Links der Woche, rechts der Welt 16/20

Systemrelevanz und nacktes Überleben

Allenorts ist nun von „systemrelevanten Berufen“ die Rede, deren Lobpreis bei unterdurchschnittlicher Bezahlung Luca Di Blasi in der ZEIT die Sturn runzeln lässt. Kennen wir den Begriff nicht aus der Finanzkrise 2008? Hier wie dort ist es nötig, einige Überzeugungen in Frage zu stellen. (11.04.20)

 

Unfallrisiken auf den Datenautobahnen“

Die taz bringt einen Aufsatz, den Paul Virilio 1995 in der Le Monde diplomatique über das Internet geschrieben hat – und dem ein Vierteljahrhundert später nichts wesentlich mehr hinzuzufügen ist, denn es sind alle kritische Aspekte im Zusammenhang mit „Cyberspace“ und „Datenautobahnen“ benannt. (11.04.20)

 

Solidarität mit Abstand

Christian Bermes setzt sich in der FAZ mit den Diagnosen u.a. von Agamben und Žižek auseinander, die ihm doch allzu frei mit der sozialen Bedingtheit des Menschen umgehen. Nähe und Distanz sind nämlich kein Gegensatz, sondern dialektisch verwoben, wie bei Simmel und Plessner nachzulesen ist. (12.04.20)

 

Hohes Informationsfieber

Wir verdanken Peter Pomerantsev den Begriff des „postfaktischen Zeitalters“, den er bei der Analyse der Desinformationskampagnen (und des Willens, Unfug zu glauben) prägte, die zu Trumps Wahlsieg beitrugen. Für die ZEIT unterhält sich Dirk Peitz über die gegenwärtige nächste Eskalationsstufe in der massenmedialen Erosion einer gemeinsamen Realität. (16.04.20)

(Photo: Tama66, Peter H, pixabay.com, CC0)

Bücher

Weniger systematisch als anekdotisch hat Thomas Knoefel in seinem Buch den Boom des Okkultismus in der Moderne nachgezeichnet und die NZZ findet das spannend genug. +++ Stefan Schweiger hat kulturkritische Bemerkungen zu Plastik, Kunststoff und Pseudonachhaltigkeit in einem Buch versammelt, das bei Spektrum rezensiert wird. +++ Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ von 1986 ist der FAZ ein Buch der Stunde, in der die Risiken zwischen alt und jung ungleich verteilt sind. +++ Die SZ empfiehlt dagegen den 2008 edierten Briefwechsel zwischen Sophie Scholl und Fritz Hartnagel als Quarantäne-Lektüre. +++ Martha Nussbaum macht in ihrem neuen Buch eine ideengeschichtliche Inventur des Würdebegriffs seit der Antike und Spektrum empfiehlt das Buch allen politischen Theoretikerinnen. +++ Der Kulturtechnik des Lesens hat Ulrich Johannes Schneider ein Buch gewidmet, das sich an künstlerischen Lektüredarstellungen orientiert und darob von der FAZ sehr gelobt wird. +++ Thomas Vašek geht in seinem Buch der Frage nach, ob und wie Martin Heidegger durch die apokryphen Schriften Carlo Michelstaedters beeinflusst wurde, und die SZ staunt. +++ Was wollte Paul Celan bei Heidegger? Der Tod des Dichters von eigener Hand jährt sich diese Woche zum 50. Mal und die FR bespricht die Bücher von Hans-Peter Kunisch und Wolfgang Emmerich über das seltsame Verhältnis zwischen dem Nazi-Philosophen und dem dichtenden Überlebenden, während die ZEIT umfassend Leben, Werk und fünf biographische Neuerscheinungen zum Todestag Celans vorstellt.

 

Bild und Ton

Der BR hat „Dahoam is dahoam“, der RBB bekommt „Warten auf‘n Bus“: Die taz ist aber überhaupt nicht überzeugt von dem Konzept, „Warten auf Godot“ mit „Dittsche“ an einer brandenburgischen Bushaltestelle zu vermählen. (Faszinierend indes, wie gleich die Provionz überall in Germany aussieht!)

