Ungeschützter Grenzverkehr

2015 hat sich deutlich gezeigt: Frankreich ist nicht mehr das, was es vorher schon nicht war. Aber Charlie Hebdo hin, Bataclan her, der Deutsche hat sein Bild im Kopf, wenn er den Rhein passiert.

von Marc Hieronimus

 

Aaah, Frankreich: savoir-vivre, laisser-faire bei Rotwein, schönen Frauen, gitanes maïs … Selbst die Clochards sind drüben weniger stinkende Penner als illustre Lebenskünstler, die uns grauen Hamsterradgefangenen jeden Tag des Paris-Besuchs die vielleicht überhaupt nur hier erträgliche Leichtigkeit des Seins demonstrieren.

Die französische Hauptstadt ist die einzig lebenswerte, wenn auch gerade im „studentischen“ Eck um Sorbonne und Saint-Germain-des-Prés leicht hochpreisig; Qualität hat keinen Preis. Man lebt statistisch länger, wird durch den bloßen Zuzug schöner, erfolgreicher, reicher und findet buchstäblich alles in Paris. Will sagen: Besser gar nicht erst woanders suchen. Gleich einem wundervollen Magneten zieht die Stadt seit Jahrhunderten alles an sich, was man sich in den verstreuten Kulturhauptstädten Deutschlands erst mühsam zusammenreisen muss.

Der Pariser Dialekt ist nichts weniger als die Vollendung der schönsten Sprache des Universums. In den Nanosekunden nach dem Urknall wurde festgelegt: Es kann überhaupt keine schönere geben; eine Militärsprache wie das Deutsche: los!, raus!, schnellschnell!, Achhhtounggge! könnten ein, zwei Mutationen jederzeit kehliger und kerniger neu hervorbringen. Darum lernt der Durchschnittsfranzose auch keine Fremdsprachen und scheut sich vor einem noch so kurzen Aufenthalt im grauen Land jenseits des Rheins. Was sollte er dort auch wollen? Gegenüber dem raffinierten Glück daheim am Erdnabel der Lebensqualität rufen Direktheit, Pflichtbewusstsein, Disziplin des Nachbarn bestenfalls Erinnerungen an den Militärdienst wach, in Bayern haben selbst die Deutschen Verständigungsprobleme, und wenn schon schlechtes Wetter und deutscher Beton, dann doch lieber sechs Wochen Atlantikwall als ein verkürztes Wochenende Ruhrgebiet oder Berlin. Denn was gibt es noch in Deutschland? Meer und Berge hat der Franzose selber, Wälder stehen für ihn ganz nutzlos herum.

Die französische Flur verhält sich zur wilden oder wenig genutzten Wald- und Wiesenlandschaft mancher inkonsequent durchindustrialisierter Regionen Deutschlands wie der Krankenhausflur zum Holzboden eines alten Bauernhauses: Was in den Pflege- und Operationsanstalten der frische Geruch von Desinfektionsmitteln, sind in der Kulturlandschaft zwischen den französischen Provinzstädten die wie nirgendwo sonst so fortschrittlich eingesetzten Herbizide, Fungizide, Pestizide und der Duft schnittiger Cross-Motorräder, mit denen die Naturvernarrteren über die Felder rasen. Denn Frankreich ist neben Louis XIV., Haussmann und Baudelaire eben auch Elf-Aquitaine, Atomkraft und Paris-Dakar, also jung, modern und sauber.

(Illu: Marc Hieronimus)

Es ist aber der Alltag, der uns Deutsche träumen macht. Rundum glücklich machender Rotwein ist im Supermarkt schon ab 2,99 zu haben (im Weißwein sind einmal die Deutschen größer), Käse ist in Artenvielfalt, Würze und Gestank unübertroffen, und auswärts speist es sich ganz exzellent; nicht billig, nicht gesund, man wird auch nicht gerade satt, es schmeckt einfach, und darauf kommt es schließlich an. Wir biederen Deutschen halten noch altmodisch das Leitungswasser trinkbar, essen manchmal tagelang vom gleichen oder sogar selben traurig dunklen Brot mit Eigengeschmack und haben vor lauter Mülltrennerei und Überpünktlichkeit nicht die Geduld, vier Wochen auf ein bestelltes Buch zu warten.

