Wertstoff oder Unrat?

Will der Mensch beurteilen, ob ein Ding gut oder schlecht, nützlich oder wertlos sei, muss er sich Gedanken machen, was mit der betreffenden Sache überhaupt los und machbar ist. Bei den eigenen Haaren fällt ihm das offenbar nicht immer leicht.

von Michael Helming

 

„Jeremia, mein Sohn, gehe und zupfe an deinem Barte, das ist das Beste von allem!“

– Talmud, Traktat Maaseroth. Rabbi Sera schmäht die Haggadisten, III, 4

Rückblick auf den Übergang zwischen Symbolismus und Jugendstil: In einer völlig neuen Zeit – nach zwei Weltkriegen – betrachtet der Journalist und Politikwissenschaftler Adolf Sternberger 1952 im Züricher Kunstgewerbe-Museum das um 1893 entstandene Gemälde „Die drei Bräute“ von Jan Toorop. Offenbar fesseln und befremden ihn die darauf üppig keimenden Frisuren, denn in der Zeitschrift „Die Gegenwart“ notiert er: „Halb dekorative Tapete mit endloser Wiederholung gleicher oder ähnlicher Elemente, halb symbolistische Darstellung legendärer Geheimnisse – dünne Frauengestalten, eine, zwei, drei, sechs, zwölfe nebeneinander, nur Fläche und Linie, von gleicher matter Farbe, kein Licht, kein Schatten, langarmig, den spinnenhaften Schattenspielfiguren Indonesiens nicht unähnlich (und gewiß als Vorbildern auch verpflichtet), alle eingeschlungen, rings umzogen, umsträhnt von gar nicht endenden Haarwellen, kein Himmel und keine Erde, Haare oben und Haare unten, Haare quellen sogar aus Glocken hervor, ziehen sich am Rand entlang, greifen über auf den Rahmen der Bilder, eingeritzt in parallelen Riefen, bald steif, bald wellig, nichtachtend der Struktur des horizontalen und vertikalen, geometrischen Formates.“

Ist das zu viel Haar? Wo es wie Klänge aus Glocken in alle Richtungen fließt, betrachtet man es dort nicht als phantastisch überflüssig? Irgendwie auch ungepflegt? (Nichts gegen lange Haare, aber…) So kurz nach dem Krieg war diese lang verfemte Kunstrichtung noch immer unpopulär; Ornament ohne Botschaft machte viele Betrachter ratlos. Wo lag da der Sinn? Das konnte man prima fragen, denn Sinnfragen lassen sich immer stellen. Sogar ans Haupthaar. Wird das traditionell nicht mit Attraktivität und Sinnlichkeit assoziiert – sowie mit Schutz? Fragt eine auffällige Behaarung – etwa in Träumen – nicht stets: Was verberge ich? Was trage ich zur Schau? Wo Strähnen, Borsten und Zotteln die Haut überwuchern, da sieht man ihr nicht auf den ersten Blick an, ob sie eine ehrliche ist. Langes Haar verkörpert bei Frauen Weiblichkeit, ihre Anziehungskraft auf Männer; letztere finden sich von einer Unzahl wirrer Hornfäden umgarnt, umfangen und eingewickelt. Beim Mann bedeutet eine dicke Matte primär Potenz, Freiheit, Kraft, Unabhängigkeit und auch Sinnlichkeit. Manche Haartracht betont allerdings den Intellekt, besonders im Gesicht, denn Bartwuchs wird oft auch mit Weisheit verbunden und sich an den Bart zu fassen oder gar am Bart zu zupfen ist eine alte Metapher fürs Denken und Nachdenken, derweil jemand, der sich die Haare rauft, mit seinem Latein am Ende ist. Sehr starke Körperbehaarung, vielleicht sogar auf Brust oder Rücken, gilt als triebhaft und animalisch. Arthur Schopenhauer verweist in „Parerga und Paralipomena“ auf diesen Zusammenhang, wenn er vom „langen Bart“ schreibt: „[…] dieses Geschlechtsabzeichen mitten im Gesicht, welches besagt, daß man die Maskulinität, die man mit den Thieren gemein hat, der Humanität vorzieht, indem man vor Allem ein Mann, mas, und erst nächstdem ein Mensch seyn will. Das Abscheeren der Bärte in allen hochgebildeten Zeitaltern und Ländern, ist aus dem richtigen Gefühl des Gegentheils entstanden, vermöge dessen man vor Allem ein Mensch, gewissermaaßen ein Mensch in abstracto, mit Hintansetzung des thierischen Geschlechtsunterschiedes, seyn möchte. Hingegen hat die Bartlänge stets mit der Barbarei, an die schon ihr Name erinnert, gleichen Schritt gehalten.“ In einer längeren Fußnote fügt er u.a. hinzu: „Der Bart vergrößert den thierischen Theil des Gesichts und hebt ihn hervor: dadurch giebt er ihm das so auffallend brutale Ansehn: man betrachte nur so einen Bartmenschen, im Profil, während er ißt! […] Die Rasur ist das Symbol (Feldzeichen, Abzeichen) der höheren Civilisation. Die Polizei ist überdies schon deshalb befugt, die Bärte zu verbieten, weil sie halbe Masken sind, unter denen es schwer ist, seinen Mann wieder zu erkennen: daher sie jeden Unfug begünstigen.“

