Links der Woche, rechts der Welt 35/20

Unwissenschaft

Auch die Forschung ist nicht sicher vor kognitiven Verzerrungen ihrer Akteure. Die Psychologin Dorothy Bishop argumentiert in einem von Spektrum übernommenen Nature-Artikel dafür, das Misstrauen gegenüber der eigenen Wahrnehmung zum Werkzeugkasten der gar nicht mal so objektiven Statistik hinzuzufügen.

Frank Müller fahndet in wissenschaftlichen Zeitschriften nach fragwürdigen Fachartikeln und erklärt im Telepolis-Interview, wie leicht Wissenschaftsbetrug zu erkennen ist, wie schamlos einige dabei vorgehen und dass auch diese Problematik der Ökonomisierung von Forschung und Lehre zu verdanken ist. Dafür spricht auch ein weiterer Telepolis-Artikel über Wissenschaft im Dienste der Industrie. Denn tatsächlich freie Forschung, die sich an Wahrheit statt Profit orientiert, ist zum Ausnahmefall geworden.

 

Köche und Kellner

Anna Mayr hat den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen geschafft und ein Buch über Arbeitslosigkeit und Armut in Deutschland geschrieben, das der FAZ dann doch zu sehr selbstgerechte Anklage ist. Doch auch wer Arbeit hat, ist nicht immer glücklich darüber, und so werden sich zwangsläufig in der Berufswelt die Verhältnisse ändern – beschleunigt durch die Umstände der Pandemie. Alicia Lindhoff befragt für die FR einige Fachleute zum Thema „New Work“, das zwar individuell und digital daherkommt, im Grundsatz aber auf John Maynard Keynes zurückgeht. Eine launigen „Warentest Arbeitsplatz“ mit Preis-Leistungsempfehlung findet man bei Telepolis und über eine soziologische Studie zum Status des Kellners und seines Trinkgelds berichtet die FAZ.

 

Allein unter Deutschen

Das menschliche Bedürfnis nach Nähe und Geselligkeit muss seit Monaten vor dem Infektionsschutz zurücktreten. In der ZEIT spricht Jakob Simmank nur kurz von der Ambivalenz von Einsamkeit, um dann einschlägige Studien über die von ihr ausgehenden Gesundheitsrisiken zu wälzen.

Im ZEIT-Interview erklärt die Historikerin Hedwig Richter, wieso gerade nüchtern geführte Demokratien relativ gut durch die Corona-Krise kommen. Zur inzwischen nicht mehr ganz taufrischen Frage, wie die Demokratie mit dem weltweit grassierenden Rechtspopulismus umgehen soll, hat die FR einige Fachleute befragt: Gegenrede trainieren, politische Kommunikation verbessern, soziale Ungleichheit vermindern, Leute ernstnehmen, Abgrenzung nach rechts…

Alles zu hinterfragen ist von einer antiautoritären Tugend zur rhetorischen Waffe von Rechtspopulisten und Verschwörungsgläubigen geworden. Damit, warum das ein so idiotensicheres Mittel der Diskurssabotage ist, befasst sich Maja Beckers in der ZEIT, und wie so oft gibt es auch dazu längst eine gute South-Park-Folge.

Die FAZ derweil portraitiert Jens Teutrine, den neue Vorsitzenden der Jungen Liberalen, der so gar nicht auch nur einem einzigen Vorurteil über seine Partei und sein Amt entsprechen will. In seinem Buch „ Wie Deutschland gespalten wurde“ beschäftigt sich Ulrich Heyden mit der KPD-Politik in den ersten Nachkriegsjahren. Telepolis bringt einen langen Auszug daraus, in dem es um die Geschichte des westdeutschen Kommunismus von 1945 bis heute geht.

Wer bestimmt, was antisemitisch ist? Wolfgang Benz hat einen Band zu dieser schwierigen Frage herausgegeben und der Freitag konzentriert sich in seiner Rezension auf die Debatte um Deutungshoheit. In der Kunstsammlung Chemnitz zeigt das Peng!-Kollektiv gerade Antifa-Devotionalien. Der Freitag hat sich umgesehen und den über die raffinierte Ausstellung schwellenden Kamm der Anwohner gemessen. Über Angst unterhalten sich Bärbel Frischmann und Jürgen Wiebicke im Philosophischen Radio des WDR 5.

 

Prima Klima

Rupert Read ist Mitbegründer von Extinction Rebellion und hat als Tiefenökologe eine nicht unproblematische Nähe zum Ökofaschismus (siehe LW70). In einem im Freitag besprochenen Buch unterhält er sich mit Samuel Alexander über die Gründe und die wahrscheinliche Unabwendbarkeit des ökologischen Zusammenbruchs.

