Was ein Wort ist

Zum Auftakt einer neuen Essayreihe zur Wortphilosophie folgen wir zunächst der logisch-mathematischen Sichtweise, die die Wissenschaft (auch und gerade Geisteswissenschaft!) prägt. Dies so sehr, dass heutzutage wieder klargestellt werden muss: Worte sind keine Zahlen.

von Stefan Schulze Beiering

 

Zu den ältesten Texten des Deutschen gehören die Merseburger Zaubersprüche. Sie bieten zwei Beschwörungsformeln im vorchristlichen Milieu: Auf einem Schlachtfeld sind geheimnisvolle Frauen damit beschäftigt, Gefangene von ihren Fesseln zu befreien. Sie tun das durch einen lösenden Spruch. In einem Wald renkt Wotan einem Fohlen den Huf ein, nachdem andere Götter sich vergeblich bemüht haben. Wotan findet die richtigen Worte.

Vielleicht ist es dieser positive Einsatz der Zauberformeln, der die Mönche im 10. Jahrhundert dazu bewegte, die beiden Texte aufzuschreiben, sodass sie sich erhalten haben. Jedenfalls kann man die Kräfte, die hier dem Wort zugeschrieben werden, auch als programmatische Aussage nehmen.

Man glaubte früher an die magische Kraft von Worten. Dieser Glaube war noch nicht in Harry-Potter-Bücher abgewandert, sondern konkret. Worte waren potentiell etwas ganz anderes, als sie heute in der Regel verstanden werden. Worte konnten buchstäblich etwas tun.

Heute denkt man Worte als etwas Sekundäres. In der Rhetorik sind sie Mittel zum Zweck, in der Wissenschaft ein begrifflicher Ausdruck für die Sache, um die es geht. Menschen sind wortmächtig, wenn sie gut reden oder schreiben können, aber die Macht des Wortes gibt es nur noch im Sprichwort.

Dem weltanschaulichen Gewinner der damaligen Epoche, dem Christentum, ging es noch mehr um die Tatkraft des Wortes. Es rückt das Wort sogar ins Zentrum des Weltgeschehens. Gott erschafft die Welt, indem er spricht. „Es werde Licht!“, heißt es in der Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis. Das Johannesevangelium nimmt diese Wortschöpfung wieder auf: „Alles ist durch das Wort geworden.“

Aus der heute verbreiteten Sicht hat das Wort keine wirkende Essenz, erst Recht keine weltgestaltende. Es verhält sich, wie wir glauben, passiv zur Wirklichkeit. Wenigstens ist es deutlich von der Wirklichkeit zu unterscheiden, die wir selbst meinen zu sein oder die wir als unsere Umgebung wahrnehmen.

Das ist der erste Punkt, den ich behaupten möchte. Das Wort hat diese aktive Kraft, auch heute, wie es sie immer hatte. Unser geläufiges Verständnis von der abbildenden oder nur vermittelnden Funktion des Wortes ist ein Missverständnis.

Einfach kann man das zuerst an der Aufforderungen wie: „Hol mir den Schuh!“ klarmachen. Wird dem Sprechakt Folge geleistet, so verändert sich die Welt, ein bisschen. Auch die meisten politischen Reden wollen etwas verändern. Manche tun es sogar.

Wenn wir die Begriffe selbst in den Blick nehmen, z. B. den „Schuh“, so scheint er einfach den Gegenstand zu benennen. Kulturgeschichtlich ist es umgekehrt: Der Gegenstand verwirklicht die Vorstellung. Der Schuh wurde vom Menschen erfunden, ist seine Idee. Auch der moderne Schuh muss zuerst als Vorstellung gedacht und konzipiert werden, bevor er produziert werden kann. Diese Idee und geistige Konzeption des Schuhs nenne ich wörtlich. Somit hätte das Wort „Schuh“ den Gegenstand Schuh geschaffen.

