Bewusstsein binärer Beliebigkeit

Was haben Hummeln und Computer gemeinsam? Beide können technisch gesehen gar nicht funktionieren, tun es aber aus Unwissenheit trotzdem. Erstere haben keine Ahnung von Aerodynamik, letztere keine von Zahlen.

Vorläufiger Überschlag von Michael Helming

 

13. Zwei Welten Minimum?

Zunächst darf ich mich unverantwortlich erklären für die bedauerliche Tatsache, dass in manchem Menschenhirn komplexe Probleme zuweilen abgehandelt werden, als seien sie widerspruchslos und mit nur einem einzigen möglichen Ergebnis gelöst. Dies betrifft alle Wissensbereiche, so auch die Zahlenwelt.

Spätestens seit Leibniz greift die Idee von Mathematik als Sprache, mit der Gott uns das Universum erklärt. Der deus calculans produziert die beste aller möglichen Welten und legt eine Bedienungsanleitung aus Zahlen und Symbolen bei, die der Mensch nur zu lesen braucht, um alles Existierende – sich selbst eingeschlossen – zu verstehen. Die Älteren unter meinen Lesern erinnern sich an die längst Geschichte gewordene Unmöglichkeit, trotz präziser Anleitung einen Videorekorder zu programmieren. Mit dem Universum dürfte es ähnliche Schwierigkeiten geben. Wenn Zahlen Worte einer Sprache sind, kann es nicht ewig dauern, bis ein Sprachkritiker auf den Plan tritt, um das Konstrukt aus numerologischem Stottern und Schreien zu zerlegen, was Fritz Mauthner im dritten Band seiner „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ unternimmt, wo er uns wissen lässt, in der Natur gäbe es überhaupt keine Zahlen, sondern nur Verhältnisse. Zahlen sind eine Erfindung des Menschen, wie der Wagen (oder der BigMac) und von Menschen gemachten Dingen darf man misstrauen. Wenn Kinder Zahlenbegriffe lernen, dann verbinden sie zum Beispiel mit der 3 und der 4 zunächst den Begriff der Vielheit. Mauthner verweist hier auf Aristoteles, der die Kategorie der Quantität in die Unterbegriffe der Einheit, der Vielheit und der Allheit zerfallen ließ. Mauthner stellt fest, gegenüber der Vielheit sei die Einheit ein viel brauchbarerer Begriff, was zunächst einleuchtet, denn die Einheit, die 1, das ist quasi jeder selbst, das Ich, das sich von der 1 (sansk.: êka) herleiten lässt. Weiter sagt er: „Die Eins ist noch keine Zahl, sondern nur der Grenzbegriff des Zählens.“ Von der Zwei (Du) spricht er nicht nur als „erste wirkliche Zahl“, falls „2 wirklich die einzig echte Zahl“ sei, „so ließe sich der ganze stolze Bau der Mathematik langsam und sicher herauskonstruieren aus der Urgleichung 2-1=1.“ Geht die Mathematik dann sogar irgendwie als Weltsprache durch, die unsere Welt anhand zählbarer Quantitäten auf das eine/einzige Ich reduziert? Tja. Ist das (dem Ich) nicht egal? Egal ist bekanntlich Achtundachtzig. Über die Null jedenfalls denkt Mauthner ähnlich nüchtern: Sie sei Zahlzeichen und Begriff, verschwinde „aus dem Resultat, nachdem sie als Hilfsgröße im Kalkül war“ und führe „theoretisch zu Widersprüchen und Sophismen (%), dient aber praktisch zur Vereinfachung des Rechnens mit mehrstelligen Zahlen.“ Da ist also beileibe keine göttliche Betriebsanleitung mehr, sondern lediglich ein Dualismus aus sich selbst heraus: das Ich (1) und das Andere (1), das zweite (2) Ich (1). Drumherum ist nur das Nichts (0) und – weil auch das im dualistischen Denken einen Antagonisten braucht – das Unendliche (∞).

