Links der Woche, rechts der Welt 33/19

Bittersüße Medizin gegen Einsamkeit

Heimweh und die Sehnsucht nach früher wurde im 17. Jahrhundert erstmals an Schweizer Söldnern untersucht. Seither hat sich einiges in der Nostalgie-Forschung getan, wie Tim Wulf, Constantine Sedikides und Tim Wildschut bei Spektrum rekapitulieren. Demnach hat das Schwelgen in Erinnerungen sinnvolle Funktionen – und ein politisches Risiko. (02.08.19)

 

Voltaire würde auf 4chan posten

Alle sind heute ach so kritisch, aber zum Glück weiß Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ Bescheid, weil er Voltaire und Diderot gegen die linksgrüne Tugenddiktatur in Stellung bringen kann. Exekutiert wird jene von Fortschrittsgläubigen, die sich von Vernunft und Geschichte autorisiert wähnen, während wahrhaft unabhängige Aufklärer mutig und cool dagegen aneseln. (10.08.19)

 

Der Populismus der letzten Menschen

Friedrich Nietzsches Idee des Übermenschen wird bis heute von Rechtsextremen missbraucht, wie Tobias Hürter in der ZEIT beklagt. Die überbordende Sprache, krasse Schlagworte und diverse Ungereimtheiten laden dazu ein, sich den Nietzsche zu basteln, den man braucht, dabei würde er eine Thunberg einem Trump vorziehen. (11.08.19)

 

Kapitalistische Planwirtschaft 2.0

Mancher Linke träumt davon, für Adrian Lobe ist die von Big Data gelenkte Planwirtschaft ein zwiespältiges Faszinosum, das langsam Gestalt annimmt, wie er in der NZZ schreibt. Es gab schon einige historische Überlegungen, makroökonomischen Modelle zu automatisieren, aber erst jetzt kommen Datenmengen, Rechenkraft und Künstliche Intelligenz zusammen – und bringen Amazon et.al. zum planwirtschaftlichen Handeln. (14.08.19)

 

Hegel bei Gitanes und Bier

Nicht jede, die es verdient hätte, bekommt einen Platz in der Philosophiegeschichte zugewiesen. Bersarin würdigt in seinem Blog Aisthesis einen solchen: Werner Nitt (1931–2009) lehrte am Hansa Kolleg von Hegel aus in alle Richtungen denkend besser Philosophie als die Beamten an der Hamburger Uni nebenan. (16.08.19)

 

Nichts zu groß und nichts zu klein.

Arno Widmann bereitet sich und uns in der FR schon einmal auf den 250. Geburtstag Alexander von Humboldts am 14. September vor, und zwar mit der zehnbändigen Ausgabe der vielfältigen wissenschaftlichen Beiträge über ein fremdes Universum, das unseres ist. Wer die 7.000 Seiten nicht selbst schafft, sollte das hier lesen. (16.08.19)

 

Der Stoff, aus dem deutsche Träume sind

Deutschland hat ein geradezu mythisches Verhältnis zum Fleischkonsum, mit dem sich Volker Demuth in der ZEIT befasst. Jeder weiß um die globalen Folgen, doch sie einzuhegen scheitert an einer ganzen Reihe von politischen, sozialen und psychologischen Gründen, denen nicht mit Vernunft beizukommen ist, sondern nur mit einer Erinnerung daran, was „Fleisch“ bedeutet. (17.08.19)

(Photo: suju, Susanne Jutzeler, pixabay.com, CC0)

Bücher

Das moderne Glücksversprechen soll uns die (Selbst-)Ausbeutung schmackhaft machen, stellt Carl Cederström in seinem neuen Buch fest und der Freitag benennt auch Wilhelm Reichs Anteil an der Entwicklung. +++ Trotz mancher Anregungen zeigt sich Gregor Keuschnig bei Glanz & Elend genervt vom „raunend-verschwörerischen Subtext“ in Byung-Chul Hans „Vom Verschwinden der Rituale“. +++ Begeistert dagegen ist Jürgen Nielsen-Sikora ebd. von Daniel-Pascal Zorns Auseinandersetzung mit der Populärphilosophie („Shooting Stars“) zwischen Talkshow und Lehrstuhl. +++ Spektrum findet Thomas Vogts Ehrenrettung wissenschaftlicher Methodik löblich, aber viel zu unterkomplex und schlecht lektoriert. +++ Reflexion als Kunst: Der Tagesspiegel stellt Maike Weißpflugs Buch über Hannah Arendts politischen Denkstil vor. +++ Infographiken gibt es länger als moderne Layout-Lehre: Der Standard schwärmt vom Bildband „History of Information Graphics“, der von Sandra Rendgen und Julius Wiedemann herausgegeben wurde. +++ In aller Kürze weist Spektrum auf den Sammelband mit Wissenschaftsgesprächen hin, die Stefan Klein in den vergangenen Jahren für die ZEIT mit zwölf Koryphäen geführt hat.