Haare sind mancherorts ein Ärgernis, anderswo eine Zier. Man kann sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, man kann sie kürzen oder restlos abschneiden, doch ignorieren kann man sie nicht, weil sie rastlos nachwachsen, wuchern, sogar noch im Tode. Ein fadendürrer Wiedergänger. Haupthaar sprießt pro Tag um 0,3 bis 0,5 mm, in einem Jahr ungefähr 15 cm. Der gesunde, verständige Mensch kriegt es weder komplett vom noch aus dem Kopf. Früher oder später befasst man sich mit Haar. Doch was soll man damit anfangen?

 

Keine Kultur ohne Rasur

Zwischen Entstehung und Betrachtung des Toorop-Bildes, nämlich am Beginn des Ersten Weltkriegs, spielt eine prähaarpokalyptische Episode in Józef Wittlins Anti-Kriegsroman „Das Salz der Erde“, wo es heißt: „Ein Glück, daß dieser Krieg sich weniger um die Seelen als um die Körper kümmerte. Er bereitete sie für seine Bedürfnisse zu, er veränderte ihr Aussehen nach eigenem Belieben. Seit dem frühen Morgen klapperten die Scheren. Wer einen Bart hatte, mußte ihn auf dem Altar des Vaterlandes opfern. Dank der Erfindungsgabe des Sanitätsgefreiten Glück stand dieser Altar in einem Schuppen des Brauhauses. Nur den frömmsten Juden gestattete der Kaiser, ein kleines, spanisches Spitzbärtchen stehenzulassen. Aber die orthodoxen Löckchen mußten ohne Erbarmen – fort! […] Allmählich verschwand unter der Schere das düstere, geheimnisvolle Asien, es ging das pathetische Altertum unter, und auf den bleichen Gesichtern, zum erstenmal seit vielen Jahren nackt, tauchten – wie aus dem Boden trockengelegter Meere – die ersten Umrisse Europas auf. Aber nicht nur den Juden wurde das Haar geschnitten. Den Christen auch. Und es fiel von den Köpfen, den Bärten, den Gesichtern auf die Schultern, die Rücken, auf den Fußboden, in den Staub, es vermischte sich das dunkle Haar und das helle, das glatte und krause, das katholische und jüdische Haar, obwohl es geschrieben, deutlich geschrieben ward, daß ohne den Willen Gottes niemandem ein Haar vom Haupte fallen werde.“

(Photo: Michael Helming)