Das gilt für sämtliche Werke des Menschen, auch seine Gestaltung der Natur. Wer ursprüngliche Natur sehen will, muss in die Hochalpen steigen. Die Ideen und wörtlichen Konzepte des Menschen haben unsere Umgebung geschaffen oder nachhaltig verändert. Sie prägen unser heutiges Dasein.

Natürlich kann man über diese Interpretation streiten und die sprachlichen Begriffe wie gehabt nur als Übersetzung der menschlichen Gedanken und Motive sehen, als Ausdrucksmittel. Ich bin von der andern Seite überzeugt: Alle Ideen oder geistigen Gestalten sind wörtlicher Natur. Was wir Kultur nennen und was wir um uns erleben, ist weitgehend vom Wort gemacht.

Für diese Sicht der Dinge kann man geistesgeschichtliche Zeugen finden. Eine ganze Tradition tut sich da auf. Platon in der Antike, die Realisten im mittelalterlichen Universalienstreit, die Humanisten im Übergang zur Neuzeit, weiter die deutsche Klassik mit Jakobi und Herder, der Idealismus mit Hegel und Fichte, der späte Wittgenstein, selbst Heidegger, also alle Leute, die die sprachliche und geistige Priorität gegenüber der dinglich-stofflichen Seite in der Welt betonen.

Die Religionen des Christentums, des Judentums und des Islams sind Schriftreligionen, also wortbezogen. Auch in den östlichen Religionen, im Hinduismus und im Buddhismus, wird die aktive Kraft der Worte erkannt. In der Meditation geht es u. a. um Gedankenkontrolle. Das Selbst soll von falschen Einflüssen gereinigt werden.

Das Wort und seine Wirkung werden hier letztlich negativ gesehen, aber sein Einfluss klar erkannt. Menschen erfahren sich innerhalb ihrer Vorstellungen und Erwartungen. Diese sind aber wörtlich verfasst.

Diese Potenz des Wortes wird heute leider oft übersehen und sie spielt besonders in der weltanschaulichen Sicht der Dinge keine große Rolle. Das betrifft nicht nur die große Philosophie, sondern auch die persönliche Einschätzung der meisten gebildeten Menschen. Worte gelten oft als belanglos und überflüssig, sie werden als nur rational oder nur effektheischend abgetan, haben überhaupt einen negativen Ruf.

Die Gruppe der Wortschaffenden, die Schriftsteller, Lyriker, Slampoeten kommt gegen den schlechten Ruf nicht an. Auch bleibt ihr eigenes Bewusstsein gespalten in eine Wortwelt, die sie pflegen, und eine skeptische Haltung zum Wort, die sie als ein Credo der höheren Bildung verinnerlicht haben.

Oft transportieren auch gerade die literarisch Kreativen die Wortskepsis. Typisch z. B. Paul Celan in dem Gedicht „Weggebeizt“ aus dem Zyklus „Atemwende“:

„Weggebeizt vom

Strahlenwind deiner Sprache

das bunte Gerede des An

erlebten – das hundert-

züngige Mein-

gedicht, das Genicht (…)“

Die übliche Sprache wird hier als Gerede scharf kritisiert. Demgegenüber steht der „Strahlenwind“, im weiteren Verlauf des gleichen Gedichts der „Atemkristall“. Gesucht wird eine aufgeladene, verdichtete Sprache auf Kosten der gewöhnlichen Ausdrucksweise.

Dieser Kritik an einer flachen, verwaschenen, auch verlogenen Umgangssprache können sich viele Wortliebhaber anschließen. Dabei reden wir alle ständig in normaler Sprache, ungefilterte Worte sind unser Leben. Das betrifft den wörtlichen Alltag, aber auch Glaubensfragen und weltanschauliche Diskussionen.

