Sorge dich nicht – lese…

Sorgen hatte die Menschheit immer, denn Leben ist nun einmal Sorge. Seit Jahren scheint jedoch einen Trend zum „Sichsorgen“ oder „Sichsorgenmachen“ wahrnehmbar. Wenn dem so wäre, wäre das nicht irrational und absolut unphilosophisch?

von Michael Helming 

 

Weltfrieden, Wohlstand, Wirtschaft, Wetter – Sorgen machen kann man sich um wirklich alles, wenn man will. Das W habe ich hier willkürlich gewählt, denn mit beinahe jedem Buchstaben des Alphabets lassen sich unzählige Schlagworte beginnen, die uns anregen, Sorgenfalten, Gejammer, Anklage, Furcht und kollektive Panik herzustellen. Ob dieses „Sichsorgenmachen“ echt, berechtigt und nicht zuletzt auch sinnvoll ist, oder doch nur ein sich rekommandierendes Ritual gesellschaftlich-medial gedämpfter Langeweile am Sein, eine mit überdrehter Aufmerksamkeit und Unruhe abgedichtete ontologische Leerstelle, darüber gehört nachgedacht, denn das Sujet stellt nicht bloß die Effektivität des Menschen bei der Lösung seiner Probleme in Frage, sondern auch seine Befähigung zur Eudämonie.

Bewohner zivilisierter Weltregionen haben heutzutage definitiv weniger elementare Sorgen als in vergangenen Epochen. Doch anstatt damit glücklich zu sein, verwenden sie viel Zeit auf das „Sichsorgen“ oder das „Sichsorgenmachen“. Die Wortwahl deutet an: Es sind sehr eigene, irgendwie selbst hergestellte Sorgen. Können wir ohne die nicht leben? Sind sie mit ihrem beständigen Fokuswechsel – heute Terror und Umgangsformen, morgen Rechtsruck und Erderwärmung oder übermorgen Burnout und Arbeitslosigkeit – eigentlich Phantom oder Phänomen?

Freilich darf man Sorgen nicht mit jenen Problemen verwechseln, die hinter ihnen stehen und die stets auf irgendeine Weise Wahrheitsgehalt haben. Diese stellen Herausforderungen dar, die man angehen kann. Dabei können vernunftgesteuerte Debatten, ein Abgleich von Einsichten und Wissen, zur Vorbereitung konkreter Handlungen mitunter hilfreich sein. Wo man jedoch nicht Probleme angeht, sondern sich Sorgen macht, da gehen Fakten gern in diffusen Meinungen und Emotionen unter. Das „Sichsorgen“ ist lediglich ein Gefühl, eine Stimmung, keine Methode, weder Ansatz noch Stil.

 

Wesen und Ursprung der Sorge

Wenn ich an einen Stil denke, mittels dessen ein Autor seine Ideen und Eindrücke sorgsam mit denen seiner klassischen Vorläufer abgleicht, kommt mir Michel de Montaigne in den Sinn. Im ersten Buch seiner „Essais“ erwähnt er unsere Affekte, „die aus dem Bereich der menschlichen Wirklichkeit“, wie er sagt, „hinausfliegen“, wobei er ein Bonmot des Seneca zitiert, das auf Deutsch meist wie folgt wiedergegeben wird: „Unglücklich ist, wer sich um die Zukunft sorgt.“ Ein Gemeinplatz? Sorgen um Vergangenes sind unmöglich, doch inwieweit betreffen gegenwärtige Sorgen das Heute oder das Morgen? Zweifellos vergeht uns mit Sorgen das Lachen, der Lebensmut, wir kommen vor Sorgen nicht in den Schlaf, liegen mit ihnen wach. Wer Sorgen hat, mag Likör haben, doch er entbehrt auf jeden Fall der Ruhe und des Abstands (zuweilen auch des Anstands); er scheitert auf niedrigstem Niveau, an notwendigen Reflexionen. Wen Sorgen fesseln, der neigt dazu, sich mit ihnen vor der Wirklichkeit zu verstecken. Sorgen können sprichwörtlich krank und wahnsinnig machen. Manchen treiben sie regelrecht vor sich her, bis ins Grab, weil er es unter ihrer Last versäumt, sie abzuwägen, nach ihrem Wesen und Ursprung zu fragen. Will man etwas über Bord werfen, muss man es zunächst einmal fassen.