 

Radio

Podcasts sind der neue heiße Scheiß und Sam Harris macht so tolle über Philosophie und Religions- (also Islam-)kritik, dass die NZZ ihn mit einem Portrait würdigt. Endlich Ruhe: Im DLF kommt heute Abend die Lange Nacht über Robinson Crusoe. Morgen früh beklagt Eva Menasse ebd. bei Essay und Diskurs das paradoxe Verschwinden der Öffentlichkeit in der Digitalisierung. Mittags sind Elternschaft, Reisen und Klimagerechtigkeit einige der Themen bei Sein und Streit und empfohlen sei auch mal wieder Freistil, wo es Features u.a. übers richtige Leben im falschen, Langeweile und Minimalismus gibt. Im Philosophischen Radio des WDR 5 unterhalten sich Hanno Rauterberg und Jürgen Wiebicke über Tabus und Kunstfreiheit nach #MeToo.

 

Die Unordnung der Dinge

Die FR unterhält sich mit Volker Weiß über Adornos Warnung vor Rechtsradikalismus und wie sie zur rechten Szene heute passt. +++ Und noch ein Nachtrag: Franziska Schutzbach hat bereits letztes Jahr mit Adorno die Tricks randständiger Rhetorik untersucht und erklärt im Freitag-Interview, wie rechte Positionen u.a. über die NZZ in den Diskurs eingespeist werden und was man dagegen tun kann. +++ Apropos einspeisen: Telepolis berichtet über den Netztrend des „Clean Eating“, der sich einer „extremistischen Ernährungssekte“ annähert bzw. als digital übertragene Essstörung („Orthorexia nervosa“) betrachtet wird.

 

Berichte aus der Akademie

Eine Unternehmensberatung bemängelt, die deutsche Lehrerbildung sei zu wenig zukunftsfest – die FAZ zählt die einzelnen Kritikpunkte auf. +++ Hungrige Richter sind härter, Kinder ohne Selbstbeherrschung werden Versager – die sozialwissenschaftliche Fundierung dieser Weisheiten ist äußerst fraglich, wie die FAZ meldet. +++ Preston Greene warnt davor, der kryptoreligiösen These auf den Grund zu gehen, wir würden in einer Simulation leben, wie Telepolis meldet: Die Betreiber könnten das Universum einfach abschalten. +++ Das Bundesverfassungsgericht zitiert aus einem Plagiat, was der FAZ die verheerende Langlebigkeit von Wissenschaftsbetrug beweist. +++ Über die Freud-Rezeption in Indien unterhält sich der Freitag mit Uffa Jensen, der die Globalgeschichte der Psychoanalyse erforscht. +++ An der Uni Heidelberg wird, ist in der FAZ zu lesen, mit einer Ausstellung an den Mathematiker und Pazifisten Emil Julius Gumbel erinnert, dessen wissenschaftliches Engagement gegen die Nazis zu lange ungewürdigt blieb. +++ Die Mengenlehre hat beim Sortieren verschiedener Unendlichkeiten einen Durchbruch gemacht, wie Spektrum meldet.

 

Trotz Philosophie

Lichtwolf Nr. 66 (Stumpf und Stil)
Lichtwolf Nr. 66 (Stumpf und Stil)

Die ZEIT fragt Corine Pelluchon, worüber sie gerade nachdenkt: über Emmanuel Lévinas und was wir von ihm über den Anderen und unsere Verwundbarkeit lernen. +++ Mit der Ontologie ist das so eine Sache, wie Matthias Warkus in seiner Spektrum-Kolumne zeigt, wenn er danach fragt, was bei der Rede von einem bestimmten Lied gemeint ist. +++ Noch mehr schwierige Fragen für schwierige Menschen gibt es im aktuellen Lichtwolf zum Thema „Stumpf und Stil“ [sic!], erhältlich als Paperback und im preiswerten Abonnement sowie als E-Book für Kindle und im epub-Format.

Schreiben Sie einen Kommentar