Links der Woche, rechts der Welt 34/20

Buchwelten

Verlage und Buchhandlungen erhalten vom Bund 20 Mio. Euro zur Bewältigung der Pandemie-Folgen, wie die FAZ meldet, und ein Viertel der Kohle geht an die beiden Buchmessen.

In der „Wunderkammer der Deutschen Sprache“ findet man manche Schätze und bei Spektrum wird das gleichnamige Buch vorgestellt. Wer mit Platon zu tun hat, kennt und liebt Friedrich Schleiermacher; dessen Briefe aus den unruhigen Jahren von 1813 bis 1816 künden, wie die SZ schreibt, auch von seinen politischen Hoffnungen für ein Preußen nach Napoleon. In der Standard-Reihe über Walter Benjamin geht es diesmal um seinen Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“.

 

Berichte aus der Akademie

Aus der Demokratisierung des Reisens ist längst ein Massentourismus geworden, mit dessen Verheerungen vor Ort sich eine in der FAZ vorgestellte soziologische Studie befasst hat.

Weltreise ist erstmal abgesagt wie so vieles: Die ZEIT portraitiert einige derer, die in der Corona-Pandemie Abi gemacht haben und nun damit hadern, ob und wie es unter Infektionsschutzbedingungen weitergehen soll.

 

Die Unordnung der Dinge

Vielleicht öffnen demnächst wirklich wieder die Kinos und die SZ freut sich, dass Christopher Nolans neuester Action-Mindfuck „Tenet“ dafür bereitsteht, der zugleich eine gute Gelegenheit gibt, sich noch einmal mit dem Konzept der Entropie vertraut zu machen. Auch Telepolis freut sich, wie ernst Nolan das Konzept Traumfabrik nimmt.

 

Herrschaft der Zahl

Ob man will oder nicht, die Quantifizierung von Mensch und Welt nimmt zu, die Datenberge wachsen ins Unvorstellbare. Steffen Herrmann fragt in der FR einige Fachleute, ob dies der endgültige Sieg der neoliberalen Leistungsgesellschaft ist oder ob die Vermessung der Welt auch zu etwas Gutem nützt. Die Hulu-Serie „Devs“ schließt die Problematik an einen Quantencomputer an und bringt uns, wie Dietmar Dath atemlos in der FAZ schreibt, Big Data „als Hirnthriller und Seelenhorror“:

Der Unendlichkeit als Begriff und Konzept zwischen Mathematik, Physik und Philosophie widmet der DLF heute seine Lange Nacht (wenn auch als Wiederholung).

 

Natur und Klima

Die FR zeigt sich von der These in Josef H. Reichholfs neuem Buch fasziniert, wonach es, kaum trat der moderne Mensch auf, zu einem Massenaussterben der Megafauna kam, und sich der darob hungernde Wolf den Menschenrudeln anschloss, um zum Hund zu werden. Dass der demnächst gesetzlich zwei Mal am Tag ausgeführt werden muss, kommentiert die ZEIT. Wie es ausssieht, wenn man die Natur einfach mal machen – also weite Gebiete verwildern lässt – zeigt die arte-Doku „Die Natur kehrt zurück“ in beeindruckenden Bildern.

Im Berliner Martin-Gropius-Bau beschäftigt sich die Ausstellung „Down to Earth“ mit dem Beitrag der Kunst zur Klimakatastrophe und die FR findet vor allem die Kulturteile spannend, die ohne Strom auskommen.

 

#Demokratie

Klaus Moegling macht eine Inventur der bedrohten bzw. kriselnden demokratischen Institutionen: Die Vereinten Nationen sind weiter denn je davon entfernt, eine friedenstiftende Weltregierung zu sein, und einige repräsentative Demokratien sindauf nationaler Ebene von Politikverdrossenheit und Autoritarismus befallen. Doch sie sind und bleiben das beste, was wir haben.

Neoliberalismus und Rechtspopulismus stellen also die Demokratie in Dauerkrise – ein Phänomen, mit dem sich auch der von Gudrun Hentges herausgegebene Sammelband zur politischen Bildung beschäftigt und den der Freitag vorstellt. Warum kommt die Linke da nicht aus dem Quark? Jan Korte ist ist parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion im Bundestag und denkt in seinem von der FR vorgestellten Buch über eine progressive Wahlalternative zwischen Realpolitik und Idealismus nach.

Kant prägte den Begriff „Geschichtszeichen“ für die Französische Revolution als Wegmarke im „Fortschreiten zum Besseren“; Rudolf Walther nimmt ihn in der taz für den Prager Frühling, der vor 52 Jahren niedergeschlagen wurde und der Linken eine Lehre war.

Die These, Israel könne ein jüdischer oder ein demokratischer Staat sein, vertritt Omri Boehm in einem taz-Interview, in dem er auch eine neue Erinnerungskultur fordert und vor allen Nationalisten warnt.