Verfolgt man die Wortherkunft der Sorge zurück, stößt man auf zweierlei indogermanische Quellen, nämlich zum einen auf den Verbalstamm „suergh“, der „sich um etwas kümmern“ bedeutet, und zum anderen auf den Verbalstamm „serg(h)“, welcher für „krank sein“ steht. Wen wundert es da, dass das Wort Sorge auch heute noch zwei Bedeutungen hat, die der Duden folgendermaßen definiert: Das „Bemühen um jemandes Wohlergehen, um etwas; Fürsorge“ wird dabei an zweiter Stelle genannt. Davor heißt es, Sorgen seien „(durch eine unangenehme, schwierige, gefahrvolle Situation hervorgerufene) quälende Gedanken; [ein]bedrückendes Gefühl der Unruhe und Angst“.

Der himmelweite Unterschied zwischen Unruhe und Angst auf der einen und fürsorglicher Mühe um etwas oder jemanden auf der anderen Seite leuchtet wohl jedem ein. Das Wort Sorge kann demnach grundsätzlich für zwei völlig verschiedene Sachverhalte gebraucht werden, entweder für Emotionen oder für Aktionen. Wenn wir nun den oben genannten Satz des Seneca im Original („Calamitosus est animus futuri anxius.“) lesen, wird klar, was der Stoiker sagen will, denn „anxius“ steht für „ängstlich, unruhig, besorgt, verdrießlich“ und „peinigend“. Es wäre ja auch schlimm, wenn Fürsorge unglücklich machte. Keiner täte sich mehr um Mitmenschen oder Probleme kümmern. Im Gegenteil schafft Fürsorge ein Gefühl des „Gebrauchtwerdens“, vermittelt Lebenssinn. Der Mensch ist glücklich mit ihn fordernden Aufgaben. Unglücklich dagegen, wer anstehenden (und mitunter nicht einmal selbst gewählten) Quests des Lebens ängstlich und zögernd begegnet. Das wusste schon Cicero, der im ersten seiner fünf Bücher „Über das höchste Gut und das größte Übel“ meint: „ein starker und erhabener Sinn [hält sich] frei von aller Angst und Sorge“. Im zweiten warnt er: „schon die Sorge, dass man elend werden könne, hebt das Glück auf.“

Da ist also tatsächlich noch nichts schlimmes passiert und trotzdem sind Gelassenheit und gute Laune futsch, völlig ohne Grund. Sartre stimmt zu: „Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht.“ Wer sich sorgt, tut dies demnach meist zu Unrecht. Gemachte Sorgen sind eine emotionale Fehllei(s)tung.

 

Überall Sorge im Buchregal

Der Sorge auf der Spur, durchstöbere ich meine Bibliothek, ziehe sorg- und wahllos Stichproben und lese, lese, lese… Bald gewinne ich den Eindruck: Zweifellos befassen sich alle großen Köpfe der Philosophiegeschichte auf irgendeine Weise mit den Sorgen der Menschen, doch sie selbst machen sich nie ernsthaft welche und raten uns auch davon ab, dies zu tun. Stoße ich auf das Wort Sorge, bedeutet es oft Fürsorge. Schon bei Platon wird fleißig Sorge getragen und für andere gesorgt. So trägt man im „Gastmahl“ unter anderem Sorge für die eigenen „Lebensverhältnisse“ und beim Gelage für genügend „Lobreden auf den Eros“. Im „Phaidon“ kümmert man sich um die Seele, im „Staat“ um Leib, Feldzüge, Hauswesen und Ämter. Wo es in seltenen Fällen doch um Sorge im Sinne bedrückender Gefühle geht, sind gleich elementare Übel wie Krankheit und Tod im Spiel, gegen die der Mensch wenig ausrichten kann. Platon schreibt im ersten Buch vom „Staat“: „Denn wisse nur, Sokrates, wenn man nahe daran ist, daß man glaubt sterben zu müssen, so wandelt einen Furcht und Sorge an über Dinge, an die man vorher nicht gedacht hat.“

