Zählbarkeit statt Subjektivität und Existenzerfahrung

Oder: die illusorische Kompensationsleistung des naturalistischen Mainstream-Materialismus. Menschen fürchten sich im Dunkeln des Seins, darum erfinden sie Röntgenlaser und halten das Vermessen der Brandspuren für seine Erhellung. Eine chaotische Weiterspinnung von „Der Mensch, die Fußnote der Wissenschaft“

von Matthias Laux

Die Religion der objektiven Wissenschaften versklavt den Menschen und macht ihn zum „unmündigen, bewegungsunfähigen und blöden Wrack“. In diesem Grundton, dem hier in keinster Weise widersprochen werden soll, färbte Ní Gudix in Lichtwolf Nr. 39 ihre Klage über den auf der modernen nördlichen Welthalbkugel vorherrschenden naturalistischen Materialismus. Bei diesem Fazit drängt sich in der Konsequenz die Frage auf, wie und warum sich die Menschheit freiwillig diesen tyrannischen Alleinherrscher erwählt. In dieser Form erinnert das an Rousseaus Diskurse, die (fast) an dem sich freiwillig unterwerfenden homme civil verzweifeln.

In diesen beiden Texten, die von seinen Zeitgenossen und bis heute öfter missverstanden als ernsthaft gelesen wurden, richtet er passenderweise eine wirkungsvolle Kritik gegen die Ratio-Egointeressen-Identität von Hobbes und der Aufklärung – sowie gegen den mechanischen Determinismus des ersten und den naiven Telos der zweiten. Schließlich ist die akute Wissenschaftsgläubigkeit und damit einhergehende Diskreditierung der Religion auch zu großen Teilen aufklärerischen Relikten geschuldet. Im Folgenden soll aber weniger die historisch umfassende Perspektive, die damit zwangsläufig doch konkret begrenzt bleibt, sondern eine Konzentration auf die akut individuelle und kollektiv subjektive Verwirrung angestrengt werden. Also was bringt mich, dich, uns dazu, die Naturwissenschaften zur goldenen Kuh zu erheben und ihr in feierlichen Festzügen zu folgen? Warum können Buchverlage und Zeitungen vom „Gottesteilchen“ reden, sogenannte Dokusender in banalen Filmchen unverrückbare Wahrheiten herausposaunen und Milliarden Euro für Unterwasserteleskope ausgegeben werden, die Neutrino-Teilchen finden sollen, die nicht existent sind, während der Hunger in der Welt das umso mehr ist? Und wir senken ehrfürchtig die Häupter, anstatt erst lachend vom Stuhl zu fallen und uns dann bitter entschieden dagegen zu erheben.

An der unumstößlichen Evidenz der Befunde, wie die Befindenden es gerne selbst behaupten, kann es kaum liegen. Der Naturalismus hat es schwer mit seinen eigenen Waffen umzugehen, wenn man fragt, ob die Affäre von Relativitätstheorie und Quantenmechanik nun endlich mal glücklich ausgeht, ob das Missverständnis des Urknalls als Seinsgrundlage (erstmal physikalisch) gelöst ist oder inwieweit es nicht empirisch haarsträubend ist, Regel- und Gesetzmäßigkeiten, die man in einem Furzanteil des Universums beobachtet (den man gerade überblicken kann), für den ganzen großen Rest zu proklamieren. Endgültig K.o. muss der naturalistische Materialismus aber gehen, wenn man sein vordringlichstes Anliegen der Objektivation als illusorisch entlarvt. So kann man zuerst mit Kant zeigen, dass in der Wahrnehmungsbewertung des Subjekts der Grund dafür liegt, dass durch das Teleskop kreisende Gestirne und nicht fliegende rosa Elefanten erblickt werden. Dann wäre wichtig mit Fichte zu ermahnen, dass man sich zwischen Idealismus und Objektivismus zu entscheiden hat und dann in dieser Entscheidung nicht inkonsistent werden darf. Gerade wenn es zur Erklärung des Bewusstseins kommt, springen selbst die hartgesottensten Materialisten über diese scharfe Grenze hinweg und zurück, wie es ihnen beliebt und erschaffen letztlich nur durch diesen Trick immer die benötigte Beobachterarroganz. Der entscheidende Schlag kann dann mit dem Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs des Determinismus getan werden. So kann mit Epikur erwidert werden: „Wer sagt, dass alles aufgrund von Notwendigkeit geschehe, kann nichts gegen den einwenden, der sagt, dass nicht alles aufgrund von Notwendigkeit geschieht. Denn er muss zugeben, dass auch seine Behauptung aufgrund von Notwendigkeit geschieht.“ Das heißt aber auch, wenn man in einer determinierten Welt trotzig die eigene Freiheit annehmen kann, kann so auch in einer freien Welt ein deterministisches Weltbild lediglich vermutet werden. Die Entscheidung kann so doch erst getroffen werden, wenn eine Freiheit so schon zumindest vorgedacht wird. Damit direkt verbunden ist die Kritik an der Voreingenommenheit naturalistischer Forscher. Denn ist ihre Arbeit wie alles determiniert, können sie in ihrem Ergebnis, durch diese Vorannahme beeinflusst, nur auf Determinismus treffen, was sie natürlich in einer irgendwie gearteten Freiheit tun, die vor dem Startpunkt ihrer Beobachtung liegt.

