Referenzpunkte im Chaos

Gilles Deleuze und Felix Guattari haben zu fast jedem Thema etwas zu sagen, nicht nur das Tier-Werden bringen sie dem Menschen näher (siehe Lichtwolf Nr. 39), auch zu Zahlen gibt es reichhaltige Überlegungen. Für die Wissenschaft sind Zahlen nicht nur als Form aufgrund ihrer mathematischen Grundlage wichtig, denn durch ihre Inhalte ermöglichen sie Wissenschaft überhaupt erst.

von IPuP-Press

Man nehme zwei Zahlen der Wissenschaft, sagen wir die Lichtgeschwindigkeit und den absoluten Nullpunkt: „der absolute Nullpunkt der Temperaturen ist 273,15 Grad; die Lichtgeschwindigkeit 299796 km/sek, wo nämlich die Längen gegen Null schrumpfen und die Uhren stillstehen.“

Diese Zahlen sind nun nicht Ergebnisse der Wissenschaft, sondern ihre Bedingungen. Um dies zu verstehen, gilt es ein paar Voraussetzungen zu klären. Die Welt ist für Deleuze und Guattari grundsätzlich erst einmal Chaos, aus diesem Chaos gewinnen Menschen auf verschiedenste Arten Sinn. Um dieses Chaos zu umschreiben (wobei es sich einer Beschreibbarkeit entzieht, da dasjenige vor der Erkenntnis ist, der sinnlichen Gewissheit bei Hegel nicht unähnlich, falls das jemandem hilft), benutzen sie den Begriff der „unendlichen Geschwindigkeit, mit der sich jede in ihm abzeichnende Form sogleich wieder auflöst“. So wie sich in einer Flüssigkeit beim Herunterkühlen Kristalle bilden und später wieder auflösen, ohne weitere Folgen. Diesem Chaos entnimmt die Wissenschaft (so wie die Philosophie oder die Kunst) Bestimmungen ganz besonderer Art, nämlich Referenzen (die Philosophie hat hingegen Begriffe, die Kunst Affekte und Perzepte). Die Referenzen werden durch das Aussperren des Chaos gewonnen. Deleuze und Guattari nennen dies den Verzicht auf die unendliche Geschwindigkeit.

Guattari & Deleuze (Illu: Georg Frost)

Die Referenz ist „ein Verhältnis zwischen Werten der Variablen oder eigentlich das Verhältnis der Variable als Abszisse der Geschwindigkeiten mit der Grenze“. Dies ist erläuterungsbedürftig.

Den für die Gewinnung der Referenz nötigen Verzicht auf die unendliche Geschwindigkeit beschreiben Deleuze und Guattari als Verzögerung. Wenn die Unendlichkeit, das Chaos als Geschwindigkeit gedacht wird, ist es schlüssig, in diesem Fall von Verzögerung zu sprechen. Diese Verzögerung ist nichts anderes als die Einführung von Grenzwerten. Deleuze und Guattari sprechen hier auch von der „Suspensionsschwelle des Unendlichen“, die eben jene Grenze ist. Diese besitzt die Funktion eines Siebes und ist gegen das Chaos gerichtet; sie ist eine durchlässige Grenze. Man denke an den absoluten Nullpunkt und die unendliche Geschwindigkeit. Es handelt sich um Werte, die als Grenze fungieren: Sie können nicht überschritten werden. Diese Grenze wird oft als Folge von naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten begriffen, dies weisen Deleuze und Guattari zurück. „Und doch ist es nicht das begrenze Ding, das dem Unendlichen eine Grenze aufzwingt, es ist vielmehr die Grenze, die ein begrenztes Ding ermöglicht.“ Die Grenzen sind die Bedingungen von Dingen, nicht deren Folge. Deleuze und Guattari verweisen an dieser Stelle auf die Mengenlehre. In der von Georg Cantor erdachten Mengenlehre treten durch die Möglichkeit der unendlichen Fortführung der Mengenbildung Widersprüche auf. Die Lösung bestand in der Einführung eines Grenzwertes, „ohne dieses Verzögerungsprinzip gäbe es eine Menge aller Mengen“. Die Mengenlehre ist die Grundlage der (Natur-)Wissenschaft, denn ohne Mengenlehre sind keine Variablen oder daraus folgende Sachverhalte zu bilden. Auch bei den oben genannten Grenzen aus dem Bereich der Physik dienen die Grenzwerte bzw. -konstanten als Grenze gegen das Chaos. Es ist hier nicht möglich, die daraus hervorgehenden Theorien darzustellen; wichtig ist an dieser Stelle, dass diese Werte axiomatische Grenzen sind, sie sind also definitorisch festgelegt. Die Nichtüberschreitbarkeit von Lichtgeschwindigkeit ist die Voraussetzung (und Grenze) der Relativitätstheorie. Hier wird durch die Nichterreichbarkeit von Lichtgeschwindigkeit (für alles, was Masse besitzt) die Äquivalenz von Masse und Energie ermöglicht (die berühmte Formel E=mc²). Es ist nicht diese Äquivalenz, die die Lichtgeschwindigkeit als Grenze begründet. Auch wissenschaftshistorisch betrachtet ist diese Wendung von Deleuze und Guattari korrekt, so erdachte Einstein die Relativitätstheorie aufgrund der Annahme von Lichtgeschwindigkeit als höchster zu erreichender Geschwindigkeit.