Gegen das wörtliche Leben des Menschen wandte sich explizit die Wissenschaft. Sie wollte die Religion überwinden, indem sie anstelle des Glaubens das Denken probierte. Sie wandte sich gegen die Rhetorik, weil es dieser nicht um die Wahrheit gehe. Und sie wollte die alltägliche Erfahrung übersteigen, um eine übergeordnete Theorie zu bilden. Ihre Praxis wurde der wissenschaftliche Versuch.

Sie erklärte die Wortwelt des Menschen für irregulär. Die Wissenschaft fand und findet menschliche Sichtweisen unklar und unsicher. Welt, Wort und Mensch sind für sie keine verlässliche Gegebenheiten, sondern aufzuklärende Objekte. Verlässlichkeit fand die Wissenschaft, die zunächst ein philosophisches Vorhaben war, in der Mathematik. Das Vorbild wurde die Beschlusskraft der mathematischen Operationen. Daran sollte sich das Denken ausrichten.

Descartes und Kant sind wesentliche Namen auf dem Weg, die Wortwelt des Menschen zu einer wissenschaftlichen zu machen, wie wir sie heute in der Regel verstehen. Für beide ist das Vorbild der Mathematik grundlegend (siehe dazu mein Essay in LW32, S. 38ff).

Zahlen bieten geistige Sicherheit. Sie sind eindeutig. Das hat mystische Qualität, weil es sich im rein Geistigen abspielt. Zahlen sind Abstraktionen, formale Quantitäten. Sie sind komplett unsinnlich, dafür umso geiler für den Verstand.

Man kann sich daran festhalten, sie bleiben überall gleich, sind keiner zeitlichen Veränderung oder Beeinflussung unterworfen. Ihre Regeln, einmal erkannt und aufgestellt, sind überprüfbar. Da kann man die Probe machen: 2 x 2 = 4; 4 : 2 = 2. Hier haben wir es mit ehernen Gesetzmäßigkeiten zu tun, die die Philosophen nun für die Wortwelt suchten.

Ein schönes Beispiel für den Erfolg der Vorgabe, die Wortwelt mathematisch zu verstehen, zeigt die Definition des Begriffs „Sprache“ in Wikipedia. Wikipedia, als Lexikon der allgemeinen höheren Bildung, verrät, wie die Gebildeten heute ticken, also was der intellektuelle Mainstream ist. Die Begriffe, die dort „Sprache“ erklären sollen, sind: „Menge, Elemente, Systeme, Zeichensysteme, Einheiten und Regeln“. Das ist Mathematik. Das bleibt auch Mathematik, wenn man es als „Kommunikation versteht oder als „Mittel der Verständigung“.

Die mathematisch eindeutig ausgerichtete Wissenschaft scheitert aber schon an der Definition des Wortes selbst. Hier findet man nur zu einer reduktionistischen Erklärung: zusammenhängende Abfolge von Buchstaben. Das ist so viel wie nichts. De Saussure führte darum für das Wort den Begriff des Zeichens ein. Das ist etwas mehr, aber immer noch viel weniger als ein Wort. Der Ansatz ist falsch, weil er eine Festlegung sucht. Worte sind nicht festgelegt.

Worte sind nicht festlegbar, weil sie nicht wie Zahlen eindeutig, sondern mehrdeutig bleiben. Ich verwende gern das Beispiel Kaffee. „Kaffee“ kann das koffeinhaltige Getränk meinen, das wir gerne heiß zu uns nehmen. „Kalter Kaffee“ bedeutet dagegen nicht nur das erkaltete Getränk, sondern auch so viel wie „überholt, nicht mehr aktuell“. Der Satz: „Das ist kalter Kaffee“, verwendet den Ausdruck mit Wahrscheinlichkeit in der übertragene Bedeutung von „überholt“. Sicher können wir aber erst sein, wenn wir den Textzusammenhang oder die Situation kennen, in der der Satz gesprochen wird.

