Links der Woche, rechts der Welt 41/21

Leben und Sterben

Bei BW24 lesen wir über den Antinatalisten Raphael Samuel, der seine Eltern dafür verklagt, ihn ungefragt auf die Welt gebracht zu haben.

Um anspruchsvolle Selbstverwirklichung in der Isolation geht es Rüdiger Safranski in seiner Literatur- und Ideengeschichte des Selbstseins, die die FAZ vorstellt. Auch Daniel Schreiber denkt in einem Essay übers Alleinsein nach und die ZEIT bringt einen Auszug über Isolation, Urlaub und Akedia in der Pandemie – und Homosexualität.

Den Todesarten (darunter auch denen von Prominenten wie Ingeborg Bachmann) war LW67 gewidmet und nun springt auch die FR auf den Zug ins Nirgendwo: Nach den Toden von Horváth, Winckelmann, Robert Walser und Herrndorf berichtet sie vom Sterbebett von Karoline von Günderrode (dort auch die Links zum Bisherigen).

 

Staat und Gewalt

Cristina Lafonts Theorie deliberativer Bürgerbeteiligung reizt die SZ, weil ihr Kriterium, wonach Entscheidungen vor allem „wohlüberlegt“ sein sollen, ebenso altehrwürdig wie offen ist. Nicht so offen sind die meisten Grenzen, was Wolfgang Müller-Funk im Standard zum Glück im Unglück erklärt und mit seinen Überlegungen beide Seiten in der Migrationsdebatte ärgert.

„Woher nimmt der Staat seine Macht?“, fragt Matthias Warkus in seiner Spektrum-Kolumne und gibt einen kurzen Abriss von Legitimitätstheorien. Wie der afghanische Staat unter den Taliban funktioniert, versucht die FAZ zu ergründen, und auch China sucht in seiner geistiger Tradition nach einer Begründung des Gewaltmonopols: Der Sinologe Wolfgang Schwabe schreibt in der taz fachkundig über die staatlich geförderte Renaissance des Konfuzius.

 

Frust muss raus

Den Zusammenhang zwischen Benachteiligung und Gewalt hat eine Studie untersucht, über die die SZ berichtet. Karl-Martin Hentschel bedauert in der taz, dass linke Politik sich auf die Forderung nach Chancengleichheit durch Bildung reduziert hat: So wird soziale Ungleichheit legitimiert und der Rechtspopulismus genährt.

Zwei Drittel der jungen Briten träumen vom Sozialismus, so lesen wir im Freitag, der einen Guardian-Text von Owen Jones über die lebensweltliche Kapitalismusdämmerung in Großbritannien bringt. Hierzulande machten Erstwähler besonders gern ihr Kreuz bei der FDP. Eva von Redecker räumt im Freitag-Interview ein, dass jungen Leuten die eigenen Privilegien wichtiger sind als die notwendige ökosoziale Revolution. Der Soziologe Steffen Mau erklärt in der ZEIT, warum man nie einfach von Generation Greta oder Generation Vollgas reden kann und welche Erfahrungen die Jugend von heute prägen. Sophia Fritz ist so ein junger Leut und rechtfertigt in der ZEIT die zeitgemäße Vernarrtheit in Vergangenheit und Gegenwart mit der begründeten Angst vor der Zukunft.

Derweil profitieren die oberen Zehntausend mehr denn je von den Verhältnissen. Damit setzt sich Hans-Christian Lange in einem Buch auseinander, aus dem ein Auszug über die neue Kaste der unantastbaren Oligarchen bei Telepolis zu lesen ist. Ebenda geht es auch um die Opfer des Klassenkampfs von oben: Carl Christian Rheinländer sen. kritisiert, dass über Solidarität und Nebenwidersprüche diskutiert wird, während Armut und damit verbundene Diskriminierung auch in Deutschland jedes Jahr Hunderttausenden das Leben raubt.

Klassenbewusstsein macht im Übrigen auch nicht glücklich: Der Freitag lobt Sobo Swobodniks filmischen Essay „Klassenkampf“, der die Härten des sozialen Aufstiegs durch Bildung erörtert:

 

Die Welt und du

Ralf Konersmann hat ein Buch darüber geschrieben, wie der Welt das Maß abhanden kam und dieses durch das Messen ersetzt wurde: Der Tagesspiegel rezensiert die Generalkritik an der quantifizierten Moderne. Eine Anleitung zum planetaren Denken von Frederic Hanusch, Claus Leggewie und Erik Meyer wird bei Spektrum vorgestellt.

