zu den Versagern? (1) Alles bisher gewesene erscheint egal, all die Hausarbeiten, Referate, Aufsätze, Vorträge zählen nichts im Angesicht der einen Zahl. Ein Jahr hat es gedauert. Und ob es nun ein gutes Jahr oder ein schlechtes war, das scheine nicht ich zu entscheiden, sondern irgendjemand anderes, dieser andere wird eine Zahl darunter schreiben. Und diese Zahl wird nicht nur über meine Zukunft entscheiden, sondern sie wird mir auch sagen, wer ich bin.

Was natürlich totaler Quatsch ist, sagt mein Ich. Das ist nur die bürgerliche Gesellschaft im eigenen Kopf. Warum das alles Unsinn ist, das habe ich von zwei unabhängig voneinander entstandenen Theorien gelernt. Die eine, erdacht von Michel Foucault, untersucht die Disziplinar- und Kontrollinstitutionen der bürgerlichen Gesellschaft. Darunter fällt nicht nur das Gefängnis, sondern neben der Armee, den Spitälern und den Anstalten auch die Bildungseinrichtungen.

Die andere wird vertreten von Freerk Huisken. Er ist Marxist und eine Art Institution an der Uni Bremen – niemand hat Generationen von Lehramtsstudenten (unser aller Lieblingsstudenten) solches Kopfzerbrechen bereitet, niemand hat stärkere Ablehnung und Wutanfälle heraufbeschworen als Freerk Huisken. Dies geschah nicht als gewollte Provokation, sondern resultierte ganz einfach aus seiner klaren, ruhigen, aber sehr radikalen Ablehnung des Notensystems. Mit einer Engelsgeduld setzte Huisken Woche für Woche, Semester für Semester den verwirrten Lehramtstudenten, die von ihrem Machtinstrument Notengebung so gar nicht lassen wollten, auseinander, warum er es einfach nicht für eine gute Idee halten könne. Und der Mann hat gute Gründe dafür, die sich so gut mit denen von Foucault vertragen, dass es manchmal schwer fällt, die Grenzen zu ziehen.

(Photo: IPuP-Press)

Foucault und Huisken sind sich in ihrem Urteil über die Notengebung, ihre Funktion im Bildungsbereich der Schule (obwohl sich mittlerweile vieles auf die Universität übertragen lässt), einig. Ich habe nie verstanden, wie man Foucault lesen kann, ohne Huiskens konkrete Analyse vor Augen zu haben. Foucault analysiert ganze Epochen; Huisken betrachtet das Elend heute. Foucault zitiert Schriften von Bentham und Reglements aus Kasernen; Huisken benutzt das bremische Schulgesetz und die (meist schwachsinnigen) Veröffentlichungen von Pädagogen. Foucault arbeitet historisch und entwirft dabei philosophische Begriffe; Huisken arbeitet empirisch und analysiert das Bildungswesen. Aber beide tun das, was Deleuze und Guattari unter dem Begriff des Minoritär-werdens fassen: Nicht für die Unterlegenen, minoritären, marginalisierten, zum Schweigen gebrachten, vom Diskurs ausgeschlossenen Menschen zu sprechen, sondern vor ihnen. (2)

Um die versprochenen Verbindungen endlich ziehen zu können, bedarf es eines Ausgangspunktes, der aber bitte nicht mit einem Anfang zu verwechseln ist. Keine Hierarchie steckt dahinter, nur Pragmatik. Den Ausgangspunkt bildet ein Zitat von Foucault: „Im System der Disziplinarmacht zielt die Kunst der Bestrafung nicht auf Sühne und auch nicht eigentlich auf die Unterdrückung eines Vergehens ab. Sie führt vielmehr fünf verschiedene Operationen durch: sie bezieht die einzelnen Taten, Leistungen und Verhaltensweisen auf eine Gesamtheit, die sowohl Vergleichsfeld wie auch Differenzierungsraum und zu befolgende Regel ist. Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann. Die Fähigkeiten, das Niveau, die ‚Natur’ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Hand in Hand mit dieser ‚wertenden’ Messung geht der Zwang zur Einhaltung einer Konformität.“ (3)

Was steht hier? Zuerst, dass die Bestrafung nicht der Sühne oder Unterdrückung eines Vergehens dient, sondern fünf Operationen darstellt:

1. Die Einzelleistung sowie Taten und Verhaltensweisen werden auf die Leistung einer Gesamtheit bezogen, die zum Vergleich, zur Differenzierung und als zu befolgende Regel dient. Bezogen auf die Schule heißt die Gesamtheit „Schulklasse“.

