Mein Fremder, sein Bekannter

Fremdheit als (un)vertrautes Phänomen zu bezeichnen, ist ein nur scheinbar ironischer Kniff, der Lust machen soll auf das, was es über den Begriff des Eigenen verrät.

von Timotheus Schneidegger

 

In der Philosophie ist es nicht unumstrittener Usus, im Ringen um einen Begriff Zuflucht bei seinem Gegenwort zu suchen. Fragen wir nach dem Fremden, schauen wir also zunächst, was es mit dem Eigenen auf sich hat. Das Eigene ist das, was einem gehört, wohin man gehört und was zu einem gehört. Wem käme da nicht ein Ohrwurm in den Sinn!

Marianne Rosenberg singt: „Er gehört zu mir / wie mein Name an der Tür.“ Sein Name wird im Schlager nie genannt, weiß Rosenberg doch von Lohengrin oder vom Rumpelstilzchen, welch ungeheure Macht über eine Person zu erlangen ist, indem man ihren wahren Namen kennt.

Kennenlernen wird nicht zu Unrecht als Mittel gegen Fremdheit empfohlen. Sie bringt diese zum Verschwinden, ohne uns über das zu belehren, was sich nach der Vorstellungsrunde scheinbar erledigt hat. Der Mann – ist’s der gleiche, um den Rosenberg mit einer Marleen streitet? – bleibe unbenannt, auf dass das Fremde an ihm bekannter werde!

Rosenbergs Schlager verschleiert mit einer Präposition die Verhältnisse, die schon im nächsten Vers wieder offenbar werden. Nur dem Metrum ist zu verschulden, dass es nicht gleich heißt: „Er gehört mir.“ Die Sängerin erklärt sich zur Eigentümerin des unbekannten Er. Die Juristin aber weiß um den Unterschied zwischen Eigentum und Besitz. § 903 BGB bestimmt Eigentum als Herrschaft einer Person über eine Sache, mit der die Eigentümerin nach Belieben (innerhalb der Grenzen der Legalität) verfahren und „andere von jeder Einwirkung ausschließen“ kann, wie Wikipedia erklärt. Sofern Rosenberg es ihrem Mann nicht untersagt, berufstätig zu sein, „verleiht“ sie ihn an seinen „Arbeitgeber“, der dann in Besitz von dessen Arbeitskraft gelangt. Tatsächlich aber hat er mehr als nur das, wenn der Chef bekundet: „Er ist mein Angestellter.“ Vielleicht darf der Mann auch mal kegeln gehen, dann ist er „mein Kegelbruder“.

Die Einwände sind berechtigt: Gerade einer Juristin ist eine Person alles andere als eine Sache. Zudem ist „mein Freund, mein Angestellter, mein Kegelbruder“ die Abkürzung für „Er ist mir ein Freund, Angestellter, Kegelbruder.“ – eine der Alltagssprache zu umständliche Dativkonstruktion, die laut Duden „allgemeiner ausdrückt, dass jemandem etwas zur Verfügung steht, aber offen lässt, ob es typischerweise zu ihm gehört“; weshalb Rosenberg es ausdrücklich klarstellt.

Doch es ist fraglich, ob ihr Anspruch auf den Unbekannten ebenso wie die zunächst einleuchtende Losung „Mein Körper gehört mir!“ mehr als nur Behauptung sein kann. Man muss nicht bis zu Pornostars wie Lolo Ferrari oder Cora Wosnitza blicken, die in ihren Körpern ihr Kapital sahen und schließlich die x-te Brustvergrößerung nicht überlebten: Körper werden als Menschenmaterial verheizt, in der Prostitution verkauft, neoliberal optimiert und biopolitisch reglementiert. Wir sind Eigentümer unseres Körpers, meist aber nicht Besitzer.