Bei Telepolis gibt es ein Interview mit dem Wiener Philosophen Kilian Jörg, der ein Manifest für eine autofreie Welt veröffentlicht hat und erklärt, welche psychologischen und ökologischen Folgen der Autofetischismus hat.

„Climate Grief“ oder „Solastalgia“ ist der Fachterminus für den Schmerz über die sichtbaren Folgen der Klimakatastrophe für eine vertraute Landschaft. Mit dieser untröstlichen Ohnmacht beschäftigt sich Johannes Schneider in der ZEIT und rät zur sisyphoshaften Konzentration auf die Gegenwart eines globalen Herbstes. Den kann man auch Anthropozän nennen und diesem Erdzeitalter hat Werner Mittelstaedt ein Buch gewidmet, das noch Hoffnung in einer „zweiten Aufklärung“ sieht und bei Spektrum vorgestellt wird.

Die Panspermie-These von der Entstehung des Lebens erhält neue Nahrung durch Experimente an der Außenwand der ISS, über die die SZ berichtet.

Hegel 250²

In der Tradition von Kurz & Klein wirft die SZ Schlaglichter auf den vollen Büchertisch zu Hegels 250. Geburtstag, Slavoj Žižeks Buch über den digitalen Hegel von heute wird gesondert verrissen. Von Patrick Eiden-Offe erscheint demnächst das (in der SZ-Klickstrecke fehlende) Buch „Hegels ‚Logik‘ lesen“. In der taz blickt er auf Zeiten zurück, als Hegels Philosophie noch für Unruhe sorgte – nicht zuletzt als schwierige Ahnherrin des Marxismus. Er rät dazu, sich zum 250. Geburtstag endlich wieder Hegels Texten selbst zuzuwenden. Man könnte z.B. mit Hegels Rechtsphilosophie loslegen, die in der SZ mitsamt ihrer dramatischen Entstehungsgeschichte um 1815 vorgestellt wird.

Wie viel Marx, Keynes und emanzipatorisches Denken in Hegel steckt, wird im Freitag herausgearbeitet. Denn mit Hegel und seiner Begeisterung von der Französischen Revolution beginnt laut Habermas und SZ das moderne Denken von Geist und Gesellschaft. Die FR beschäftigt sich kurz mit Hegels Gedanke vom Ende der Geschichte in und mit Preußen sowie – ganz dialektisch – mit der Macht des Faktischen und Hegels Aufruf zur Veränderung.

Es geht auch länger: Christian Thomas resümiert in der FR anhand der erschienenen Hegel-Biographien von Kaube und Vieweg das unstete Leben des Spätzünders, der die Vernünftigkeit der Wirklichkeit und die Freiheit trotz Weltgeist erdachte. Otfried Höffe stellt ebenfalls in der FR ohne viel Aufhebens (kleiner Joke), dafür in Auseinandersetzung mit Kants Vorarbeiten, die für ihn wichtigsten Gedanken in Hegels großen Werken vor. Ganz anders nimmt sich die FAZ des Geburtstagskindes an und begleitet Hegel auf seinem Besuch der Sixtinischen Madonna, bei dem er seine interessante Theorie vom Ende der Kunst vorbereitete. Die taz dagegen fragt sich, was Hegel und der vor zehn Jahren verstorbene Christoph Schlingensief über „Querdenker“, Cancel Culture und Trump zu sagen hätten.

(Photo: MabelAmber, pixabay.com, CC0)

Postkarte, Brieftaube und Philosophie

Liliane Weissberg hat das goldene Zeitalter der Postkarte erforscht und erklärt im FR-Interview u.a., wie dieses Medium auch zum Verfassen literarischer und philosophischer Texte benutzt wurde. Postkarten gibt es übrigens auch vom Lichtwolf. Ein weiteres fast verschwundenes Medium ist die Brieftaube (als Viehlosovieh in LW62 portraitiert) und die Schriftstellerin Katja Petrowskaja meditiert in der FAZ über ein Stück fliegende Feldpost aus dem deutsch-französischen Krieg.

Äpfel und Birnen: Apple verklagt ein Startup mit Birne als Logo, wie die taz meldet, die ja ihre eigenen Erfahrungen mit Markenschutz hat.

Die WELT gratuliert dem Cellisten Frank Wolff, der Heideggers Nachbar war und bei Adorno studierte, zum 75. Geburtstag. Georg Sans, Studiendekan der Hochschule für Philosophie erklärt in der SZ kurz, wozu das neue philosophische Orientierungsjahr taugt. Die FAZ unterhält sich ebenso kurz mit einer Masterstudentin darüber, wie ihr Philosophie-Studium unter Corona-Bedingungen weitergeht. Über das Verhältnis von Philosophie und Humor denkt Matthias Warkus in seiner darob besonders grillenhaften Spektrum-Kolumne nach.

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