(Photo: Michael Helming)

Aristoteles erwähnt Sorge ebenfalls meist als Fürsorge. So wirft er in „Nikomachische Ethik“ den „verschwenderisch Gesinnten“ vor, dass „ihre Sorge nicht die um das sittlich Gebotene ist.“ An anderer Stelle meint er: „nur wer Furcht hat ist hinterhaltig und versäumt eher die Sorge für die Wahrheit als die für seinen Ruf.“

Bei antiken Autoren wird Sorge getragen oder übertragen, auf etwas gerichtet oder auf etwas verwendet. Plotin weiß, dass die Seele mit „Sorge erfüllt“ sein kann, wie es in der vierten seiner „Enneaden“ heißt. Allerdings gewinnt er dem etwas Positives ab, denn: „das Nachdenken kommt erst dann in sie hinein“.

Augustinus bekennt zwar, eine Sorge nage an seinem Herzen, doch ist diese weder Angst noch Fürsorge, sondern, wie er sagt, Scham darüber, dass er „soviel Ungewisses auf eine Weise herausschwatzte, als wäre es gewiss“. Ohnehin wird in den „Bekenntnissen“, wenn ich richtig zähle, die Sorge lediglich viermal erwähnt. An weiteren fünf Stellen steht sie im Plural, begleitet von Adjektiven wie nagend, verzehrend oder zerreißend. Boethius geht ebenfalls sparsam mit Sorge um: „Die größte Sorge der Sterblichen ist auf die Erhaltung des Lebens gerichtet.“, stellt er fest und meint damit wohl ebenfalls eher Fürsorge, wobei er „der Sorge Zahn“ durchaus kennt, der des Lebenden nicht verschonet. Sorgen sind ihm ein Zeichen von Schwäche, weshalb man sie „verscheuchen“, „vertreiben“ soll.

Epikur schiebt die Sorglosigkeit allein dem Unvergänglichen, also den Göttern zu, wenn er schreibt: „Was glückselig und unvergänglich ist, hat weder selber Sorgen, noch bereitet es anderen solche.“ Sorgen sind damit eine rein menschliche Angelegenheit. Machiavelli, Morus, Bacon, Hobbes, Locke, Berkeley, Hume, Spinoza oder Leibniz – sie machen sich alle keine Sorgen, tragen höchstens welche, sind fürsorglich oder sorgfältig, wo sie „größte Sorge“ auf etwas verwenden. Wenn Rousseau „Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ nachsinnt, ist er sich der „Sorgen und Nöte ohne Zahl, die man in allen Ständen erdulden muss und von denen die Seelen fortwährend angenagt werden“, bewusst. Trotzdem macht er sich keine und formuliert stattdessen eine Maxime der natürlichen Güte: „Sorge für dein Wohl mit so wenig Schaden für andere wie möglich.“ Hegel und Feuerbach sehen Sorge ebenfalls in Verbindung mit Verantwortung, so letzterer in „Das Wesen des Christentums“, wo es heißt: „auf dem Vater ruht die Last der Sorge; das Kind dagegen lebt sorglos und glücklich im Vertrauen auf den Vater“. Marx setzt Sorge betont in Anführungsstriche und sagt: „Die ‚Sorge‘ floriert in ihrer reinsten Gestalt beim deutschen guten Bürger, wo sie chronisch und ‚Immer sich selbst gleich‘, miserabel und verächtlich ist während die Not des Proletariers eine akute, heftige Form annimmt, ihn zum Kampf um Leben und Tod treibt, ihn revolutionär macht und deshalb keine ‚Sorge‘, sondern Leidenschaft produziert.“