 

Die Unverfügbarkeit

Wie wenig wir über unseren Körper als Eigentum verfügen können, zeigt sich in der Krankheit. Sie ist nur ein Beispiel der Unverfügbarkeit, an der der Mensch nach Andreas Steffens’ „Ontoanthropologie“ überall krankt: Dass der Mensch über Vernunft verfüge, ist oft genug auch nicht mehr als Behauptung, und selbst, wo sie mal zutrifft, heißt das nicht, einen Lebenslauf zu haben bedeute, auch über einen solchen zu verfügen; wird er doch, wie der Weltenlauf insgesamt, vor allem von Zufällen und Sachzwängen beherrscht.

Da ist es verlockend, die Vernunft für unzuständig zu erklären und stattdessen auf die Ahnung eines Geschicks zu setzen. Wenn Heidegger um die aus der Unverfügbarkeit herausgeklaubte Fuge (siehe LW75) sein tiefsinniges Tamtam macht, dann in der stillen Hoffnung darauf, es möge sich doch noch ein heimlicher Kosmos (κόσμος = „Ordnung“) offenbaren, nach dessen Regeln sich alles ineinanderfügt. Sie zu erahnen, ihnen zu gehorchen und zu entsprechen hieße sich zu fügen und so, wenn einem schon nichts verfügbar ist, doch wenigstens ins Ganze zu gehören.

 

Das Abweichende

Indes lässt sich das Unverfügbare weder gern zähmen noch mit solchen Trojanischen Pferden des Sinns bescheißen. Wo man es in den Begriff zu kriegen glaubt, entweicht es und kehrt anders wieder. Das Andere als das Fremde ist immer in der Mehrheit und damit eine Herausforderung der Normen. Deren populärste ist die Heteronormativität, also die Überzeugung, Menschen gehörten ab Geburt entweder dem einen oder dem anderen biologischen Geschlecht an, und normal sei, ab der Pubertät vom jeweils anderen sexuell angezogen zu werden, alles andere deviant bis pervers. Die nicht nur in osteuropäischen Staaten grassierende Homophobie ist mehr als die Angst von bestimmten Männern, so behandelt zu werden, wie sie mit Frauen umgehen. Es ist auch die Furcht vor der Abweichung, hier vor Lebens- und Liebesgemeinschaften, die nicht aus Mann und Frau bestehen, verbunden mit der Sorge, solche Modelle könnten mehr Glück versprechen als das Sakrament der Ehe, Eckstein des Patriarchats.

Jeder braucht gelegentlich einen buchstäblichen und metaphorischen Tapetenwechsel. Möbelhaus, Swingerparties und Fremdenverkehr leben davon, ontologisches Fernweh in verträglichen Dosen zu stillen: Die neue Inneneinrichtung steht im gleichen Haus, die Fremde als Ort bzw. Geschlechtspartnerin macht ihrem intimen Besucher erfahrbar, was es heißt, ein Fremder zu sein – aber mit Rückfahrkarte ins sichere Vertraute, das heimische Bett.

Dem metaphysisch Obdachlosen ist das Außerordentliche und Ungewohnte nicht unheimlich, denn da ist er zu Hause. Das Fernweh treibt so manchen vor die Tür, an der sein Name steht, und es ist in Zeiten des Massentourismus billig geworden, dies als Flucht vor sich selbst zu pathologisieren. Adam Sandler gibt sich als Reisevermittler in einem SNL-Sketch alle Mühe zu betonen, welche Dienstleistungen Romano Tours erbringen kann („Sie zu einer Weinprobe in die Toskana bringen.“) und welche nicht („Ändern, warum Sie trinken und wie Sie sich im Suff verhalten.“).

