Links der Woche, rechts der Welt 29/18

Rechtsseinsphilosophie und Holocaust?

Die Debatte um den Antisemitismus in Martin Heideggers Notizen ist drei Jahre her. Nun ist ein Dokument aufgetaucht, das Heideggers Mitwirkung an den Nürnberger Gesetzen belegen soll. Kaveh Nassirin beschreibt in der FAZ ausführlich, worum es geht und was an der Sache dran ist. (15.07.18)

 

Scham und Geheimnis

In Sozialen Medien ist das Scherbengericht Usus, wie Eduard Kaeser beobachtet und sich in der NZZ mit Konformismus, Schamlosigkeit und Beschämung auseinandersetzt, deren Verhältnis in Zeiten beschleunigter Allgegenwart neu austariert gehört – mittels Besinnung auf gute alte Zeiten. (16.07.18)

 

Was will das Vernunftwesen Trump?

Trotz Wahn und Idiotie ist der Mensch ein rationales Wesen, weil er auch gegen widrige Umstände nach Klarheit strebt, schreibt Anton Hügli in der NZZ. Und doch scheitern wir selbst an minimalen Ansprüche an ein Vernunftwesen, was den Verdacht nährt, dass der Wille zur Selbsttäuschung so stark ist wie der Widerwille gegen das Getäuschtwerden. (16.07.18)

 

Kann man das wollen?

Vergangene Woche hat die ZEIT für Aufregung gesorgt, weil sie die Pflicht zur Rettung aus Seenot zur Debatte gestellt hat. Der klügste Text in eskalierenden Diskursgewittern stammt wie so oft von Dietmar Dath, der in der FAZ aufschreibt, worum es in dieser Debatte geht und gehen kann. (17.07.18)

 

Köder, Aufmerksamkeit, Einfluss

Frederic Jage-Bowler verfolgt im Tagesspiegel das Unwesen, das neurechte Trolle im Internet treiben, auf das Culture Hacking der 1970er und weiter bis zu dadistischen Interventionen vor 100 Jahren zurück. (17.07.18)

 

Schlechter als 2 ist wie Durchfall

Für die FAZ unterhält sich Philipp Frohn mit dem Bildungsforscher Thomas Gaens über die (mutmaßliche) Inflation von Bestnoten und über die Schwierigkeiten der Benotung überhaupt, die darüber hinaus gehen, Qualität in Quanten zu packen. (17.07.18)

 

Philosophen zu Handwerkern

Eine Akademikerschwemme rollt über Deutschland hinweg und Julian Nida-Rümelin plädiert im Tagesspiegel dafür, die massenhafte Einschreibung endlich durch robuste bildungspolitische Maßnahmen einzuhegen – und die berufliche Bildung mindestens so ernst zu nehmen wie die akademische. (18.07.18)

 

Zauberlehrlinge am Werk

Wenn man den Mars mit Terraforming bewohnbar machen könnte, sollte sich doch auch die Erde mittels Geoengineering vorm Klimawandel retten lassen. Gerhard Matzig beschäftigt sich in der SZ-Reihe zum Anthropozän mit der Machbarkeitshybris und der Frage, wie man in eine Umwelt eingreifen soll, in die ohnehin ständig eingegriffen wird. (18.07.18)

 

Unvermessen, verschmäht, zurückgewiesen

Entsteht der Rechtspopulismus aus der Enttäuschung über die uneingelösten Versprechen einer Internetgesellschaft? Diese These wagt Martin Hecht in der FR. Im „Zeitalter der All(ver)messbarkeit des Sozialen“ hat man jederzeit die eigene Irrelevanz und das glückliche Erfolgsleben anderer vor Augen und kann niemandem die Schuld dafür geben. (20.07.18)

 

Abschaffung von Freiheit und Nation

Nils Markwardt beschäftigt sich in der ZEIT mit der europäischen Abschottungspolitik und denkt u.a. anhand von Wendy Browns Buch über Mauern (siehe unten) darüber nach, was sie über den symbolischen Politikstil verrät und mit den Insassen der Festung Europa macht und wie sie ihre vermeintlich hehren Motive konterkariert. (20.07.18)

 

Kunst und Künstliche Intelligenz

Hans Ulrich Obrist bringt Kunst und Wissenschaft miteinander ins Gespräch. In der NZZ dokumentiert er einige dieser Auseinandersetzungen zum Thema Künstliche Intelligenz. Um diese zu verstehen, muss die Forschung sich künstlerischer Mittel bedienen, wie auch die KI selbst zum künstlerischen Mittel werden kann. (21.07.18)

