Staat, Glaube und Gewalt
Der Antifeminismus eint Incels, Neonazis und Islamisten, wie Susanne Kaiser in ihrem Buch gezeigt hat. Die taz unterhält sich mit ihr über das letzte Gefecht des Patriarchats. QAnon-Verschwörungsgläubige machen sich in sozialen Medien auf eine Weise an Mütter heran, die Marlen Hobrack in der ZEIT untersucht und auf „Querdenker“-Demos wiedererkennt. Wenn dort nicht von gefolterten Kindern phantasiert wird, erschallt der Ruf nach Freiheit. Über deren Begriff denkt Eva von Redecker im Interview mit der ZEIT sorgfältiger nach und kommt auch auf die Aktualität der Banalität des Bösen zu sprechen.
Und naja, auch den mühsam ermittelten Urhebern des QAnon-Verschwörungsglaubens, der die Anziehungskraft von Computerspielen mit der von Sekten verbindet, geht es nur ums Geld, wie bei Telepolis zu lesen ist. Von Platons Höhlengleichnis bis zur Neurologie geht Bawüs Antisemitismusbeauftragter Michael Blume dem Verschwörungsglauben auf den Grund – Spektrum empfiehlt sein Buch.
Den Streit um ein französisches Gesetz, das die Dokumentation von Polizeigewalt unter Strafe stellt, kommentiert die ZEIT mit Hinweis auf Michel Foucaults Machtpessimismus.
Computer an, Computer aus
Trotz Smartphones, Streaming und Kontaktbeschränkungen (!) sind Brettspiele beliebter denn je, wie die FAZ schreibt und sowohl einige Klassiker und Neuerscheinungen als auch kurzweilige Spielforschung und -geschichte vorstellt.
Marie-Luise Wolff hat genug von immer mehr Digitalisierung und kann damit nicht einmal die FAZ überzeugen, die ihre Streitschrift gegen die Allmacht der IT-Konzerne rezensiert. Nüchterner, aber kein bisschen unkritisch blickt Adrian Daub in seinem im Freitag besprochenen Buch auf das, was man im Silicon Valley „Denken“ nennt und aus Ayn Rand und Marshall McLuhan zusammengerührt hat.
Um das Versprechen der Künstlichen Intelligenz für die Zukunft des Menschen geht es Roberto Simanowski morgen bei Essay und Diskurs im DLF. Eine KI-Ethikerin hat Google verlassen und die FAZ spekuliert, ob sie dem Konzern womöglich zu kritisch seine Forschung und Entwicklung begleitet hat. Die Digitalisierung hat den Hang zur materiellen Produktion jedenfalls kein bisschen gebremst: Schon bald ist das von Menschen hergestellte Zeug schwerer als die Masse aller Lebewesen auf dem Planeten, wie Telepolis vorrechnet. Eine Ausstellung im Mittelalterlichen Kriminalmuseum Rothenburg ob der Tauber lässt die FAZ über das faszinierend wechselhafte Verhältnis zwischen Mensch und Tier im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte staunen.
Corona, Krise und Kairos
Die SZ bringt ein Gedicht, mit dem die Schweizer Satire-Zeitschrift „Nebelspalter“ 1920 die Reaktionen auf Maßnahmen gegen die Spanische Grippe aufs Korn nahm. Tollwutbürger: Die FR wundert sich über die archaische Aggression, die mit einigen in der Corona-Krise so durchgeht, dass sie andere Menschen im Streit beißen.
Auch an Slavoj Žižeks Stimmung geht die Pandemie nicht spurlos vorbei: Im FR-Interview erklärt er, was ihn am Home Office nervt, warum es Lockdown und Panik braucht und warum Agamben irrt. Die AHA-Regeln führen zu einem „sozialen Reizentzug“, über dessen Folgen die FAZ mit Arnold Gehlens Institutionentheorie nachdenkt.
Über das Zeitgefühl und den günstigen Augenblick (Καιρός) im endlichen Leben allgemein und in der Pandemie im Besonderen denkt Cosima Lutz in der ZEIT nach. Die einen hoffen auf die Krise als Gelegenheit, andere sehnen sich zurück nach der alten Normalität: Jürgen Link stellt bei Telepolis fest, dass es dabei vor allem um Vertrauen geht und um die Suche nach Normalität am falschesten aller Orte, nämlich der Statistik.