Darüber, wie eine Ethik des Helfens aussehen könnte, sprechen Susanne Boshammer und Jürgen Wiebicke im Philosophischen Radio des WDR 5. Im DLF kommt heute die Lange Nacht über Käthe Kollwitz und morgen geht es bei Essay und Diksurs um die pseudoreligiösen Muster der Klimaschutzbewegung.

 

Die Unordnung der Dinge

Journalismus ist in Krisenzeiten wichtiger als ohnehin, weshalb Marc Brost und Bernhard Pörksen in der ZEIT ihren Wunschzettel für die Corona-Berichterstattung formulieren. +++ Die Krise als Chance: Telepolis unterhält sich mit Karl Reitter darüber, ob der Pandemie das bedingungslose Grundeinkommen folgt, und mit Philipp Dapprich darüber, ob der Pandemie die Planwirtschaft folgt. +++ Der Tagesspiegel empfiehlt mit Kafka und Blumenberg, es mal auszuhalten, „völlig still und allein“ in den eigenen vier Wänden zu verharren. +++ Die überraschenden Ergebnisse einer Studie zu „Alltagserfahrungen der Wert- und Geringschätzung“ werden in der FAZ vorgestellt.

 

Berichte aus der Akademie

Die rechtspopulistische Wissenschafts- und Wahrheitsverachtung bekommt in der Pandemie ihre Quittung und Lars Jaeger hofft bei Telepolis, dass das auch in der Umweltschutz- und Klimapolitik zu einer Besinnung führt. +++ Saubere Luft dank Lockdown? Die SZ mahnt, dass es mit der Luftverschmutzung doch etwas komplizierter ist. +++ Die FAZ unterhält sich mit dem Klimaforscher Jochem Marotzke über die Bewohnbarkeit der Erde im Jahr 2100 und die Unsicherheit solcher Prognosen. +++ Raumfahrt ist nicht vergnügungssteuerpflichtig: Konrad Lehmann erinnert bei Telepolis an die unmenschliche Zumutungen, die eine Reise durchs All mit sich bringt. +++ Thomas Metzinger und Mark Coeckelbergh zählen im Tagesspiegel die Schwachpunkte des EU-Weißbuchs zur Künstlichen Intelligenz auf, derweil Algorithmen bereits selber programmieren, wie Spektrum meldet. +++ Die SZ unterhält sich mit der Psychologin Brigitte Holzinger über Schlafen und Träumen in Krisenzeiten.

 

Trotz Philosophie

Artur Becker rät in der NZZ dazu, in der Corona-Krise nicht auf lebende Philosophen zu hoffen, sondern die toten zu lesen, und Giorgio Agamben sieht in der gleichen NZZ den dünnen Firnis der Zivilisation auf- und die Demokratie zusammenbrechen. +++ Achille Mbembe soll den Holocaust relativiert haben. Die FAZ überprüft, was an den Vorwürfen des Antisemitismusbeauftragten dran ist. +++ Anton Wilhelm Amo wurde Anfang des 18. Jahrhunderts aus Afrika nach Wolfenbüttel verschleppt und verteidigte 1734 seine Dissertation über die Leib-Seele-Problematik. Die taz berichtet über die Ausstellung des Braunschweiger Kunstvereins zu seinen Ehren. +++ Die WELT ärgert sich, dass Blaise Pascal durch ungenaues Zitieren (z.B. hier) zum Vordenker aller Stubenhocker gemacht wird. +++ Warum eigentlich kommt einem der Hinweg länger vor als der Rückweg? Die SZ berichtet über neueste Theorien zum Zeitempfinden. +++ Otfried Höffe sitzt in einer Corona-Expertenkommission und erklärt im FR-Interview, welche Philosophen bei den gegenwärtig nötigen Güterabwägungen helfen. +++ Zu den prominenten Opfer von Covid-19 zählt der Mathematiker John H. Conway, dessen Ableitung der gesamten Mathematik aus dem Nichts in LW20 vorgestellt wurde und dem Clemens Setz in der ZEIT einen Nachruf widmet. +++ In seiner Spektrum-Kolumne erinnert Matthias Warkus an die Tugend der kommunikativen Zurückhaltung, wie Johannes von Salisbury sie gelehrt hat.

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