Ein weiteres Beispiel ist das Wort „Untiefe“. Es birgt in sich das glatte Gegenteil. Einerseits meint es eine gewaltige Tiefe, zum Beispiel im Meer. Andererseits meint es eine besonders flache Stelle im Wasser, die für die Schifffahrt gefährlich ist.

Wörter sind also nicht eindeutig. Sie bieten praktisch immer mehr Möglichkeiten des Verstehens oder Anwendens. Erst im Satz oder im größeren Zusammenhang werden sie eindeutig verwendet. Das bedeutet aber nicht, dass nun die Aussage das Satzes oder Textes eindeutig wäre. Sie bleibt wenigstens so mehrdeutig wie das einzelne Wort, von dem wir ausgegangen sind. Sätze und Texte bieten Interpretationsspielraum. Sie können genauso gegensätzlich verstanden werden wie das Wort „Untiefe“.

(Photo: Michael Helming)

Einfache Gebrauchsanweisungen sind oft nicht so einfach wie sie gemeint sind. Vorschriften können eng und weit ausgelegt werden. Gesetze kommen so unterschiedlich zur Anwendung, dass Gerichte gegensätzliche Urteile fällen. Gutachten werden politisch so oder anders ausgelegt.

Erst recht mehrdeutig sind Texte, die nicht explizit einem Sachbereich zugeordnet sind, sondern unterhalten, bilden oder orientieren wollen, wie: journalistische und belletristische Texte, Literatur im weiten Sinne, spirituelle und religiöse Schriften.

Die Hermeneutik in der Geisteswissenschaft findet das Gleiche und hält unterschiedliche Auslegungen von Texten für möglich und richtig. Zugleich bemüht sie sich aber wie alle Wissenschaft um eine eindeutige Sprache, lehnt also die Vorgabe der Mehrdeutigkeit für sich selbst ab.

Die Geisteswissenschaft versucht eindeutig zu formulieren, indem Begriffe definiert werden und Texte bestimmte Vorgaben einhalten. Ich halte diesen Versuch für vergeblich und habe darüber einige Essays geschrieben (LW31-34). Es ist diese Vergeblichkeit, die dazu führte, dass die Geisteswissenschaft bis heute isoliert dasteht und reine Theorie geblieben ist. Unsere Kultur funktioniert nicht so.

Worte bleiben mehrdeutig. Das bedeutet auch: Worte sind vielsagend, sublim. Ihre Bedeutung ist facettenreich, schillernd, in gewisser Weise geheimnisvoll und tief. Dies ist der zweite Punkt, den ich markieren möchte, auch wenn er selbstverständlich scheint.

Zu Worten gehört immer eine Interpretation oder zur Anwendung von Worten immer eine Form von Sinnstiftung. Das Verständnis kommt ja nicht von allein, sondern bietet sich auf unterschiedliche Weise an. Das heißt, jeder muss sich seinen eigenen Weg suchen, im Wortverständnis. Oder aber er nimmt ein vorgegebenes Wortverständnis vom außen an.

Das gilt praktisch und philosophisch, profan und religiös. Jede Gesellschaft hat ihr eigenes Wortverständnis, natürlich auch in unterschiedlichen Sprachen. Jede Kultur fußt auf einem bestimmten Wortverständnis. Dieses wandelt sich mit der Zeit.

Der Vorteil der Mehrdeutigkeit von Worten, Texten und dem ganzen wörtlich verstandenen Leben ist die Freiheit. Wir können unsere Wortwelt selbst gestalten, können vorgefertigte Meinungen über Bord werfen, neu anfangen zu denken, handeln, machen, wie wir es verstehen wollen. Wir können ehrlich aktiv sein, ehrlich unterschiedlich, nach bestem Wissen und Gewissen leben und leben lassen.