(Photo: PanevManoel, Manoel Panev, pixabay.com, CC0)

„Cancel Culture“

Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ ist neu übersetzt worden und laut Tagesspiegel ist das dystopische Szenario des Klassikers der „feuchte Traum“ der Cancel Culture. Anfang Juli warnte eine Reihe namhafter Intellektueller in einem offenen Brief im Harper’s Magazine vor einer gefährlichen Einengung des öffentlichen Diskurses. Yascha Mounk warnt seinerseits in der ZEIT vor amerikanischen Zuständen: Linksliberale Kosmopoliten müssen um Ruf und Karriere fürchten, sollten sie von der „identitätspolitischen Orthodoxie“ abweichen. Auch in Deutschland könne der Twitter-Mob bereits Künstler oder Schriftsteller zu Unantastbaren erklären. Mark Schieritz (ebenfalls in der ZEIT) dagegen findet nicht – Kant hin, Kant her –, dass jede Meinung ebenso wie eine andere in die Öffentlichkeit gehört.

Der Freitag übernimmt ein Gespräch aus dem Guardian zwischen Pankaj Mishra und Viet Thanh Nguyen, die sich u.a. darüber unterhalten, wie weiße Eliten mittels der Klagen über eine „Cancel Culture“ ihre privilegierte Stellung gegen Minderheiten verteidigen, die z.B. in der #BlackLivesMatter-Bewegung ihre Stimmen erheben. Handelt es sich bei „Cancel Culture“ am Ende genauso um einen rechten Kampfbegriff wie bei „politischer Korrektheit“? Die WELT jedenfalls feierte jüngst die unvollständige Entnazifizierung nach 1945 als Rettung vor der Cancel Culture, was bei Übermedien kommentiert wird.

Frantz Fanon starb 1961 kurz nach Erscheinen seines Buchs „Die Verdammten dieser Erde“ und die FR empfiehlt diesen antikolonialistischen Klassiker zur Relektüre, denn Fanon hat mit vielem (leider) Recht behalten. In Berlin wird derweil nun doch die Mohrenstraße um- und nach dem aus Afrika verschleppten Philosophen Anton Wilhelm Amo benannt, wie die taz meldet.

 

Gender*in

Die Postmoderne ist an allem Schuld, auch am Skandal, der vor zwei Jahren fast das Literaturnobelpreis-Komitee ins Nichts gestürzt hätte: Johan Lundbergs Geschichte des Poststrukturalismus in Schweden gefällt der SZ als wissenschaftssoziologischer Krimi eines Marsches durch die Institutionen mit dem furiosen Finale eines Sexismusskandals. Zum Verständnis toxischer Männlichkeit auch und vor allem im Netz ist Klaus Theweleits neu aufgelegtes Buch „Männerphantasien“ unverzichtbar, wie Georg Diez in der taz kommentiert.

Dietmar Dath (FAZ) stellt uns in aller Kürze die Mathematikerin Eugenia Cheng vor, die ihrer Disziplin ein Kochbuch gewidmet hat und sich nun anschickt, den Gender-Diskurs auf algebraische Füße zu stellen. Nebenan wird in der FAZ Kate Kirkpatricks Beauvoir-Biographie gelobt, die – gestützt auf Selbstzeugnisse – Denken und Werk aus dem Lebenslauf zu erklären vermag, wie es sich für eine intellektuelle Biographie gehört. Ursula Scheer (FAZ) ist augenscheinlich ebenso wie Nicole Tersigni zur Frau gemacht worden und letztere erklärt mithilfe klassischer Gemälde, was „Mansplaining“ ist, obwohl Männer das ja viel besser erklären können. Und so z.B. sieht das aus:

Vor 60 Jahren kam „die Pille“ auf den Markt und sie hat seither nicht nur Einfluss auf die Geburtenzahlen, wie Sarah E. Hill in ihrem bei Spektrum rezensierten Buch schildert.

 

Hegel 250

Dietmar Dath, Jürgen Kaube, Sebastian Ostritsch, Slavoj Žižek und Günter Zöller haben Hegel zum 250. Geburtstag mehr oder weniger dicke Bücher gewidmet, die dem Tagesspiegel nicht bei der Entscheidung helfen, ob Hegel nun rechts oder links war. Einen Vorabdruck aus Jürgen Kaubes „Hegels Welt“ kann man in seiner FAZ lesen. Hier geht es um seine holprige Karriere Ende 30 als Zeitungsschreiber und schließlich als Gymnasialdirektor, als der er sich zwischen bildungspolitischen Formalismen und seinen volkserzieherischen Idealen bewähren musste. Gut jedenfalls, dass Hegel bei der Philosophie blieb, denn ein vierseitiges Gedicht, das er als 26-Jähriger seinem Freund Hölderlin widmete, taugt nichts, wenn wir dem Tagesspiegel glauben dürfen.

August Röbling hat die Brooklyn-Bridge in New York gebaut – und bei Hegel studiert, wie die FR in aller Kürze bemerkt. Die NZZ wiederum beschäftigt sich mit Hegels nicht unproblematischem Bild von Afrika und den dort lebenden Menschen. Warum es sich trotzdem lohnt, heute noch Hegel zu lesen, erklärt sein Biograph Sebastian Ostritsch ebenfalls in der NZZ. Das kann man aber noch steigern: Über die „Hochaktualität Hegels“ (!) unterhalten sich Andrea Kern und Thomas Palzer morgen bei Essay und Diskurs im DLF.

 

Das Bild der Woche zeigt BHL auf Zehenspitzen, um die kurdischen Aktivisten zu überragen, mit denen er sich ablichten lässt:

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