Keine menschliche Kultur kommt ohne Jenseitsvorstellungen aus, woran Christian Thomas in der FR erinnert und einen Überblick über Himmel und Hölle vom Gilgamesch-Epos über Dante bis zu Karl Rahner gibt, der nicht zuletzt den Beitrag der Aufklärung zur Abschaffung der Hölle würdigt. (23.12.19)
Wissen fressen und Ideen scheißen
Johannes Franzen beschäftigt sich in der ZEIT mit der Krise des Lesens: Es wird weniger und flüchtiger gelesen, weil es viel zu viel zu lesen gibt. In Folge der „Demokratisierung der gültigen Allgemeinbildung“ kommt es zu einer „Explosion des kulturellen Kanons“. Da hülfen Mut zur Komplexitätsreduktion und Gelassenheit mehr als kulturpessimistische Lamenti. (23.12.19)
Die WELT ist konsequent: Susanne Gaschke wundert sich in dem Blatt aus dem Hause Springer, warum sich Sachbücher mit düsteren Zukunftsaussichten wie geschnitten Brot verkaufen, und bringt in ihrer Übersicht über die aktuellen Angstlusttitel jede Menge Affiliate Links unter. (24.12.19)
Zu Weihnachten hat Spektrum einen Klassiker aus dem Archiv geholt: Der Naturwissenschaftler Bernulf Kanitschneider und der Theologe Ulrich Lüke diskutieren über die alte Frage, ob sich Gott mit der Wissenschaft vereinbaren lässt und was Wahrheit bedeutet. (25.12.19)
Stilkritik männlicher Regression
Im lesenswerten ZEIT-Rückblick auf die ausgehenden 10er Jahre fragt Jens Balzer, was eigentlich das Problem der Männer dieser Epoche war und ist. Dazu untersucht er sehr kundig die popkulturellen Wurzeln rechtsdrehender, unsouveräner und größenwahnsinniger oder wahlweise bartpflegender Männlichkeit. (27.12.19)
Odysseus und die „Phäake News“
Jede Homer-Übersetzung bringt einen anderen Odysseus hervor, wie Robert Zaretsky bei Spektrum am Beispiel der beiden jüngsten zeigt, die den antiken Helden als unmoralisch und inkompetent beschreiben und ihm ein postfaktisches Wahrnehmungsmanagement bescheinigen. (27.12.19)
Alltagsidiotie und die Freiheit der Zukunft
Mit den guten Vorsätzen sollte es in Anbetracht der Klimakatastrophe ernst werden. Doch Anna Sauerbrey nimmt im Tagesspiegel den vorsintflutlichen Hedonismus des SUV-Fahrers in Schutz. Denn diese Personifikation des Liberalismus wirft gute Fragen nach dem Verhältnis zwischen Autonomie, Eskapismus und Gemeinwohl auf. (27.12.19)
Bücher
Hannah Arendts Verhältnis zum Judentum gilt als schwierig. Nachzulesen ist das jetzt in einem Sammelband mit ihren Schriften zum Thema, den die NZZ vorstellt. +++ Petra Nagenkögel hat ein traurig-schönes Buch geschrieben, das den Standard wegen der Mischung aus Essay und Roman über die unruhige Gegenwart auf der kolonialisierten Erde fasziniert. +++ Die FR staunt über den von Sandra Rendgen und Julius Wiedemann herausgegebenen Prachtband über 1.200 Jahre visuellen Wissenstransfers, also Infographiken.
Radio
Über Möglichkeiten und Grenzen der Klimaschutz-Bewegung unterhalten sich Wolfgang Kraushaar und Jürgen Wiebicke im Philosophischen Radio des WDR 5. Der DLF wiederholt heute die Lange Nacht über Provinzialität und Urbanität in der Popmusik und morgen wird bei Essay und Diskurs die seit den Feiertagen laufende Reihe „Identitäten“ fortgesetzt. Sein und Streit widmet sich dem Abschied und Jahresende.