Mit Zahlen oder festen Begriffen wäre das ganz anders. Folgte die Klugheit wiederholbaren nachvollziehbaren Schließmustern (beinah hätte ich geschrieben: Schließmuskeln), so wäre alles langweilig, gleich, uniform, es herrschte Überzeugungszwang, da man die Weltanschauung herbeirechnen könnte. Individualität würde sich am Grad der Dummheit ausrichten.

Ein wenig oder ein wenig zu viel wird diese Sichtweise von der Wissenschaft und ihrem Fachwissen nahegelegt. Hier herrscht der Spezialist vor dem normalen Menschen. Dem normalen Menschen fehlt die fachliche Einsicht, aber ihm kann vom wissenschaftlich Gebildeten geholfen werden. Ní Gudix hat im letzten Heft eine schöne Polemik darüber geschrieben („Der Mensch, die Fußnote der Wissenschaft“, LW39, S. 20ff).

Das Wort ist also erstens aktiv, tatkräftig, folgewirksam und gestaltend, zweitens ist es mehrdeutig und vielsagend, es ruft zur Freiheit und Selbstverantwortung auf, zur eigenen Weltsicht, und kann ohne beides nicht sinnvoll werden.

Drittens ist das Wort wahr.

Diese Aussage widerspricht dem ebenfalls wissenschaftlichen Muster, wonach ein Wort gar nicht wahr sein kann, da es nur die Wahrheit beschreibe. Das Beste, was man über ein Wort sagen könne, sei, dass es wahrscheinlich sei.

Diese philosophische Ansicht wird durch die Geisteswissenschaft scheinbar belegt. Die Geisteswissenschaft nutzt fachliche Begriffe als bessere Beschreibungseinheiten, aber eigentlich überzeugt die Naturwissenschaft die Gebildeten in der Ansicht, dass einfache Worte nicht wahr seien und auch nicht der Sache angemessen.

In Physik und Chemie beschreiben Formeln die Beschaffenheit der Welt. Sie können technisch umgesetzt werden, und Technik prägt die moderne Gesellschaft. In der Medizin führen die Fachbegriffe zu einer Sprache, die der Patient nicht versteht. Aber der statistische Heilungserfolg gibt der Wissenschaft Recht.

Der Gegenentwurf der Esoterik füllt zwar einige Regale im Buchladen und eine Reihe von Seiten im Netz, aber im Bildungskanon oder im Feuilleton spielt er keine Rolle. Das ist dem redlich denkenden Menschen zu abgedreht: durch bloße Gedankenkraft Krebs heilen. Oder Chakras strahlen zu lassen.

Ein weiteres Argument gegen die Wahrheit von Worten liefert der täglich verlogene oder zu Zwecken eingesetzte Gebrauch von Worten. Bestes Beispiel ist die Werbung, die die schlechten Antriebe der Rhetorik übernommen hat. Sie lügt aus Profession. McDonald’s ist einfach scheiße, müsste es wahrheitsgemäß heißen. Trotzdem wirken die verlogenen Sprüche der Werbung und sie bringen die Leute dazu einzukaufen.

Wenn Worte so etwas mit Menschen machen können, dann liegt der Schluss nahe, dass sie generell manipulativ wirken, ungewollt Gefühle hervorrufen, einen für bestimmte Zwecke missbrauchen und eine Scheinwelt vorgaukeln. Die Worte scheinen selbst nur Schein zu sein.

Mit ihnen einher gehe ein Schwall von Emotionen, kurzzeitigen Wünschen und Trieben. Sie verwirklichten demnach nur menschliche Instinkte. Sie gehörten aufgeklärt, widersetzen sich aber aus der Unlauterkeit ihres Materials. Sie gehörten gesteuert, aber ihre Verwendung schließt die Subversion ein. Schon wird man selbst gesteuert.

Wenn ich hier behaupte, das Wort sei wahr, so heißt das nicht, dass es nicht gelogen werden könne. Oft ist das Wort auch nicht wahr, weil man sich irrt. Aber die meisten gesprochenen Worte sind wahr. Lügen ist viel zu anstrengend. Irren kann man sich nur in schwierigen Dingen. Die meisten Dinge sind einfach und liegen auf der Hand, sind alltäglich im menschlichen Umgang. Diese Wahrheiten sind selbstverständlich. Das Wort ist also selbstverständlich wahr.