Sharing is caring und wer sowohl stolz auf das Eigene als auch sich seines Eigentums sicher ist, gibt es leihweise gern her. Bemerkenswert ist, wie oft Autochthone den westlichen Besucher fragen, woher er kommt, wie es ihm hier gefällt und ob er schon einmal von berühmten Landsleuten gehört hat; dass kein Deutscher einen Flüchtling oder Touristen fragt, wie ihm Karneval, Kartoffelsalat oder das Rheinland gefallen, liegt auch an der stillen Scham darüber, dass der bekannteste Deutsche Österreicher war. (Beethoven natürlich, an wen haben Sie denn gedacht?)

(Photo: Olichel, Olya Adamovich, pixabay.com, CC0)

Freilich macht es überall auf der Welt einen Unterschied, ob der Fremde ein Gast ist oder gekommen, um zu bleiben. Die Bewohner der Ödnis teilen sie das wenige, was sie haben, mit dem Durchreisenden nicht nur um seinen Aufenthalt zu verlängern, sondern auch um ihr kulturelles Selbstbewusstsein zu demonstrieren, das Fremde gut verträgt. Die Gesellschaften des globalen Nordens sind in jeder Hinsicht umgekehrt beschaffen.

Jacques Derrida wies in seinen Vorlesungen „Von der Gastfreundschaft“ darauf hin, wie eng Hospitalität und Hostilität, der Gast und der Feind (sowie das Opfer, vgl. LW70), in unseren Breitengraden nicht nur sprachlich zusammenhängen. Absolute Gastfreundschaft bedeute, die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden aufzugeben und alles, wirklich alles auf- und hinzunehmen.

Die Furcht vor Einbruch ist die Ableitung der Urangst, das Fremde könne die Abschottung überwinden und ins Heimliche eindringen. Das vom Stabmattenzaun umzirkelte Einfamilienhaus mit robotergemähtem Rasen ist das architektonische Gegenstück des soldatischen Mannes, der seinen Körper mit Marschstiefeln, Stahlhelm und Uniformgurten zusammenzuhalten versucht. Theweleits Ausführungen über die Weininger-lesenden Freikops-Faschos, deren Angst vor Auflösung in der „roten Flut“ von Antisemitismus und Misogynie gespeist wurde, gelten auch für die heutigen Incels, Proud Boys und Super-Straight-Spaßvögel; in ihrer Lautstärke erfüllen sie ihre affirmative Funktion, jeder Nonkonformität einen pathologischen Ruch zu verleihen und vom Keller des Hotels Mama aus – zwischen Ballerspiel und Pornhub – gegen die demokratische Öffentlichkeit anzuscheißen, die dem Subjekt ebenfalls nie ganz durchschaubar und verfügbar ist. Das macht die Angstlust vor dem Aufgehen in der durcheinanderquasselnden Masse anstrengend genug; umso schlimmer für diejenigen, die dort überall dem Anderen begegnen, das Gleichheit beansprucht!

Die Tiefenpsychologie des 20. Jahrhunderts hat sich nicht erledigt, nur seine Form gewandelt, und beides brachte HR Giger in schaurig-schönen Bildern und Skulpturen zum Ausdruck. Das von ihm entworfene Alien sollte das männliche Kinopublikum mit dem Schrecken von Vergewaltigung und ungewollter Schwangerschaft konfrontieren: Das Opfer muss die Larve des Feindes austragen, die dabei auch physiognomische Eigenschaften seines Wirts annimmt und schließlich bei der brachialen „Geburt“ aus dem Innern hervorbricht. (LW47, LW66)

Seit bald zwei Jahren macht die Welt die kollektive Erfahrung der Unverfügbarkeit, der auch die mächtigsten Staaten ausgeliefert sind. Nicht zu Unrecht fürchtet die Einzelne das Eindringen eines Fremdkörpers, der sich im menschlichen Innern noch nicht so gut auskennt wie unsere jahrtausendelangen viralen Begleiter und darum darin alles kaputtschlägt. Die anderen fürchten die ebenso neuartigen Schutzmaßnahmen: „Das Impfen lädt sich möglicherweise mit solchen uralten Konflikten [der Fremdbestimmung] auf, symbolisiert das Eindringen von etwas Fremdem in unsere Körper. […] Meist obsiegt schließlich das Fremde, das nach und nach als das Eigene empfunden wird. Aber es bleibt ein vages Gefühl der Selbstentfremdung und eine meiste namenlose Wut. Diese Wut erhält durch Verschwörungstheorien einen Namen und eine Adresse“, wie Götz Eisenberg jüngst mutmaßte.