2. Dadurch werden innerhalb der Gesamtheit/Klasse die einzelnen Schüler voneinander differenziert. Was das konkret bedeutet zeigt Huisken. Er stellt zuerst einmal fest, dass es bei der Prüfung und der damit einhergehenden Bewertung der Schüler gar nicht darum geht, dass alle bestanden haben. Damit die Schüler differenzierbar werden, müssen Unterschiede zwischen ihnen her. Das bedeutet es, eine Gesamtheit differenzieren zu wollen: Es geht mit der ganzen Leistungsschau niemals darum, Wissenslücken aufzudecken, um sie beheben zu können, es geht nicht um die Korrektur von Fehlverhalten, wie schon Foucault zu Anfang des Zitats anmerkt. Ziel des Ganzen ist die Differenzierbarkeit, die innerhalb von sechs kleinen Zahlen stattfinden muss.

3. Individuen werden in Hinblick auf eine Gesamtregel differenziert, diese Gesamtregel kann sich als Mindestmaß, Durchschnitt oder optimaler Annäherungswert darstellen. Die Schüler werden vergleichbar untereinander, aber auch vergleichbar in Bezug auf eine Gesamtregel, die im Fall der Schule über alle von Foucault genannten Kriterien verfügt: Jeder Schüler soll ein ein Mindestmaß erreichen (4), der optimale Annäherungswert bietet das vordere Spektrum der Notengebung, aber der Durchschnitt, der hat es in sich. „[A]ls Maxime gilt, daß die Qualifizierung der Fehlermengen im Prinzip eine Besetzung aller Notenpositionen zum Resultat haben muß. Als handliches Bild für die gewünschte Verteilung der Schüler auf die Notenskala gilt hier die Gaußsche Glockenkurve mit ihrem dicken Mittelbau und den ausgedünnten Extremen. Deshalb darf die Soll-Leistung auch keine fixe Größe sein. Anders gesagt: Die Soll-Leistung muß sich an der Ist-Leistung der Gruppe orientieren, wenn das Leistungsspektrum die Differenzierungsmöglichkeiten ausschöpfen soll, die sechs Notenpositionen bieten.“ Das heißt, dass die Leistung eines Schülers immer davon abhängig ist, wie die anderen abgeschnitten haben. Jedoch steht am Ende auf dem Zeugnis eine objektiv erscheinende Zensur, die über (Bildungs-)Karrieren entscheidet. So etwas nennt der (natürlich hegelfeste) Marxist eine falsche Abstraktion.

4. Die Fähigkeiten, das Niveau und die „Natur“ der Individuen werden quantifiziert und in Werten hierarchisiert. Über die hierarchisierenden Werte wurde bereits gesprochen, deshalb soll hier nun auf die interessante Zusammenstellung von Fähigkeit, Niveau und „Natur“ (man könnte auch „Wesen“ oder „Charakter“ sagen) des Menschen, in diesem hier verhandelten Fall des Schülers. Die Prüfung zeigt „das heraufkommen einer neuen Spielart der Macht an, in der jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ‚Noten’ festgelegt wird, die aus ihm einen Fall machen.“