Das ist jetzt nur eine kleine beispielhafte Schlagabfolge, die gar nicht weiter zur Debatte stehen soll. Der Streit zwischen den Plakativpositionen Objektivismus und Idealismus kann hier nicht entschieden werden, dennoch sind an dieser Stelle Spekulationen über den Grund für die Mainstream-Favorisierung des Ersteren höchst interessant. Zu diesem Grund findet man eventuell in den Bruchstellen, die gerade doch ein Unbehagen in dogmatischer Sicherheit offenbaren. Die Finanzkrise, die globale Erwärmung, das Auseinanderdriften von Arm und Reich und der arrogant naive Blick auf die sogenannte Dritte Welt bringen deutliche Verunsicherungen hervor. Das kollektive Lechzen nach BILD-Artikeln und N24-Dokus, die uns die Realität erklären, und nach scheinheiligen Red-Nose-Days (die in der Konsequenz mehr zur Ausbeutung als zur Entwicklungszusammenarbeit beitragen), die unser ungemütliches Gewissen ruhigstellen, zeigt die Sucht nach einem Heilmittel, aber damit eben auch automatisch das irgendwie geartete Bewusstsein eines Fehlers im Welterklärungsmodell auf.

(Illu: Georg Frost, nach einer Idee des Verfassers.)

Das Abwenden von Subjektivität, Mensch und Menschlichkeit kann also nicht in der Wirksamkeit der objektiven Perspektive liegen, sondern in der Problematik der Alternative, wenn das Subjekt sich selbst schlussendlich nie zu fassen bekommt. Hinter den kollektiven Verunsicherungen könnte also das intuitiv im Menschen verankerte Bewusstsein stecken, dass Facetten der menschlichen Existenz nicht in Erkenntnis aufzulösen sind. Das könnte sicherlich als die Idee der nachidealistischen Denker gelten. Die Frage, was dieses obskure Uneinsehbare ist, wurde dabei unterschiedlich beantwortet. Schopenhauer proklamierte den Willen, Feuerbach die leibliche und Marx die gesellschaftliche Realität und Nietzsche und Kierkegaard das Leben. An ihren Konsens anknüpfend soll klar sein, dass diese Unbegründbarkeit schließlich zum Fundament jeder Begründung gemacht werden muss. Genau diese Notwendigkeit versucht der Mainstream-Materialismus zu vermeiden, kann ihn aber wie gesehen nicht vermeiden, denn die Verunsicherung scheint sich bis auf die materialistische Deutung der Welt auszudehnen und sie in massiven Zweifel zu ziehen.

Das könnte heißen, in seiner Freiheit vollzieht sich der Mensch unbewusst aus einer subjektivistischen Perspektive. Deren erschreckender Abgrund aber lässt ihn kompensatorisch auf eine objektive Welt- und Lebensdeutung umschwenken. Damit hätten wir zur zentralen These dieses Artikels gefunden, der etwa mit einer klassischen Haben-Sein-Unterscheidung weiter ausgeführt werden könnte. So könnte man mit der Frankfurter Schule gegen die instrumentelle Vernunft und die Zerstörung des Frommschen Seins polemisieren, mit Jaspers das uneigentliche Sein verurteilen oder gleich zu Marcel Gabriel vordringen, der den haptischen Akt des Definierens und Fixierens in die Opposition zum erfüllenden und selbsterkennenden Sein stellt. Dieses jetzt innerhalb kürzester Zeit dreimal erwähnte Sein umgibt sich aber, außer dass es die gelingende Alternative ist, mit einer obskuren Atmosphäre, die schwer zu lichten ist und in der Kompensation nie zu Bewusstsein kommt. Der kompensatorische Akt ist nicht-intentional. Die Selbsttäuschung ist so ausgeklügelt, dass die Unbestimmtheit, vor der zurückgeschreckt wird und die es zu verschleiern gilt, sowie die Verschleierung selbst nicht offenbar werden. Jetzt wären wir spätestens damit bei Kierkegaards Verzweiflungsanalyse und seinem Angstbegriff angekommen, der genau diese paradoxe Vereinigung von Unbewusstheit und Präsenz der Unbestimmtheit leistet. Es soll sich an den dänischen Philosophen angelehnt werden, da er die Freiheit des Subjekts durch die Angst integriert, aber im Gegensatz zu Sartres oder Heideggers Definition die kompensatorische Selbsttäuschungsleistung in den Vordergrund stellt. Allerdings soll in der Terminologie von Misstrauen die Rede sein, um sich der akuten Selbsttäuschung durch den Mainstream-Materialismus in diversen Lebensbereichen anzunähern. Schließlich ist es das Misstrauen, das in Bankenkrise und globaler Erwärmung offenbar wird. Es ist dieses Misstrauen, das kompensiert werden soll, wenn die Wissenschaft zur Hilfe eilt, um uns zu überzeugen, dass alles gut werden wird, da die Natur genauso beherrschbar sei wie unsere eigenen Artefakte, und dass Technik und Ratio immer zu einer Lösung finden werden, die den Fortschritt und die Erfüllung der Eigeninteressen sichert.