Dabei können wir auch in puncto Effizienz noch viel vom Land der Menschenrechte lernen, besonders in der Aufzucht und Verwahrung der Menschen, die im Straßenbild nur stören. Wer zum Erfolg der Wirtschaft beitragen will, gibt sein Kind acht Wochen nach der Geburt morgens um acht in der Krippe ab, um es abends um sechs bzw. nach dem Abitur wieder abzuholen und an die Universitäten weiterzureichen. Damit es sich bei der Nanny für die Zeit nach Kindergartenschluss nicht schmutzig macht, sind die Spielplätze mit Gummi ausgelegt. Jugendliche, die sich boshaft hartnäckig dem Gesellschaftsmodell verweigern, finden in den französischen Justiz­voll­zugs­anstalten nicht immer einen Ausbildungsplatz, aber dank effektiver Raumnutzung doch ein hohes Maß an menschlicher oder zumindest körperlicher Wärme; es ist also nur konsequent, wenn der Staat seit Sarkozy gegen alle ewiggestrige Kritik von Seiten sogenannter Menschen­rechts­organisationen auch schon Dreizehnjährige in seine Obhut nimmt.

Ein anderes romantisches Projekt der letzten Legislaturperiode, die Wiederbelebung der in „Papillon“ besungenen Gewahrsamsinseln am Äquator, verrät sogar einen gewissen selbstbewussten Hang zur Zärtlichkeit gegenüber seinen Schutzbefohlenen. Auch die Senioren behindern nicht den sportlichen Straßenverkehr und können sich dank der vollzeitlichen Einbindung ihrer Kinder und Enkel in das geschäftige Ganze mit aller verdienten Ruhe den Freizeitaktivitäten der Altenheime widmen.

Zur Freizeit gehört in Frankreich auch der soziale Protest. Auf den von den Deutschen zugleich belächelten und bewunderten Demonstrationen („Die trauen sich was!“) fliegen munter-festlich Steine, Rauchbomben und Flaschen, und  Bauern verbrennen auch gerne mal ein lebendes Schwein. So stimmt der kleine Umzug gleich aufs Barbecue am Abend ein, wo es dann um die wirklich wichtigen Dinge Wein, Kultur und Frauen gehen kann. Connaisseur, Flaneur, Charmeur sind nicht umsonst französische Vokabeln; was sind dagegen Fachmann, Wanderer und Frauenheld? In Frankreich ist man auch frei von unseren Kranzabwurfritualen an den Gräueljahrestagen. Mit bösem Willen fände man sicher auch in der französischen Geschichte einiges zum Stänkern, aber jeder Thekenpsychologe weiß: Man muss stolz sein und vergessen können, alles andere gibt nur Komplexe wie womöglich den, dass beim Nachbarn irgendetwas besser sei.

Den Deutschen fehlt einfach die Leichtigkeit, dieses je-ne-sais-quoi. Natürlich haben auch Franzosen mal den Blues, aber dank der geschilderten Mischung aus Genuss und Effizienz gehen sie unendlich unverkrampfter damit um. Nirgends sonst auf der Welt werden mehr Upper, Downer, Antidepressiva und vermeintlich „harte“ Psychopharmaka genossen, schon die Kinder werden sanft an den Gebrauch der kleinen Helferlein herangeführt, und auch bei Cannabis und Alkohol gelten Holländer bzw. Engländer zu Unrecht als die größeren Genießer. Im Grunde aber bedeuten derlei Statistiken wenig. Lebensglück kann man nicht messen, wie spätestens jene obskure Studie von vor ein paar Jahren zeigt, die die Grande Nation darin auf Platz 60 bei Moldawien verorten möchte. Wo bitte liegt Moldawien? Die haben doch nichts verstanden – Frankreich ist ein Gefühl, eine Lebenseinstellung!

Wer als Tourist kommt, findet immer, was er sucht. Und wer hier lebt, hat es im Blut, kann es sich kaufen oder lässt es sich zur Not verschreiben. Oder wie man im Ruhrpott sagt: Woanders ist auch scheiße.

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