Der Protagonist Peter Niewiadomski, dessen Name Niemand oder auch Nirgendwoher bedeuten könnte, stammt aus Galizien und aus einfachen Verhältnissen. Er kennt Mangel und Hunger und so fragt er sich, wozu sein Kaiser all die Haare braucht. Der Souverän wird schließlich nicht grundlos derart fleißig ernten lassen. Der Gedanke, dass die Wolle weggeworfen wird, da es hier nicht um Rohstoffgewinnung, sondern um Uniformierung geht, ist ihm zu abwegig. Tatsächlich verwandelt der einheitliche Kurzhaarschnitt Männer in Soldaten, in Nummern, zugleich in Tötungsmaschinen und Kanonenfutter. Die Rasur macht den Rasierten selbst zum Rohstoff; erst opfert er sein Haar, dann sein Blut, das Leben. Obendrein zeigt uns die  Barbierszene Frisuren als Kennzeichen von Kultur und Kulturen; sie verweisen auf unsere Werte, die Herkunft und soziale Stellung oder den Glauben. Last but not least umschreibt Wittlin hier Moderne als Evolution im Zeitraffer. Wachsende Entropie vom Krauskopf bis zum kahlen Schädel.

Schon früh neigen einige Männer zu massivem Haarausfall, was aus oben angeschnittenen Gründen an ihrem Ego kratzt. Sie suchen erfolglos nach Gegenmitteln, lassen sich sogar Haare implantieren, die bald wieder ausfallen. Um von ihrem Leiden abzulenken, stellen sie sich gern als Gewinner der Evolution hin, behaupten im Einklang mit Schopenhauer und wortwörtlich mit Francisco Ibáñez: „Wer keine Haare hat, hat die Entwicklung vom Affen zum Menschen abgeschlossen.“ Fraglos hat die Natur sich etwas dabei gedacht, als sie uns einst die Körperbehaarung zum Schutz vor Parasiten, Verletzungen, Hitze und Kälte spendierte. Doch da wir Menschen so pragmatisch wie eitel sind, fingen wir eines Tages an, uns aus Pflanzen (Feigenblättern?) und aus dem Fell von Tieren, deren Fleisch wir verspeisten, Klamotten zu machen. (Warum etwas wegwerfen, wenn man noch was lustiges oder sogar praktisches daraus basteln kann!?) Unsere Eigenhaardecke bildete sich mangels Nutzung zurück. Lediglich Rudimente sind davon geblieben, was zuweilen eher lästig als nützlich scheint, weil man diesen Rest nicht nur am übermäßigen Wuchs hindern, sondern ihn zudem waschen und pflegen muss, damit er gesund, frei von Untermietern und ein Schaustück bleibt. Der Aufwand kostet Zeit und Geld. Beides war nicht immer überall ausreichend vorhanden. Aufwändig gemachtes Haar blieb lange öffentlichkeitswirksamer Luxus und sich die Haare „machen lassen“ zugleich Teil der intimen Toilette; nur wenige Prominente integrierten diese Prozedur ebenso öffentlich in ihren Alltag. Man präsentierte den Mitmenschen das Ergebnis, kein Making-of. Anders der stilvolle Johann Wolfgang von Goethe, bei Besuchen stets perfekt rasiert, geschnitten, gekämmt und gelegt. Die damals frisch zugezogene Johanna Schopenhauer schrieb am 28. November 1806 dem noch nicht philosophierenden Sohnemann nach Hamburg, ihr inzwischen regelmäßiger Gast habe „die Haare recht geschmackvoll frisiert und gepudert, wie es seinem Alter geziemt“. Des Dichters letzter Sekretär, Johann Christian Schuchardt (1799–1870), erinnerte sich: „Goethe diktierte so sicher, fließend, wie es mancher nur aus einem gedruckten Buche zu tun im Stande sein würde. Wäre das ruhig und ohne äußere Störung und Unterbrechung geschehen, so würde ich kaum aufmerksam geworden sein. Dazwischen aber kam der Barbier, der Friseur – Goethe ließ sich alle zwei Tage das Haar brennen, täglich frisieren – der Bibliotheksdiener, öfter der frühere Sekretär, Rat Kräuter, der Kanzlist, welche alle die Erlaubnis hatten, unangemeldet einzutreten. Wie beim Anklopfen das kräftige ‚Herein!‘ ertönte, beendigte ich den letzten Satz und wartete, bis der Anwesende sich wieder entfernte. Da wiederholte ich so viel, als mir für den Zusammenhang nötig schien, und das Diktieren ging bis zur nächsten Störung fort, als wäre nichts vorgefallen…“

 

Rohstoff oder Abfall?