 

Die Fremdbestimmung

Namen und Adresse hatte die Fremdbestimmung freilich vorher schon. Elizabeth Anderson machte die Beobachtung, dass wir uns in der Arbeitswelt einer Herrschaft  unterwerfen, die wir uns sonst als gelernte Demokraten nie gefallen lassen würden. „Mein Angestellter“ mag eine Person und darum weder mein Eigentum noch Besitz sein – verfügbar zu sein hat er mir aber doch. Auch wenn in Tausend Managementseminaren gelehrt wird, die Untergebenen durch Lob und Anerkennung effektiver bei der Stange zu halten als durch Einschüchterung und Überwachung: Der „Arbeitgeber“ ist eine private, d.h. ungewählte und nicht abwählbare Regierung, deren Verfügungsgewalt de jure, oft aber nicht de facto eingeschränkt ist. Das erscheint vernünftig, weil Arbeitsteilung nunmal koordiniert werden muss und die Konkurrenz nicht schläft. Der freie Markt hält sein Versprechen, jeden zum Glück schmiedenden Herren übers eigene Schicksal zu machen, nur im Einzelfall und lässt dem Rest die Wahl, in der Gosse zu landen oder die eigene Haut in die Gerberei zu tragen.

Vielen gelingt es, sich mit ihrer Arbeit zu identifizieren, um sie ertragen zu können. Wenn schon die greifbare Heteronomie eine rationalisierte Selbstverständlichkeit ist, dann gilt das umso mehr für die Erfahrung, mit der Arbeit, die man tagtäglich für einen Fremden zu seinen Bedingungen verrichtet, „eigentlich“ gar nichts zu tun zu haben – weder im Sinne Heideggers noch in dem des jungen Marx. Der nahm den ökonomischen Begriff der „Veräußerung“ in seinem lateinischen Original als „alienatio“ wörtlich und sah den Arbeiter nicht nur des Produkts und Mehrwerts beraubt, sondern der Gänze seiner Existenz. Ob im christlichen Abfall von Gott, im heideggerianischen Verfallen ans Man oder in kapitalistischer Verdinglichung – selten scheint der Mensch bei sich, eigentümlich und selbstidentisch zu sein. Er war es nie und kann es nicht sein. Vielmehr ist er als Subjekt einer Welt unterworfen, der er weder entkommen noch ganz angehören kann und die ihm immer fremder wird, je mehr er sich mit ihr beschäftigt. Erleichterung verschaffen da die narrischen Zeiten, in denen die unerreichbaren Identitäten maskiert und die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden – aber nur zum Spaß, damit nach Aschermittwoch alles bleiben kann, wie es war (vgl. Koll. Hieronimus’ Ausführungen in LW36).

Gesellschaft, Kultur und Zivilisation sind – Elias, Simmel und Freud wussten es vor über 100 Jahren – nur um den Preis des Unbehagens zwischen Distanz und Nähe, zwischen Zumutung und Geborgenheit zu haben. Freiheit und Autonomie sind dem Herdenwesen Mensch bloße Sehnsucht, bestenfalls regulatives Ideal. Doch wenn wir schon alleine sterben müssen, warum können wir dann nicht auch frei leben? Jack London und Henry David Thoreau, Chris McCandless und der Grizzly Man folgten dem Ruf der Wildnis, in der die metaphysische Einsamkeit unverstellt von sozialen Konstrukten ist und neben der Gefahr die Freiheit birgt. […]

 

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