Das Wort spricht aus sich: „Blatt, Hand, Hut, gut, schlecht, Mist, viel, über, drüber, denn, aber, geben, nehmen, riechen, fühlen, voll, Volk, Demokratie, Gewissen“ – alles wahr oder wahr-bar, wenn es im richtigen Zusammenhang mit Sinn versehen wird, wenn seine Mehrdeutigkeit durch den Menschen zu einer Deutung gelangt.

Deutung bedeutet Interpretation und Neuschöpfung. Sprache-verstehen ist darum eher kreativ und individuell geprägt als wiederholend und allgemeingültig. Jedes Wort ist anders. Gleiche Wörter haben nie dieselbe Bedeutung.

Zahlen sind allgemeingültig. Ihre Verknüpfungsregeln sind logischer Natur. Worte sind persönlich zu verstehen, ihre Verknüpfungsregeln sind nicht logisch vorgegeben. Es gibt keine allgemeine Grammatik.

Die kreative Form der Verknüpfung ist die Bildhaftigkeit. Diese schert sich nicht um Logik. Wir trinken ein Glas – aber Glas kann man nicht trinken. Wir schauen fern – aber nur nah auf den Bildschirm. Wir geben Gas – aber treten mit dem Fuß auf ein Pedal.

Gegen die unlogische Bildhaftigkeit der Worte wendet sich wieder die Wissenschaft. Hier ist sachliches Schreiben gefragt. Heinrich Lausberg, der die „rhetorischen Elemente der literarischen Rhetorik“ klassifiziert, ordnet die bildhaften Anteile der Sprache der sogenannten „uneigentlichen Rede“ zu. Ihn irritiert nicht, dass die Beschreibung der „uneigentlichen Rede“ den Großteil seines Buches ausmacht.

Bildhaftigkeit gehört zum Wesen von Sprache. Was wir verstehen, ist der übertragene Sinn. Was wir sagen, ist ein Bild, ein Sinneseindruck, ein Ausschnitt, der für das Gemeinte steht.

Das gilt nicht nur für Sprichworte wie „Morgenstund’ hat Gold im Mund“. Das gilt für jeden Satz, den wir sprechen, denn jedes Wort ist so gemacht. Es selbst stellt eine gedankliche Übertragung dar. Ein sinnlich erfahrener Ausschnitt wird mit Bedeutung aufgeladen.

Am einfachsten lässt sich das zeigen, wenn gehörte Klänge zur Wortbildung dienen, wie bei „Kuckuck, Wauwau, Piepmatz, quatschen, knacken, schmatzen“. Die sogenannte Onomatopoese gehört zu meinen Lieblingswörtern, weil es selbst so einen tollen Klang und Rhythmus hat.

Lautmalerei gibt es aber nicht nur in der direkten Nachahmung von gehörten Lauten, sondern sie gibt es auch als lautliche Entsprechung zu einem gemeinten Effekt: „Zickzack, Welle, schunkeln, sanft“. Oft unterstreicht der Wortklang auch, was wir meinen, weswegen wir Wörter so treffend finden: „Klotz, Bock, wunderbar; kaputt, heiß, schwül“.

Laute werden also sinnvoll bezogen und dafür sinnvoll ausgesucht oder verstanden. Bei der Wortbildung kommt es aber nicht auf die lautliche Passform an, also darauf, ob ein Laut wirklich nachahmt oder darstellt, was gemeint ist. Es kommt darauf an, dass überhaupt ein sinnlicher Ausschnitt mit einer erweiterten Bedeutung aufgeladen wird. Der Laut verbindet sich mit dem sinnlichen Ausschnitt, die erweiterte Bedeutung schöpft das Wort.

