Links der Woche, rechts der Welt 45/18

Das Gewissen isst mit

In der aktuellen Brandeins geht es um Lebensmittel. Susanne Schäfer schreibt darin über die Nahrungsindustrie, die aus dem Kundenwunsch nach gesunder, fairer, saisonaler oder schlicht identitär besetzter, „eigentlicher“ Ernährung mit gutem Gewissen ein gutes Geschäft gemacht hat.

 

Forschen für den gewinnbaren Atomkrieg

Der Kalte Krieg prägte alle Gesellschaftsbereiche, auch die Wissenschaft, wie Thomas Thiel in der FAZ deutlich macht. Die Verbindung von Militär und auch sozialwissenschaftlicher Forschung verhalf dieser zu ihrer ungeheuren Wirkmacht, wurde jedoch von der wissenschaftlichen Eigenlogik begrenzt. (03.11.18)

 

Das ewige Unbehagen an der Moderne

Manch einer wähnt sich heute in Weimarer Verhältnissen, dabei geht es eher wie in der frühen Neuzeit zu, als die neue Epoche sogleich ihren Antimodernismus beschwor. Die ZEIT bringt einen Essay von Sebastian Dümling, der die erstaunlichen Parallelen zwischen 1500 und 2018 in Sachen medialer Überreiztheit, Zusammenrottungen und Wutpredigten gegen „die da oben“ nachzeichnet. (03.11.18)

 

Dekadenz im Vorsorgekapitalismus

Die Folgen der Destabilisierung des Klimas werden gewaltig sein, zu gewaltig und fern, um sie zu begreifen, was sich auf die Bereitschaft zu handeln auswirkt, wie Tobias Haberkorn mit Bruno Latour in der ZEIT schreibt und rekapituliert, wie wir gerade bewusst unsere Lebensgrundlage zerstören, wenn wir nicht mit der Disziplin einer Kriegswirtschaft das Richtige tun. (04.11.18)

 

Jenseits von Gut und Böse

Die Debatte um die Münsteraner Erklärung von Historikern gegen Rechtspopulismus geht weiter. Via FAZ schreibt Manfred Hettling seinen Kollegen ins Stammbuch, die moderne Geschichtswissenschaft sei keine normative Lehrmeisterin fürs Leben mehr, sondern analysiere bloß Mittel und Zwecke. (04.11.18)

 

Der feindliche Bruder will Revanche

Im Bürgerkrieg erkennen die Feinde einander als Gleiche an und bereiten den Boden für ein neues Gemeinwesen. Das macht ihn so attraktiv gerade für neurechte Demagogen, wie der Historiker David Armitage im Gespräch mit Mladen Gladic beim Freitag erläutert und neben Hobbes auch Kant als Gewährsmann zitiert. (05.11.18)

 

Die Geschichte ist nicht vorbei

Antisemitismus ist nicht zurück, er war nie weg, und dass Holocaust und Migration in der Debatte darüber kaum vorkommen, muss nichts heißen. Der Sozialwissenschaftler Igor Mitchnik schildert im Tagesspiegel, was es in seiner neuen Heimat Deutschland bedeutet, jüdisch zu sein und das Deutsche zum Freund zu haben, obwohl bedingungslose Assimilation gefordert wird. (05.11.18)

 

Wer ist verantwortlich für autonome Entscheidungen?

Catrin Misselhorn hat ein Buch über die „Grundfragen der Maschinenethik“ geschrieben. Im FR-Interview mit Pamela Dörhöfer erläutert sie, warum vom Roomba über den Pflegeroboter bis zur Kampfdrohne Moralfragen gestellt werden sollten und wie man sie in das Maschinenhirn reinbekommt. (06.11.18)

 

Die Zukunft aus der Großstadt

Die Stadtplaner Robert Kaltenbrunner und Peter Jakubowski denken in ihrem neuen Buch über die Metropole der Zukunft nach, die zweifellos und wie schon seit der Antike von den Großstädten ausgehen wird und dabei einen Weg zwischen den urbanen Extremen finden muss. Die FR bringt einige Auszüge aus dem Buch. (07.11.18)

(Photo: Michael Gaida, pixabay.com, CC0)

Bücher

Jürgen Nielsen-Sikora kann bei Glanz & Elend über die „seltsam positive Weltsicht des Steven Pinker“ nur die Stirn runzeln. +++ Der Staat als Dienstleistungsunternehmen im Wettbewerb mit anderen Staaten: Titus Gebel denkt in seiner Schrift „Freie Privatstädte“ darüber nach, wie das Gemeinwesen durch die segensreichen Kräfte des Marktes immer besser wird und die NZZ ist durchaus fasziniert. +++ Im Pariser Exil erfuhr Karl Marxens Denken Wende und Schliff, wie Jan Gerber in seinem Buch schildert, das die taz beneidenswert gut geschrieben“ findet. +++ Leslie Jamison hat eine gute Kindheit und einen Doktortitel in Yale und ist dennoch Alkoholikerin geworden; in ihrem von der WELT vorgestellten Opus „Die Klarheit“ verbindet sie nüchterne Selbstreflexion mit Studien des Suffs in Literatur und Gesellschaft. +++ Die NZZ lobt die Fleißarbeit, mit der Martin Mulsow das diskursive Vorspiel der Frühaufklärung in Deutschland zwischen 1680 und 1720 in zwei Bänden „aufklärt“. +++ Zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht legt Michael Ruetz eine Bild- und Textdokumentation der organisierten Gewalt vom 9.11.1938 vor, der für die taz aus dem Bücherstapel zum Thema herausragt. +++ Glanz & Elend stellt 12 Bücher zu „dem drängendsten Problem unserer Zeit“, nämlich Flucht & Migration vor.