Na gut, wenn damit alle glücklich sind, könnten wir die Verschleierung durch die Naturwissenschaften als weiteres Entlastungstool der defizitären menschlichen Freiheit, heißt Missen des Instinkts, betrachten. Das Problem ist nur erstens, dass damit niemand glücklich ist, da das eigentliche Problem nicht angegangen wird. Das Misstrauen in die Unbestimmtheit wird nicht in ein Vertrauen verwandelt, vielmehr wird es auf eine kontinuierliche Basis gestellt, um damit wenigstens scheinbar die quälende Kontingenz und Unberechenbarkeit des Lebens zu beheben. Die Angst wird unabwendbar in die Existenz gemeißelt. Auf verschiedenen Ebenen fügen sich diverse Kompensationen zu diesem Zweck zusammen. Wissenschaft und Wirtschaft verkünden dem Menschen in einstimmiger Zweckehe, in was für einer Welt er lebt, wie er selbst funktioniert, was er will und was die Zukunft bringt, wenden sich so aber zunehmend von der menschlichen Existenz ab. Auf alle nun zwangsläufig immer wieder auftauchende Unsicherheiten reagiert der Materialismus in letzter Konsequenz mit der Legitimation eines abstrusen Fortschrittstelos (der damit ein mutierter Determinationsmechanismus ist) und mit einem religiösen Mantra des Wachstums, das versichert, dass es eben doch nichts zu befürchten gibt in einem System, das auf Konsumsucht und Ausbeutung der anderen Seite des Globus’ setzt. Die letzten Bedenken werden dann schließlich mit Red-Nose-Day oder Saufen für den Regenwald beseitigt.

Das zweite Problem ergibt sich daraus, dass die Verzweiflung im Angesicht der Unbestimmtheit zugleich Verderben und Emanzipation ist. Der Versuch, den Schrecken durch die Objektivation vergessen zu machen, geht damit einher, die Freiheit des Subjekts zu leugnen. Doch gerade die Fähigkeit zu dieser Definitionsleistung und Dogmatik weist den Menschen als freies Wesen gegenüber der Unbestimmtheit aus. Hier kann man auch zu Rousseau zurückkehren, dessen Naturmensch mit dem Heraustreten aus seiner Ursprünglichkeit zwar eine Verfallsspirale lostritt, damit aber gleichzeitig die Möglichkeit zu bewusster Glücksseligkeit wahrnehmen kann.

Drittens werden im Materialismus nicht nur die Freiheit und der Mensch selbst negiert, sondern auch jede intersubjektive Ebene. Das kommt natürlich dem Neoliberalismus zugute, der Vernunft, Erkenntnis und Lebensführung nur mit Egointeressen verbunden sehen will. In der Empfindung der obskuren Seite der eigenen Existenz eröffnet sich aber zumindest chancenhaft eine Dimension der Beziehung zu anderen Subjekten. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle zu dem Bild des Neugeborenen im Ní-Gudix-Artikel finden. Denn hier ist es die künstliche Objektivation seiner Lebenswirklichkeit, die es zu Tode ängstigt. Vielleicht steckt der Schlüssel zur Synthese von Freiheit, Unbestimmtheit und gelingender Lebensdeutung in dem Vertrauen auf die subjektive und intersubjektive Existenz, die dieses Neugeborene ganz natürlich an den Tag legt.

Das könnte beispielsweise mit Jaspers’ Kommunikation oder Bubers „Ich-Du“ weiter verfolgt werden. Zum Ende kommend soll sich jetzt allerdings zeigen, was unterm Strich bleibt: ein Plädoyer, ein doppeltes scheinbar paradoxes. Zum Ersten für die Vorsicht vor haptisch kompensatorischen Existenzdeutungsmodellen, wie sie nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Religionen, Trends und Traditionen generieren können. Zweitens formuliert sich dagegen ein Plädoyer für den Mut dazu, ohne diese falschen Sicherheiten zu leben.


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