Ebenso verhält es sich mit dem absoluten Nullpunkt. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass der absolute Nullpunkt nicht erreichbar ist. Dieser käme einer völligen Abwesenheit von Temperatur gleich. Da jedoch ein klarer Zusammenhang zwischen Temperatur und Bewegung der Atome besteht (je niedriger die Temperatur, umso geringer ist die Bewegung der Teilchen), würde beim Erreichen des absoluten Nullpunktes keine Bewegung der Atome innerhalb eines Körpers mehr stattfinden. Ein solcher absoluter Stillstand ist zumindest innerhalb des physikalischen Systems der Thermodynamik undenkbar. Beide erwähnte Grenzen sorgen dafür, dass das Chaos ausgeschlossen wird. Außerdem gelten beide als unumgängliche Grundlagen, die die dazugehörigen Wissenschaftsfelder erst ermöglichen (Relativitätstheorie und Thermodynamik). „Derartige Grenzen gelten nicht aufgrund ihres empirischen Werts, den sie nur im Koordinatensystem annehmen, sie wirken zunächst als Bedingung ursprünglicher Verzögerung, die sich im Verhältnis zum Unendlichen über jeden Maßstab (…) hinweg erstreckt.“

Mit der Einführung solcher Grenzkonstanten geschieht nach Deleuze und Guattari noch etwas Zweites: Es bildet sich, ausgehend von der Grenzkonstante als Ursprung des Koordinatensystems „eine als Abszisse bestimmte Variable“. Während die Variable in der Mathematik als Platzhalter für ein Element einer bestimmten Menge steht, bezeichnet die Abszisse die horizontale Achse des Cartesianischen Koordinatensystems. Auf dieser wird für gewöhnlich der erste Wert einer Koordinate notiert (meist mit x bezeichnet, daher auch der häufig gebrauchte Name x-Achse). Außerdem ist die Abszisse bedeutsam für Experimente. Es handelt sich nämlich in diesem Fall um jene Achse, die die unabhängige oder exogene Variable abbildet. Eine unabhängige Variable ist jene, die von dem Versuchsdurchführenden frei veränderbar ist. Für die oben genannten Beispiele aus der Physik bedeutet dies, dass die Einführung der Grenze des absoluten Nullpunktes zugleich die Abszisse der Temperatur ergibt. Für die Lichtgeschwindigkeit ist es eine Abszisse der Geschwindigkeit (dargestellt mit c).

Die Referenz ist nun laut Deleuze Guattari das Verhältnis einer solchen Variablen zur Grenze. In der Wissenschaft gibt es den Ausdruck Referenzwert oder Bezugswert. Dieser dient als Wert, an dem sich alle anderen Messungen orientieren können, eben als Abweichung von diesem Wert. Die Grenze bzw. Konstante wäre nun ein solcher Referenzwert und das Verhältnis dieses Wertes zu (einem beliebigen Punkt auf) der Abszisse wäre damit die Referenz. Die gewonnene Variable ist ein Funktiv, das Grundelement einer Funktion.

Bei Deleuze und Guattari ist ein Koordinatensystem (sie sprechen auch von einem Referenzsystem) eine Zusammenstellung von Abszisse und Ordinate, der vertikalen Achse. Diese bildet ein zweites Funktiv. Bei ihnen ist die Ordinate jedoch nicht die Achse, welche die abhängige Variable abbildet. In ihrem Begriff von Wissenschaft gibt es keine abhängige Variable auf der Ordinate. Diese sind „distinkte Bestimmungen, die sich in einer diskursiven Formation mit anderen, extensiv gefassten Bestimmungen (Variablen) paaren müssen.“ Es muss also erst eine Verbindung geschaffen werden zwischen verschiedenen Größen, zum Beispiel ein Bezug zwischen der Temperatur und der Energie. Der Grenzwert ist der „Ursprung eines Koordinatensystems, das aus mindestens zwei unabhängigen Variablen besteht; diese aber gehen ein Verhältnis ein, von dem eine dritte Variable abhängt und zwar als Sachverhalt oder als im System gebildete Materie (derartige Sachverhalte können mathematisch, physikalisch, biologisch etc. sein).“ Die Grenze, die immer eine Zahl ist, ist in dem Sinn Ursprung, weil sie die Variablen (Funktive) und die daraus hervorgehenden Funktionen erst ermöglicht.


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