 

Bild und Ton

Die SZ stellt die Doku „#FemalePleasure“ vor, der fünf Aktivistinnen aus der ganzen von der Furcht vor weiblicher Sexualität geprägten Welt bei ihrem Kampf um sexuelle Selbstbestimmung begleitet. Auch die FAZ ist begeistert, dass Regisseurin Barbara Miller trotz des finsteren Themas „keine Dokumentation des Grauens“ gemacht hat:

Außerdem empfiehlt die FAZ den neuen Serienmarathon auf arte, wo „Ad Vitam“ die Dystopie der selbstoptimierten Unsterblichkeit zeigt, in der Selbstmord und Falten Akte des Widerstands sind. Die ZEIT wiederum hat die vierteilige Dokumentation „Mission Wahrheit“ gesehen, die ein Sittengemälde der Präsidentschaft Donald Trumps anhand der Arbeitsweise der New York Times zeichnet.

Vor sechs Monaten war Premiere in Cannes, nun läuft „In my Room“ in ausgewählten Kinos und begleitet zwei mitteleuropäische Loser als letzte Menschen über die verlassene Erde; dem Freitag ist dieses klassisch dystopische Motiv (um dessen Ursprünge es übrigens auch im aktuellen Lichtwolf geht) aber zu unentschlossen in Szene gesetzt:

Es ist vollbracht: Der Sein-und-Zeit-Podcast hat den letzten Paragraphen geschafft und steht nun all denen bei, die sich nicht alleine durch Heideggers Hauptwerk kämpfen wollen. Im DLF kommt heute die Lange Nacht über Kunst und Grauen im Ersten Weltkrieg, morgen früh gibt Aleida Assmann bei Essay und Diskurs Auskunft über neuerechte Rhetorik und mittags geht es bei Sein und Streit u.a. um Gleichheit im Gespräch mit Peter Sloterdijk.

 

Das Weitere und Engere

Zum Unzustand der Dinge: In diesem Woche wird des Kieler Matrosenaufstands und der Pogromnacht gedacht, außerdem findet das „European Balcony Project“ statt, bei dem sich Kulturschaffende für Europa aussprechen; Kathrin Röggla ist Vizepräsidentin der Berliner Akademie der Künste und erklärt im Tagesspiegel, warum das Not tut. +++ Der Tagesspiegel berichtet außerdem von einer Diskussionsrunde an der FU Berlin über die Notwendigkeit und Grenze der Meinungsfreiheit auf dem Campus. +++ Die FR berichtet von den 46. Römerberggesprächen, bei denen es um Demokratieverachtung und den Beitrag der sozialen Medien ging, gegen den keine technischen, nur philosophische Maßnahmen helfen. +++ Tim Berners-Lee gilt als Erfinder (oder Frankenstein…) des Internets und macht sich ebenfalls Sorgen um sein Kind, weshalb er laut NZZ gerade einen Gesellschaftsvertrag fürs Netz entwickelt. +++ Die Reflexe des Stammhirns tragen einiges zur Polarisierung der Gesellschaft bei: Die SZ berichtet über eine Studie, derzufolge wir politisch Andersdenkende gern für generell inkompetent halten. +++ In Arizona hat ein 11-jähriger seine Oma und dann sich selbst erschossen, weil sie ihn gedrängt hatte, sein Zimmer aufzuräumen, weshalb Florian Rötzer bei Telepolis darüber schreibt, wie im US-Wahlkampf über Gewalt gesprochen wird – und wie nicht. +++ In der Schweiz und Österreich spricht man auch Deutsch, aber was ist da sonst los? Der Freitag empfiehlt dazu den wöchentlichen ZEIT-Podcast „Servus. Grüezi. Hallo.“.

Trotz Philosophie: In der Reihe „Wie erkläre ich’s meinem Kind“ versucht die FAZ sich am 9. November 1938 und das BILDblog erklärt der FAZ, warum die These von der ansteckenden Gewalt hier völlig daneben ist. +++ In der November-Ausgabe ihrer FR-Kolumne „Unter Tieren“ denkt Hilal Sezgin über den Unterschied zwischen Moral und Gesetz hinsichtlich von Tierrechten und ihren kantianischen Standpunkt nach. +++ Der aktuellen Winterjackenmode, die dem Bettzeug nachempfunden ist, widmet Paul Jandl mit Schopenhauer einige Worte in der NZZ. +++ Die FAZ gratuliert Bernard-Henri Lévy zum 70. Geburtstag mit einem Rückblick auf sein wahrlich nicht besonnenes Denkerleben. +++ Die Gartensaison ist vorbei und weil es draußen nicht mehr viel zu tun gibt, blickt die FAZ auf die Gartenkultur in der antiken Philosophie und heutigen Konsumgesellschaft. +++ Die Mathematik ist sympathisch, weil sie sich u.a. mit der Wurstvermutung und Wurstkatastrophe befasst; was es damit auf sich hat, erklärt Florian Freistetter bei Spektrum. +++ Matthias Warkus denkt in seiner Spektrum-Kolumne über das seltsame Verb „wohnen“ nach, welche Tätigkeit damit gemeint sein könnte und ob Carnap oder Heidegger weiterhelfen.

Schreiben Sie einen Kommentar