 

Sorgen der Existenzphilosophie

Schopenhauer sorgt sich nie, nicht einmal am berühmten Schluss von „Die Welt als Wille und Vorstellung“, wo er das Nichts betrachtet. Trotzdem erwähnt er auf über tausend Seiten Sorge und Sorgen immerhin knapp vierzig Mal. Für ihn ist Sorge ein notwendiges Übel, denn er sieht sie als Folge der Vernunft: „Aber mit der abstrakten Erkenntniß, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und der Irrthum, im Praktischen die Sorge und die Reue eingetreten.“ Auf Reflexion folgt für Schopenhauer nicht nur Sorge, sondern auch die „Fähigkeit des prämeditirten, von der Gegenwart unabhängigen Handelns, endlich auch völlig deutliches Bewußtseyn der eigenen Willensentscheidungen als solcher.“

Die Sorge Schopenhauers scheint trotz Qual, Unruhe und Angst zugleich eine Art Fürsorge, nämlich für den Willen, zu sein. Er schreibt: „Ob wir jagen, oder fliehn, Unheil fürchten, oder nach Genuß streben, ist im Wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtseyn.“ Damit ist Schopenhauer meines Wissens nach der einzige Denker, der beide Bedeutungen von Sorge kompakt verbindet. Er meint zudem, allein „die ästhetische Freude am Schönen enthebt uns für „den Augenblick allem Wollen, d.h. allen Wünschen und Sorgen“.

Will nicht wenigstens Kierkegaard, dessen Verdienst es ist, die Furcht vor etwas Konkretem von der Angst vorm Nichts unterschieden zu haben, sich mal so richtig Sorgen machen? Er denkt gar nicht daran, regt an einer Stelle sogar an „daß man sich die Sorgen aus dem Sinn schlagen solle.“ Nietzsche empfiehlt gleiches und Fritz Mauthner widmet der Sorge weder einen Eintrag im „Wörterbuch der Philosophie“, noch geht er in „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ auf sie ein.

Für Oswald Spengler ist Sorge ägyptisches und abendländisches Urgefühl. In der Einleitung seines Hauptwerks heißt es: „Die ägyptische Kultur ist eine Inkarnation der Sorge – dem seelischen Gegenwert der Ferne –, der Sorge um das Künftige, wie sie sich in der Wahl von Granit und Basalt als künstlerischem Material, in den gemeißelten Urkunden, in der Ausbildung eines peinlichen Verwaltungssystem und dem Netz von Bewässerungsanlagen ausspricht, und der notwendig damit verknüpften Sorge um das Vergangene.“ Sorge um Vergangenes ist also möglich, so sie Fürsorge ist. Trotzdem denkt auch Spengler Richtung Zukunft. Vom sich „willenlos und sorglos“ dem „Sinn des Werdens“ der Natur hingebenden Menschen, kommt er auf die gebärende und sorgende Mutter: „Die Sorge ist das Urgefühl der Zukunft und alle Sorge ist mütterlich.“ Er entwickelt weiter: „Von der mütterlichen führt der Weg zur Vätersorge und damit zum höchsten Zeitsymbol, das im Umkreis der großen Kulturen hervorgetreten ist, dem Staate.“ Öffentliches und privates Leben, res publica und res privata, sind ihm Symbole der Sorge.

Heidegger spricht oft vom „Besorgen“ (siehe S. 38), doch nie vom „Sichsorgen“. In „Sein und Zeit“ heißt es: „ontisch sind alle Verhaltungen des Menschen ‚sorgenvoll‘ und geführt durch eine ‚Hingabe‘ an etwas.“ Foucaults „Sorge um sich“ („Sexualität und Wahrheit“, Band 3) ist insofern interessant, […]


Lichtwolf Nr. 71 („Entsorgung“)

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Den kompletten Text und viele weitere Essays zum Thema Entsorgung finden Sie in Lichtwolf Nr. 71.

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