Links der Woche, rechts der Welt 01/21

Kaltes Gestein

Die Geologin Marcia Bjornerud hat ihrer sträflich unterschätzten Disziplin ein Buch gewidmet, das von der SZ vor allem wegen der anschaulichen Metaphern empfohlen wird, um die allzumenschliche Furcht vor dem Abgrund an Erdgeschichte zu überwinden.

Es geht immer noch einsamer: Ein faszinierender FAZ-Artikel beschäftigt sich mit Planeten, die aus ihrem Sonnensystem geflogen sind und nun alleine durch die dunkle Kälte des Alls kreiseln – was auch der Erde passieren kann.

Michael Schetsche und Martin Werner gehen bei Telepolis der Frage nach, welche (überschaubaren) Folgen die Entdeckung außerirdischen Lebens hätte – vor allem für den Wissenschaftsbetrieb, nicht so sehr für Religionen, Politik und Öffentlichkeit.

 

Früher war es anders

Es hätte auch anders ausgehen können: Laurent Binets in der SZ rezensierter Roman „Eroberung“ erzählt eine andere Geschichten der frühen Neuzeit, in der Kolumbus scheitert und Europa vom Inkareich kolonisiert wird. Dem kleinen, aber feinen Kreis deutscher Sklavereigegner im 19. Jahrhundert hat Sarah Lentz ein Buch gewidmet, das kurz in der FAZ vorgestellt wird.

Norwegen ist stolz auf den Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung, weshalb Marte Michelets Infragestellung der patriotischen Erzählung dort für helle Aufregung, Klagedrohungen und Gegenbücher sorgt, wie die taz berichtet. Kann man Wagner hören, ohne Protofaschismus und Antisemitismus mitzuhören? Alex Ross geht dem Wagnerismus in seinem flott geschriebenen und von der SZ rezensierten Buch nach.

Die FAZ bespricht zwei Neuerscheinungen, die das einst intellektuell so wirkmächtige Kaffeehaus nach Berliner und Wiener Art würdigen. Der ältesten solcher Institutionen, dem Caffè Florian in Venedig könnte, wie die SZ schreibt, die Corona-Krise nun nach 300 Jahren den Garaus machen.

(Photo: jpeter2, Jörg Peter, pixabay.com, CC0)

Das 1933 erschienene Buch „Beruf und Ideologie der Angestellten“ von Carl Dreyfuss wurde neuaufgelegt und die FAZ freut sich vor allem über den nostalgischen Ruch dieses Klassikers der Organisationssoziologie. Von der Geburt Europas aus dem Geiste der Oper und der Eisenbahn erzählt Orlando Figes mit einer Extraportion Turgenjew und die taz ist fasziniert von diesem historisch-erzählerischen Ansatz. Die Lange Nacht im DLF wirft heute dagegen einen Rückblick auf 50 Jahre Rock- und Popgeschichte.

Die Anthologie mit Beiträgen aus der radikalfeministischen Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ gegen das Patriarchat und eine larmoyante Frauenbewegung wird in der taz vorgestellt.

 

Politische Bewegung

Verschwörungstheorien, -mythen, -ideologien, -erzählungen oder -glauben? Michael Butter erklärt in der ZEIT, warum das Hadern mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“ eine sehr deutsche Angelegenheit ist und dieser der Sache durchaus angemessen.

Die Welt war und ist ungerecht – und die Pandemie hat es noch verschlimmert. Marcel Fratzscher überlegt in der ZEIT mit John Rawls, was nun zu tun ist, um die sozialen Kluften etwas zu schließen. Auch Rainer Forst überlegt in der FR, was das Pandemiejahr mit dem demokratischen Bewusstsein gemacht hat und stellt erstmal klar, was mit „Krise“ überhaupt gemeint wäre und die wir dann hätten, wenn Regression und Verantwortungslosigkeit überhand nehmen.

Ein Sammelband analysiert die jugendliche Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ und Spektrum fasst kurz zusammen, worum es geht. Wer im neuen Jahr den ökologischen Fußabdruck reduzieren will, könnte zu Malte Rubachs Buch greifen, der der FAZ versöhnlich genug einen nachhaltigen Speiseplan entwirft, ohne Verzicht zu predigen. Denn das dieser auch dann nicht von Dauer sein wird, wenn er in den Lockdowns 2020 eingeübt worden ist, weiß Philipp Hübl und erklärt im Standard die Bedeutung des „Virtue Signalling“.

 

Technische Träume

Künstliche Intelligenz ist nützlich, nicht zuletzt, weil sie längst professionell Wissen produziert, wie Walther Ch. Zimmerli in der ZEIT anmerkt. Allerhand smarte Geräte und gar Städte versprechen, Komfort gegen Freiheit zu tauschen, und Niklas Maak hofft in der FAZ auf Rettung durch Designer der Subversion. Über die seltsame Naturverbundenheit digitaler Technologie wundert sich Benjamin Knödler im Freitag.

Die SZ würdigt mit Bergson und Badiou das Zeitgefühl in Anbetracht des 2020 (angeblich) unvermeidlichen Livetickers. Ist die Zukunft berechenbar oder vom Schicksal oder Zufall bestimmt? Matthias Warkus geht in seiner Spektrum-Kolumne der alten Determinismus-Debatte nach, während Thomas Macho sich im Standard-Interview optimistisch zeigt und mehr Mut zur Utopie fordert.

 

Menschliche Berührung

Martin Hartmanns Buch über den oft strapazierten und selten durchdachten Begriff des Vertrauens wird bei Spektrum rezensiert und die taz bilanziert, wie sich das allgemeine Vertrauen in Ärztinnen und Polizisten in Film und Fernsehen entwickelt hat.

Der Standard rezensiert Michael Sandels „Tyrannei der Leistung“. Sehr schönes (entstehendes) Quiz für Foucault-lesende Architektinnen: Zeigt das Photo ein Gefängnis oder eine Schule?

Das Jammern wird von Hannes Soltau im Tagesspiegel als Kulturtechnik und nachgerade antifaschistische Tugend verteidigt. Die ZEIT unterhält sich mit dem Theologen Wolfgang Palaver (hihi) darüber, was an Agamben nervt und warum sich Europa so schwertut mit einem angesichts der Pandemie angebrachten Katastrophismus und der Trauer um die Corona-Toten.

Wenn es darum geht, einen Menschen oder einen Hund zu retten, sind Kinder deutlich tierlieber als Erwachsene, wie ein Versuch zeigte, über den Spektrum berichtet. Die FAZ dagegen war in Sektlaune und hat haufenweise Miniaturen über Alk und Suff in Kunst und Kultur zusammengetragen. Prost Neujahr!

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