Berichte aus der Akademie
Die FAZ kommentiert eine Studie zum menschlichen Hang, vermeintliche Kompetenz am Kleidungsstil festzumachen. +++ Spektrum erinnert an den Siegeszug der Kartoffel im Europa des 16. Jahrhunderts, der langjährigen Lichtwolf-Leserinnen freilich aus dem leckeren LW32 wohlbekannt ist. +++ Essen wirkt auf die Darmbakterien, die auf das Gehirn wirken, weshalb Telepolis einen wissenschaftlich fundierten Ernährungsratgeber zur Weihnachtszeit aufgestellt hat. +++ Das Schulfach Altgriechisch erfreut sich nach langer Krise v.a. in Norddeutschland wachsender Beliebtheit und geholfen hat wohl eine Broschüre, über die die FAZ berichtet.
Die Unordnung der Dinge
In der SZ-Reihe „Ansprachen zur Demokratie“ sieht Timothy Snyder das intellektuell-politisch Kernproblem im Mangel an Zukunftsvorstellungen. +++ Die FAZ bringt einen Nachruf auf Muhammad Shahrour, der (als studierter Bauingenieur) einen historisch-kritischen Umgang mit der koranischen Überlieferung und damit einen liberalen Islam forcierte.
Hermann L. Gremliza (†)
Am 20. Dezember ist der Konkret-Herausgeber Gremliza mit 79 Jahren verstorben. Den Nachruf der FAZ besorgt Dietmar Dath, der Gremlizas intellektuelle Härte und gastgeberische Freundlichkeit würdigt. David Hugendick hebt in der ZEIT darauf an, dass mit Gremliza der Letzte verstorben ist, der Sprachkritik noch im Sinne der kritischen Theorie als Deutschland- und Ideologiekritik verstand. Willi Winkler blickt in der SZ besonders auf die Geschichte der Zeitschrift Gremlizas, der ein „selbstbewusster Wiedergänger von Karl Kraus“ war.
Weihnachten usw.
Matthias Drobinski plädiert in der SZ insbesondere mit Platon dafür, sich aus dem Bunker der Coolness zu trauen und mehr Staunen zu wagen. Die FAZ erinnert an David Friedrich Strauß, der sich 1835 kritisch mit dem Jesus-Mythos auseinandersetzte und die Bibelwissenschaft voranbrachte. Ganz in seinem Sinne setzt sich Fabian Goldmann bei Telepolis mit der Fabulierkunst des Evangelisten Matthäus auseinander, dessen Weihnachtsgeschichte „seit 2.000 Jahren Kirchenbänke füllt“, und Bert Rebhandl blickt im Standard eher auf den Evangelisten Lukas und wie viel Wert der auf die Abstammungsgeschichte Jesu legte, weil Erlöser nun einmal keine Jedermänner sein können. Jean-Pierre Jenny schaut in der NZZ, wie Katharina (die mit dem Rad zu Tode gefoltert wurde) zur Heiligen gemacht worden ist. Tim Crane rät militanten Atheisten in seinem Buch zu etwas mehr Toleranz gegenüber Religionen und ihren Anhängern, im Interview mit der taz erklärt er, warum.
Trotz Philosophie
Tim Henning zählt zu den „Shootingstars der Philosophie“ und macht im Freitag-Fragebogen „Was ist Kommunismus?“ keinen Hehl daraus. +++ Gegen den „Klimamoralismus“ empfiehlt der Wirtschaftsteil der FAZ die Lektüre von Hermann Lübbe, dessen Vortrag über den „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ jüngst neu veröffentlicht wurde. +++ Die FAZ wundert sich über die psychoanalytische Deutung, die Roland Reuß einem Rechtschreibfehler Walter Benjamins angedeihen lässt. +++ Der Althistoriker Christian Meier hat eine Carl-Schmitt-Vorlesung unter dem Titel „Das Politische und die Polis“ gehalten und die FAZ freut sich über die Antike als gelegentliches Vorbild.
Der Lichtwolf wünscht Ihnen einen ruhigen und besinnlichen Jahreswechsel!