Die FAZ verweist auf Ergebnisse einer Studie darüber, wie Jugendliche und junge Erwachsene in der Corona-Krise zurechtkommen. Dass deren Leben zugunsten derer der Älteren angehalten werden, empört manche französische Denker*innen, wogegen die ZEIT auf dem Prinzip des Lebensschutzes besteht.
Die Medizinethikerin Verina Wild erklärt im ZEIT-Interview die schwierigen Güterabwägungen, die bei einer öffentlichen Gesundheitskrise wie der gegenwärtigen zu treffen sind, und welche Verletzbarkeiten mehr Aufmerksamkeit verdienen. Markus Gabriel derweil plädiert im Tagesspiegel für Immunitätsausweis und Impfpflicht.
Schwierige Leute
Iris Därmann hat ein Buch über Widerstand gegen Sklaverei geschrieben, aber auch über deren Legitimierung oder Verharmlosung durch Philosophen von Aristoteles über Locke bis Marx, worüber sie im taz-Interview spricht. Die SZ ärgert sich über die anhaltende Heimlichtuerei, mit der jüngste Editionen aus Heideggers Nachlass die Nazi-Frage ignorieren.
Apropos: Wer auch für übel beleumundete Personen Empathie erübrigt, kann sich den Ruf ruinieren, wie in der SZ zu lesen ist. Dort erfahren wir auch, was wir schon seit Sokrates wissen, nämlich dass man Besserwissern beikommen kann, indem man in ihnen Zweifel weckt. Mit passiv-aggressivem Verhalten beschäftigt sich Corinna Hartmann bei Spektrum und erklärt u.a. welche Persönlichkeiten einen besonders ausgeprägten Hang dazu haben und wie knifflig die Pathologisierung dieser Art ist, mit Konflikten umzugehen.
Schwere Denkerleben
Die WELT erinnert an die Ermordung Ciceros vor 2063 Jahren und Roland Henke und Jürgen Wiebicke wagen im Philosophischen Radio des WDR 5 den Vergleich von Jesus und Sokrates.
Howard Eilands und Michael W. Jennings’ Walter-Benjamin-Biographie wird von der taz als neues Standardwerk über das traurige Leben und unermüdliche Wirken des Denkers ausgerufen, und die FAZ stimmt dem Urteil zu, auch wenn die Autoren bisweilen zu sehr den erratischen Sound Benjamins imitieren. Axel Schildt wiederum hat eine Geschichte der „Medien-Intellektuellen“ der jungen BRD vorgelegt, die die SZ ganz nostalgisch macht, und auch der Freitag feiert die mitunter haarsträubenden Anekdoten rund um Altnazi-Chefredakteure, Adorno, Heidegger und Habermas. Einen Vortrag von Bernhard Horwatitsch über Adornos Überlegungen betreffs Rechtsradikalismus und Deutschtum kann man sich bei Youtube anhören und -gucken.
Michel Houellebecq widerlegt laut SZ in einem Band mit Essays und Gesprächen sein Image des Provokateurs, indem er eher müde seine steilen Thesen über Descartes, Islamismus und Prostitution in die Feu-Landschaft stellt; die taz ist fast (!) schon genervt davon, wie Houellebecq sich immer wieder aufdrängt, indem er mit dem Reaktionären widersprüchlich flirtet. Auch Paul Auster hat einen Band mit Reden und Essays aus 50 Jahren seines Schriftstellerlebens vorgelegt, den der Freitag u.a. als Plädoyer für die Schönheit der Nutzlosigkeit empfiehlt.
Agnès Gayraud ist Musikerin und hat über Adorno promoviert. Im Tagesspiegel-Interview nimmt sie das Wesen popmusikalischer Aufnahmen vor dem Kulturindustrie-Verdikt in Schutz. Herbert Schnädelbach schließlich zieht in der FR eine Bilanz des ausklingenden Hegel-Jahrs und verteidigt des Tübingers Rettung der Metaphysik gegen die Hegel-Leser*innen des letzten Vierteljahrtausends.