Aus den Noten, dieser falschen Abstraktion, wird also zugleich ein Instrument, eine Technik, um dem einzelnen Schüler eine bestimmte Individualität zuzuweisen. Er wird zu einem Fall, so wie auch der Irre oder der Gefängnisinsasse zu einem Fall wird, zugleich entwickelt sich natürlich die passende Wissenschaft hierzu, in der Schule die Pädagogik, die ihre fiesen Individualisierungstechniken auch noch als zum Wohle des Schülers erdacht ausgibt. „Nicht umsonst ist der Lehrer gehalten, kontinuierlich Material für eine mündliche Benotung zu sammeln, die der schriftlichen Zensur gleichgestellt ist. Auf diese Weise ist jedes Moment des Lernprozesses Bestandteil einer allgegenwärtigen Vergleicherei. Die Schülerpersönlichkeit steht mit jeder Äußerung, die sie tut oder nicht tut, dauerhaft auf dem Prüfstand. Nicht an den Zufälligkeiten, die bei acht übers Jahr verstreuten Tests das Leistungsbild bestimmen können, soll sich nämlich der Vergleich der Individuen entscheiden. Mit der Berücksichtigung der gesamten Lernentwicklung soll das Individuum als Ganzes Material zu seiner Eingruppierung liefern.“ Es wird also nicht nur über einzelne Leistungen geurteilt, sondern die ganze Person steht auf dem Prüfstand. Dieser Bewertung der Person, die auch in der Notengebung steckt, wird natürlich von Schülern (wie von allen anderen Subjekten) internalisiert, zum Selbstbild hinzugefügt. Aufgrund der unglaublich starken objektiven Wirkung der Zensuren wird eine spezifische Subjektivität geschaffen, dies lernt man von Foucault wie auch von Huisken.

5. Die letzte von Foucault im Ausgangszitat genannte Operation ist der Zwang zur Einhaltung der Konformität. „Die Anordnung nach Rängen oder Stufen hat eine zweifache Aufgabe: sie soll die Abstände markieren, die Qualitäten, Kompetenzen und Fähigkeiten hierarchisieren; sie soll aber auch bestrafen und belohnen. Die Reihung wirkt sanktionierend, die Sanktionen wirken ordnend. Die Disziplin belohnt durch Beförderungen, durch die Verteilung von Rängen und Plätzen; sie bestraft durch Zurücksetzungen. Der Rang selbst gilt als Belohnung oder Bestrafung.“ Klar, da die Noten zugleich über gesellschaftliche Zukunft entscheiden, ist eine gute Zensur zugleich eine Belohnung.

Das Notensystem dient also auf der einen Seite dazu, Unterschiede erst herbeizuführen. Dabei wird bei der Ermittlung von Differenzen auf den Vergleich mit einer Gesamtheit zurückgegriffen, die dabei gewonnenen Zahlen werden jedoch abstrakt verallgemeinert. Die Zensuren wiederum sind entscheidend für den Werdegang des Schülers und für sein Selbstbild. Schüler sind Hauptschüler oder Gymnasiasten, Klassenbeste oder Versager, aufgrund von sechs kleinen Zahlen sollen sie ihren Platz in der gesellschaftlichen Ordnung einnehmen. (5)

Anmerkungen

(1) Ein Abschluss in Philosophie nach 18 Semestern wäre für den außerphilosophischen Rest der Welt sowieso kein Erfolg – ganz egal mit welcher Note.

(2) Und weil genau das mit dem Minoritär-werden so oft falsch verstanden wird, an dieser Stelle noch mal explizit die Anmerkung, dass es beim Minoritär-werden also nicht um eine falsche Identifikation mit einer marginalisierten Gruppe geht. Bitte ab jetzt richtig verwenden! (Mehr dazu im Kapitel Geophilosophie in „Was ist Philosophie?“ von Deleuze/Guattari, da steht das alles drin.)

(3) Foucault (1976): Überwachen und Strafen, S. 236. Alle weiteren Zitate stammen entweder aus diesem Werk oder aus Freerk Huisken (2001): Erziehung im Kapitalismus. Was von wem kommt, wird nicht verraten.

(4) Sonst droht die Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt und damit im Leben, siehe Punkt 5.

(5) Das natürlich gute Noten allein nicht Garant für den gesellschaftlichen Erfolg sind, sei anerkannt.


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