Es ist nicht überliefert, dass Goethe sein abgeschnittenes Haar gesammelt oder gar einer Zweitverwertung zugeführt hätte. Zwar ging die Mode, geliebten Menschen eine Locke von sich zu schenken, doch die schnitt man sich bei Bedarf selbst ab, derweil ein Friseur den alltäglichen, groben Auftrag erledigte und nach getaner Arbeit das dabei angefallene Material aufkehrte und entsorgte. Goethe verschwendete vermutlich nie einen Gedanken an die Frage, ob Haare wohl Abfall oder Rohstoff sind. Er hatte andere Sorgen, Einfälle und Projekte. Als er im Februar 1790 sein Schauspiel „Torquato Tasso“ erstmals gedruckt in Händen hielt, saß nicht weit entfernt, auf Schloss Dux in Böhmen, Giacomo Casanova (1725–1798) und feilte an seinen Memoiren. Darin findet sich eine denkwürdige Episode, die um das Wesen von Haaren kreist. Zugetragen hat sie sich im Herbst 1743. Der spätere Cavalier, noch grün hinter den Ohren, ein Milchbart, war mit anderen Herrschaften, einem Advokaten und dessen bildschöner Gattin, per Kutsche unterwegs. Mit harten Rädern auf schlechten Straßen verlief die Fahrt entsprechend holprig. Die Reisegesellschaft wurde ordentlich durchgerüttelt, wobei zweifellos auch die Frisuren litten. Der Anlass für das sich bald entspinnende Gespräch hatte sich jedoch bereits am frühen Morgen in der Herberge ergeben, wie Casanova schreibt: „Nach dem Frühstück kam ein Barbier, und der Advokat ließ sich rasieren, worauf der muntere Bartkratzer auch mir seine Dienste anbot. Ich aber sagte ihm, ich brauchte ihn nicht, worauf er sich mit der Bemerkung entfernte, daß der Bart eine Unreinlichkeit sei.“

Die Haare ein Exkrement? Vielleicht sind sie sogar eine Krankheit? Schließlich war der Barbier nicht allein zum Rasieren da. Er ließ auch zur Ader und zog faule Zähne. Schon in der Antike existiert diese Verbindung, etwa bei Platon, der im gleichnamigen Dialog dem Parmenides Haare und Exkremente entsprechend in den Mund legt. Es ist da die Rede von: „Haar, Kot, Schmutz und was sonst recht verachtet und geringfügig ist“. Die Erkundigung, ob Haare nun Rohstoff oder Abfall sein sollen, mag zunächst an den Haaren herbeigezogen wirken, doch letztlich steckt in ihr der Kerngedanke von Recycling und Nachhaltigkeit: „Warum eigentlich etwas wegwerfen, was noch zu gebrauchen ist?“

Unseren Urgroßeltern steckte diese Idee noch im Blut. Wer den Mangel kennt, fragt notgedrungen, was man (noch) wozu gebrauchen kann. Da gibt es keine oder kaum Abfälle, weil alles brauchbar ist. Grundsätzlich sind Exkremente ebenfalls verwertbar, zum Beispiel als Brennstoff oder Dünger. Menschliche Haare sind eine Form von Gülle oder Jauche, denn sie enthalten viel Stickstoff und eignen sich – wie mir mein pfiffiger Gärtner verrät – sehr klein geschnitten, besonders im Winter, als geruchsfreies Düngemittel für Zimmerpflanzen. […]


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