(Photo: jill111, Jill Wellington, pixabay.com, CC0)

 

Bücher

Die WELT ist zufrieden mit Axel Honneths nationalem Blick in seiner europäischen Ideengeschichte der Anerkennung. +++ Das bin doch ich! Der Tagesspiegel bespricht Johannes Franzens Studie über „Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960-2015“. +++ Die NZZ lobt Wendy Browns hellsichtiges Buch über Mauern als Souveränitätsersatz, der die Probleme verschärft, die er fernzuhalten verspricht. +++ Die ZEIT empfiehlt die aktuelle Ausgabe der Hamburger Zeitschrift „Mittelweg 36“ zum Thema „Flucht und Migration“. +++ Der Standard runzelt die Stirn über das neueste Werk des „Propheten des Niedergangs“, Michel Onfray, und auch die SZ findet in seiner Darstellung der finalen Krise des Abendlands nichts als Klischees. +++ Reichtum verbieten? Die ZEIT staunt, wie der Wirtschaftsethiker Christian Neuhäuser mit dem Würdebegriff den „Reichtum als moralisches Problem“ (so der Buchtitel) aufweist. +++ Die taz unterhält sich mit Luc Boltanski und Arnaud Esquerre über ihr neues Buch, das die alleraktuellste Erscheinungsform des Kapitalismus beschreibt. +++ Oliver Schlaudt hat ein Buch über „Quantifizierung im Neoliberalismus“, das damit verbundene „Regime der Effizienz“ und die Zwangskommensurabilität von allem und jedem geschrieben, das die NZZ empfiehlt, obwohl es keinen Ausweg kennt.

 

Radio

Über soziale Gerechtigkeit unterhalten sich diese Woche Wilfried Hinsch und Jürgen Wiebicke im Philosophischen Radio des WDR 5. Im DLF gibt es heute Abend die Lange Nacht über die Cantautori im Bella Italia der 1960er- und 1970er, hach! Morgen früh rät Dirk von Gehlen bei Essay und Diskurs dazu, im digitalen Leben mehr Ratlosigkeit zuzulassen und sich nicht andauernd zu überfordern und mittags kommt das Philosophiemagazin Sein und Streit, dessen Themen noch nicht feststehen. Ganz anders ist das bei Sein&Zeit-Podcast, der sich Paragraph für Paragraph durch Heideggers Buch arbeitet und inzwischen bei § 76 („Ursprung der Historie aus der Geschichtlichkeit“) angekommen ist.

 

Das Weitere und Engere

Jeden Sommer wird im Feu über die öffentliche Rolle der Intellektuellen debattiert. Fritz Breithaupt und Martin Kolmar werben in der ZEIT bei ihresgleichen dafür, sich selbst als Autorität ernstzunehmen, Daniel Hornuff hält gar nichts davon, als Intellektueller dicke Backen zu machen. +++ Diese Woche machte die Meldung die Runde, „Raubverlage“ würden in „Pseudojournalen“ „Fake Science“ produzieren und Robert Gast warnt bei Spektrum davor, mit solch übermäßiger Skandalisierung der Wissenschaft mehr zu schaden als zu helfen. +++ Derridas mit dem Begriff der différance anno 1968 erfolgte Absage an die Selbstidentität wurde von der Neuen Rechten gekapert, wie die NZZ rekapituliert. +++ Eine Langzeitstudie belegt die Ausbreitung und Radikalisierung des Antisemitismus im Internet, wie die FAZ berichtet; vgl. hierzu den Nachklapp zur Bonner Attacke auf Yitzhak Melamed in Brian Leiters Blog. +++ In der Reihe „Was wäre, wenn?“ behandelt Brandeins das Szenario völlig offener Grenzen – mit einigen interessanten Fakten, die in der übergeigten Migrationsdebatte nie vorkommen. +++ Aufsteiger leiden besonders häufig am impostor syndrome, wenn sie einer Minderheit angehören oder einen Migrationshintergrund haben wie Dilek Güngör, die sich in der ZEIT damit auseinandersetzt. +++ Matthias Warkus behandelt in seiner Spektrum-Kolumne das Trolley-Problem und welche Rolle die Art spielt, wie das Dilemma formuliert wird. +++ Einige planschen, andere ertrinken. Die FR wundert sich, was ein Bademeister denn mit Martin Heidegger zu schaffen hat, und die WELT lobt das Freibad in seiner Kulturgeschichte als „Ausdruck sozialen Fortschritts“ und erfrischenden „Luxus für alle“.

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