Das Oxymoron „grünes Wachstum“ dekonstruiert George Monbiot im Freitag, indem er an ausgewählten Beispielen zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt und wir von fast allem zu viel machen. Mit „Der wilde Wald“ von Lisa Eder und „Das Tagebuch einer Biene“ von Dennis Wells kommen zwei Naturdokus in die Kinos, die laut taz das Verhältnis zwischen Mensch und Natur mit opulenten Bildern aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die ZEIT ist – Stichwort Verhältnis Mensch und Natur – irritiert, dass eine allwissende Insektenerzählerin die Biene spricht:

Hilal Sezgin beschließt ihre FR-Reihe „Unter Tieren“ mit einem Ausblick auf das nach wie vor vernächlässigte Thema Tierethik und Matthias Warkus erklärt bei Spektrum, dass es neben moralischen auch ganz pragmatische Gründe gibt, Naturschutz als Selbstschutz zu verstehen. Der Daoismus hat das schon vor Jahrtausenden verstanden: Heiner Roetz beschreibt in der FR den daoistischen Sarkasmus als Methode, um damit umzugehen, dass die Menschen wider besseres Wissen und ihr eigenes Interesse handeln.

 

Frühere Zeiten

Zwei neue Bücher über die Romantik von Rüdiger Görner und Stefan Matuschek werden in der SZ besprochen und beide taxieren den Beginn der europäischen Moderne auf das Jahr ohne Sommer 1816, in dem sie sich schon längst nicht mehr auf Weimar beschränkt. Von der Romantik bis zu Heidegger reicht der Bogen von Bernd Wittes Buch über „Martin Buber und die Deutschen“, das die FR rezensiert.

Apropos: Es ist wohl wieder Zeit für eine Heidegger-Biographie, dachte Lorenz Jäger und schrieb sie. Die SZ freut sich bei allen Mängeln über den flotten Stil des früheren FAZ-Feuilletonisten, der die Primärlektüre nicht ersetzen will. Der Tagesspiegel geht strenger mit Jägers Werk um und wirft ihm vor, der Selbstinszenierung Heideggers auf den Leim zu gehen. Hans Ulrich Gumbrecht dagegen freut sich in der NZZ, dass mit Jägers Biographie endlich wieder nur über Heideggers Denken gesprochen werden darf. Eine Rezension für Heidegger-Hasser und Adorno-Freunde gibt es bei Glanz & Elend, wo übrigens auch die Langfassung von Michael Helmings Rezension von Oswald Spenglers politischen Nachlassschriften aus LW75 zu lesen ist.

Gustav Klimts „Philosophie“ in schwarzweiß z.B. als Desktop-Hintergrund.

Noch biographischer geht Herfried Münkler in seinem Buch über Marx, Wagner und Nietzsche vor, das im Tagesspiegel besprochen wird. Gustav Klimts Bilder für den Festsaal der Wiener Universität – darunter die ikonische Darstellung der Philosophie – verbrannten im Zweiten Weltkrieg und wurden nun von einer KI in Farbe wiederhergestellt, wie in der FAZ zu lesen ist. Nuja, manchmal ist schwarzweiß schöner.

 

Gut zu lesen

Vor 100 Jahren erschien Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“. Christoph Lüthy erinnert in der NZZ an das widersprüchliche Epochenwerk und seine Lektionen für die kommunikative Gegenwart.

Jürgen Kaube vollbringt in der FAZ die Glanzleistung, Robert B. Brandoms vierzig Jahre währende Arbeit an einem 1.200 Seiten umfassenden Buch über Hegels „Phänomenologie des Geistes“ in unter 8.000 Anschlägen zu würdigen. Zugänglicher dürfte Wilhelm Vossenkuhls Büchlein über den Unsinn sein, das den Quatsch und das Herumalbern als Anfang aller Philosophie nicht nur für Kinder empfiehlt und im Tagesspiegel vorgestellt wird. Apropos: Eine Besprechung des aktuellen Lichtwolfs zum Thema „Fug“ gibt es nebenan bei 1/2_Kapitel’s Bücherbums.

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