 

42. Multiple Welten aus der Einen beiden

Die Zahl, mit Mauthner ein Instrument, ein Adjektiv und in mancher Kultur ein Lehnwort, wird mit der Zeit zur Rechenmaschine verfeinert; im Hinterkopf dabei das Ziel, durch die Algebra der Logik eine Denkmaschine zu erfinden, wie es einmal die Phantasie Ernst Schröders (1841-1902) gewesen sein soll. Mauthner grenzt sich ab und stellt fest, eine solche Maschine könne nichts hervorbringen, was nicht vorher in sie hineingesteckt worden sei. Außerdem erkennt er: „Die Welt der Zahlen hat ihren eigenen Schlüssel, der zu den Rätseln der Sinnenwelt nicht passt.“ Lange vor Mauthner (und selbstredend auch danach) finden Zahlen als Erklärer des Universums ihre Befürworter und Gegner, welche sich ungeordnet, scheinbar wirr aneinanderreihen lassen, ohne dabei irgendeine Welt in ihren Grundfesten zu bewegen, zu stören oder gar zu zerstören. Zahlen beweisen, sagt Benzenberg (der Johann Friedrich). Zahlen beweisen gar nichts, sagt Büchmann (der Georg). Konventionen sind und bleiben streitbar. Punkt- geht vor Strichrechnung. Unter Umständen können Klammern in manchen Ausdrücken zu Gunsten der Lesbarkeit weggelassen werden. (Operatorassoziativität!) Besonders berühmt für numerologischen Kitt, welcher angeblich die (jüdische) Welt im Innersten zusammenhalten soll, ist das hebräische Alphabet. Die Thora ist demnach nur eine Reihe von Zahlen (Inzwischen lieben sogar einige Christen den Bibelcode!) und Friedrich Weinreb erklärt uns ihre (doppelte/wahre) Bedeutung unter anderem in seinem Werk „Buchstaben des Lebens“. Dort ist das erste Zeichen des Alphabets, das Aleph, nicht nur das Haupt des Stieres, sondern auch die 1, welche hier in besonderem Verhältnis zum Ich (ani) steht. Beide schreibt man mit den selben Buchstaben: Ajin = Aleph (1)-Jod (10)-Nun (50) und ani = Aleph-Nun-Jod. Da das Wort Nichts (Nichtvorhandensein, kein, ohne, -los) mit den selben Konsonanten geschrieben wird, entsteht eine Verbindung zwischen Ich, (1) und Nichts (0). Alle haben den Zahlenwert 61, sind quantitativ gleichwertig. Derartige Spielereien sind ein großes, durch alle Zeiten reichendes Mysterium und wenn ich ein jüngeres Beispiel nennen soll, fällt mir sogleich der US-Thriller „Pi“ aus dem Jahr 1998 ein. Im Film sucht Herr Cohen – dem Namen nach in uralter Tradition von Tempeldienern (Kohanim) stehend und somit in diversen Schreibweisen ähnlich beliebig wie bei uns Meier, Müller und Kaiser – per Computer nach einer Möglichkeit Börsenkurse vorherzusagen. Er geht dabei von vier Annahmen aus:

1. Mathematik ist die Sprache der Natur.

2. Alles kann durch Zahlen ausgedrückt und verstanden werden.

3. Die Darstellung von Zahlensystemen ergibt Muster.

4. Folglich gibt es überall in der Natur Muster.

Cohen trifft im Film auf einen orthodoxen Juden, der ihn mithilfe des folgenden Beispiels ins schon erwähnte Zahlenmysterium der Kabbala einführt: Das Wort „Vater“ hat den Zahlenwert 3, das für „Mutter“ 41 und das Wort „Kind“ (Was für ein Zufall!): 44. Als Cohen durch einen Computerabsturz auf eine 216-stellige Zahl stößt, wähnt er sich auf der richtigen Spur, schenkt dabei jedoch seinem kritischen Mentor und Go-Partner, Professor Robeson, leider kein Gehör, der ihn auf Wahrnehmungsverzerrungen, vor allem auf die selektive Wahrnehmung und den allgegenwärtigen Bestätigungsfehler hinweist: „Du kannst jede Zahl finden, wo du willst, wenn du sie suchst, überall, doch dann bist du kein Wissenschaftler mehr, nur ein Numerologe, ein Okkultist.“ Da hören wir nicht nur Peter Wason oder Karl Popper klopfen. Wir erkennen einmal mehr: Zahlen sind überall und sie bedeuten nichts; ihr Wert in der „Sinnenwelt“ ist Null. So spuckt Cohens Rechner mit neuem Chip zunächst auch nur Nullen aus. Erst im Verlauf des Films erkennt er: „Die Wahrheit liegt zwischen den Nummern.“ Im weitesten Sinn sogar jenseits der Nummer? (Außerhalb also, wenn die Zahl selbst ein Diesseits, ein Innerhalb, eine autonome Welt repräsentiert.) Die Null gleicht heute (wie schon bei den Maya) einer Vagina, woraus Esoteriker seit dem Mittelalter herleiten, jede Zahl entstehe aus der Einheit, und diese wiederum aus der Null. Die Null als universelle Gebärmutter aller Zahlen und vorneweg der 1 (0→1→∞).