Das Wort „Harfe“, so steht es im Herkunftswörterbuch des Dudens, hat eine indogermanische Wurzel (s-kerb-f), die so viel wie „drehen, krümmen, schrumpfen“ bezeichnet. Das Musikinstrument wird als entweder nach den gekrümmten Fingern beim Spielen oder nach der gebogenen Form des gemeinten Musikinstruments bezeichnet. Die Harfe könnte heute auch Keule heißen, weil „Keule“ ebenfalls einen indogermanische Wurzel hat (geu-), die „biegen, krümmen“ bedeutet. Folgende Wörter haben sich aus ihr im Deutschen entwickelt: „Kate, kullern, Kugel, Kogge“.

Alle Worte gehen auf unmittelbare Sinnes- und Gefühlseindrücke zurück. „Frei“ bedeutet ursprünglich „geliebt, teuer, schutzbefohlen“, wie im verwandten Wort „Freund“ noch zu hören ist. Die „Nixe“ bekam ihre Benennung vom indogermanischen Wort für „waschen“ und „baden“. Das griechische Fremdwort „Tragödie“ heißt eigentlich „Bocksgesang“, was vielleicht mit dem gehörnten Gott Dionysos zu tun hat, zu dessen Ehren ein Chor auftrat, woraus sich die Form der Tragödie entwickelte.

So könnte man mit willkürlichen Beispielen der Sprachgeschichte fortfahren oder aktuelle Sprachbildungen betrachten, wie unkaputtbar, Rechner, Fressattacke. Man könnte das weite Feld der sexuellen Bezüge aufrollen, die dazu da sind, die Sprache schmackhafter zu machen. Man könnte die chinesische Schrift betrachten, die nach dem gleichen Prinzip der Sinnlichkeit gebildet ist. Noch das abstrakteste Wort hat einen sinnlichen Grund.

Die ganze Sprache beruht auf verblassten Metaphern. Wir verstehen im Wortgebrauch lediglich den gemeinten Sinn. In der Regel unbewusst ist der sinnliche Gehalt. Worte sind Metaphern. Ihre Idee ist immer die einer Übertragung. Weil sie übertragbar sind, können ihnen unterschiedliche Bedeutungen gegeben werden. Weil sie nicht am Laut festhängen, kann ihre Form abgewandelt oder dem Sinn nach spezifiziert werden. So wachsen die Varianten. Sie vergrößert sich der Wortschatz. So bilden sich unterschiedliche Sprachen.

Lebendiges Sprechen ist immer farbig und kontrastreich. Sprachliche Bilder, neue sinnliche Übertragungen faszinieren uns. Sie öffnen geistige Räume. Darum ist eine wesentliche Qualität von Lyrik die originelle Bildlichkeit der Sprache.

Bildhaft können auch Romane sein, um philosophische oder politische Ansichten zu illustrieren. Thomas Morus’ Utopia ist eine der ersten Illustrationen dieser Art. Typisch sind auch die Gegenutopien George Orwells und Aldous Huxleys. Wir kommen hier in der Nähe der Allegorie.

Allegorien sind u. a. die biblischen Gleichnisse in den Evangelien. Bildhaft sind auch die Mythen des Hinduismus oder der griechischen Antike. Sie entziehen sich der einfachen Umsetzung, sind mehrdimensional zu verstehen und gelten als Texte mit besonderem Wahrheitsgehalt. Die religiösen Gleichnisse und Mythen fassen also gleich drei der hier vorgestellten Merkmale des Wortes zusammen: Sie sind mehrdeutig, bildhaft und wahr. Wenn sie so auf den Menschen wirken und der Mensch aus ihrem Verständnis heraus handelt, wenn eine Gesellschaft sich formt und eine eigene Kultur entsteht, dann tun diese Worte auch etwas, dann gestalten Worte die Welt.


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