Manch Asperger-Syndrom-Kind nummeriert Eltern und Verwandte, wobei zuweilen lediglich ungerade Zahlen verwendet werden; Mutti also die 1 ist, Papa die 3 und Opa die 5. Nach den Berechnungen von Deep Thought ist „die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“ exakt 42. (Wirkt das Ergebnis nicht nur deshalb so lustig, weil es nicht Null ist?) Spengler meint in „Der Untergang des Abendlandes“, es gehöre eine brahmanische Seele dazu, Zahlen „als selbstverständlich, als ideale Abzeichen einer an sich vollkommenen Weltform zu empfinden; uns sind sie so unverständlich wie das brahmanische Nirwana, das Jenseits von Leben und Tod, Schlafen und Wachsein, Leiden, Mitleiden und Leidlosigkeit dennoch etwas wirkliches ist, für das uns selbst die sprachlichen Mittel fehlen. Nur aus diesem Seelentum konnte die großartige Konzeption des Nichts als einer echten Zahl, der Null, hervorgehen, und zwar als indische Null, für die wesenhaft und wesenlos gleich äußerliche Bezeichnungen sind.“

Im Westen gestaltet sich das Nummernspiel umso absurder, je höher die Zahlen werden. Jüngst beeindruckt und beeinflusst es Massen, verbreitet Angst: Millionen-Boni, Milliarden-Rettungsschirme und Billionen-Staatsschulden sind für den Einzelnen (verhältnismäßig) unvorstellbar und wirken somit einschüchternd, da mit der Unvorstellbarkeit des Wertes auch die Vorstellung von relevanten Zahlen verschwimmt. Sagen wir, jemand verdient hundert Millionen Euro pro Jahr. Diese Summe ist in Wirklichkeit lediglich Ausdruck von Macht, nicht von tatsächlicher Kaufkraft oder von Bedürfnissen. Für den einfachen Mann kostet das Bier in der Kneipe weiterhin zwo Euro achtzig, egal ob unser reicher Jemand zehn oder hundert Millionen Euro erhält, für die er allerdings ab einem bestimmten Punkt keinen realen Gegenwert mehr tauschen kann. Entweder hat er alles oder könnte alles haben, was für Geld zu kaufen ist. Die ganze Kohle steht dann ohne echten, materiellen Bezugswert da. Große und kleine Zahlen sind letztendlich beziehungslos.

Eigentlich sollten sich Zahlen von selbst neutralisieren, da wir sie nicht verstehen, doch sie faszinieren uns, in unserer Sehnsucht nach einer übergeordneten Macht, nach einer göttlichen Betriebsanleitung. Diese Sehnsucht ist vermutlich Teil unserer zutiefst inkonsequenten „Sinnenwelt“, die wir in unserem Menschsein niemals überwinden. Sie hält uns in Aufregung, in permanenter Angst und Unruhe, wobei sie ohne tatsächliche Konsequenz bleibt; in Wirkung und Endergebnis: Null. (Und Null kann in willkürlichen, sprachlichen Summen auch mal 61 sein oder 13 oder 42 oder 1. Das ist an sich kein Problem. Einfach mit Null multiplizieren, dann stimmt wieder alles.)

 

1. Fernöstliche Meditation im Binärcode (Omformatik)

Werfen wir einen Blick gen Osten, zum Hinduismus und Buddhismus. Letzterer hat mit dem Ich und der 1 wenig zu schaffen, denn das Ich ist für den Buddhisten lediglich eine Illusion, eine Täuschung, ausgelöst durch Unwissenheit und Anhaftung, beziehungsweise Begierde. Wirklich ist dem Buddhisten allein der Geist, der zwar leer (0) doch eben auch klar und von unbegrenztem Gewahrsein (∞) ist. Hier werden das Ich (1) und einfach alles (∞) als gleichwertiger Teil von Nichts (0) betrachtet, ohne dass das Denken in einen düsteren Nihilismus abdriftet. Zählen wird damit nicht einmal im Ansatz notwendig, da der Geist (1=∞=0) ja eine in sich geschlossene, zugleich offene, unteilbare wie unzählbare Einheit von völliger Klarheit darstellt. Der Geist braucht keine Mathematik! Das Du (2) behandelt Kalu Rinpoche daher wie folgt: „Unsere gewöhnliche Definition von Individualität sagt, daß das »Etwas«, das »Ich« ist, verschieden ist von dem »Etwas«, das »Du« ist, und folglich bin ich von dir verschieden, denn ich bin nicht du. Wir denken: »Wenn ich du wäre, wäre ich nicht ich; aber weil ich ich bin und nicht du, besitze ich eine Individualität.« Diese Art von Bezugsrahmen ist für den Ausdruck erleuchteter Energie völlig unnötig.“

Nicht überall in der östlichen Philosophie tritt das Individuum auf diese Art in eine Gleichung mit dem Nichts und der unendlichen Allheit ein. In der Hindu-Ecke vertritt beispielsweise Sri Nisargadatta Maharaj als Vertreter des Vedanta („Ende des Wissens“) die Ansicht, um zu wissen, was man sei, genüge es völlig zu wissen, was man nicht sei. Eine Sammlung von Gesprächen mit diesem Guru ist unter dem Titel „I Am That“ in Umlauf. Als einzig notwenige Erkenntnis steht dort eben „Ich bin“. Das Ich existiert. Es wird nicht geboren und stirbt nicht. Solche Dinge stoßen nur dem Körper zu. Aber das Ich ist nicht der Körper. Das Ich ist. Zeit und Raum sind dabei nur Kategorien und als solche nicht relevant. Dualität an sich ist OK, solange sie keine Konflikte erzeugt. Das Ich und das Absolute sind eins, nämlich nichts (und das ist nichts schlechtes).

 

0. Conclusio

Die Gleichung 0=1=∞ bringt uns zurück auf alles, auf das gesamte Universum, auf die Hummel und eben auch auf den Computer, der dem Menschen als Rechenmaschine dient, indem er elektrischen Strom ganz schnell ein (1) und aus (0) schaltet. Wenn ein und aus nun aber gleichwertig sind, dann macht es keinen Unterschied, ob Strom fließt oder nicht, weshalb die Zusesche Maschinerie streng genommen gar nicht funktionieren kann, der Apparat müsste stille stehen, das binäre System hier wirkungslos bleiben. Das ist jedoch, wie wir beobachten, im Alltag nicht der Fall. Rechner rechnen, von dieser Tatsache ebenso unbeeindruckt, wie Hummeln fliegen.

(Photo: Michael Helming)

Spätestens jetzt tritt uns Kant als knallharter Befürworter von Kategorien entgegen und er verbietet uns, sie zu vermischen. Es wäre wohl ein Kategorienfehler, die 1 in jedem Fall mit Stromfluss gleichzusetzen, denn ich bin zwar, doch ich bin nicht Stromfluss. Hummeln sollen meinetwegen weiter fliegen, auch ohne Kenntnisse der Aerodynamik, die ist nämlich in ihrem Fall nebensächlich, da Hummeln ihren Auftrieb durch Flügelschläge erzeugen, die das auffällige Missverhältnis zwischen Flügelfläche und Körpervolumen ausgleichen. Ich für meinen Teil bleibe bei 0=1=∞, streiche die Unendlichkeit, kürze sie quasi gegen meine denkende Endlichkeit (Welch Erweiterung!) und erhalte wieder 0=1. Mögen meine Leser eigenen Berechnungen folgen oder mit mir eine Liste möglicher Definitionen der Hummel erstellen. Los geht es: Eine Hummel ist

1. ein sozial lebendes Insekt aus der Überfamilie der Bienen und Grabwespen,

2. ein Familienname,

3. ein tschechisches Mehrzweckflugzeug,

4. ein Saiteninstrument,

5. ein Funkstörpanzer,

6. ein dänischer Sportschuh,

7. eine großdeutsche Selbstfahrlafette,

8. ein Stück Schlesien,

9. ein Moped aus der Adenauer-Ära,

10. eine Oper,

11. weder ein Hahn noch eine Ente, dafür jedoch

12. etwas, was ruhelose Zeitgenossen umgangssprachlich im Hintern haben sollen…

Womit einmal mehr hergeleitet sei, dass Kategorien, Konventionen und vermeintlich punktgenaue Berechnungen nicht immer sinnvoll sind; einen direkten Einfluss auf Glücksempfinden und Seelenheil haben sie eher nicht. Sein Glück rechnet ein jeder für sich selbst aus und wer will, darf meinetwegen Formelsammlung und Taschenrechner benutzen.


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