Mittelalterliche Philosophen argumentierten sowohl mit Aristoteles oder Platon als auch mit den Kirchenvätern. Damit alles unter den Hut der allmächtigen Religion passte, bog man an der Beweisführung zuweilen ganz hübsch und lustig herum.
von Michael Helming
Das Dienstpersonal erledigt die niederen Arbeiten, dafür wird es bezahlt. So war es schon immer und im Mittelalter repräsentierten Knechte und Mägde das Personal, derweil zu den niederen Arbeiten nicht allein die schwere körperliche und der Putz- und Küchendienst gehörten; wenn dem Herrn seine Magd gefiel, hat er sie sich bei passender Gelegenheit wohl auch in Sachen Triebabfuhr dienstbar gemacht. Mit einem Satz von Leonard Cohen: „I guess you call this love; I call it service.“
Was Kopfarbeit, also hier das Denken, anging, so zählte die seinerzeit noch nicht allgemein akzeptierte Logik ebenfalls zu den niederen Arbeiten. Sie hatte sich, das wünschte der Klerus, gefälligst dem Glauben unterzuordnen. Praktisch an ihr zu schuften und zu schwitzen hatten die Philosophen. Konkret geht das Bild von der Philosophie als Magd der Theologie (Philosophia ancilla theologiae) auf den einflussreichen Benediktiner Petrus Damiani (1006–1072) zurück. Der einstige Kardinal und heutige Heilige behauptete, die Gesetze der Logik seien vor Gott ungültig und daher sei es nicht zulässig, die formale Logik methodisch in theologischen Fragen anzuwenden; die reine Philosophie war ihm Teufelswerk. Brummte dem Kirchenlehrer nach rationalen Denkversuchen zu häufig der Kopf, derweil kritikloser Glaube an ein höheres Wesen ihn entspannte? War er überzeugt, Denken führe zu Migräne? Antworten auf solche Fragen bleiben Spekulation, doch gläubige Katholiken sehen im Heiligen Petrus Damiani bis heute eine Art Analgetikum. Sie verehren ihn als Schutzpatron gegen Kopfschmerzen, die bekanntlich zwar lästig sein können, aber auch ein gutes und von der Kirche akzeptiertes Verhütungsmittel darstellen: „Schatz, heute nicht“, heißt es, „ich hab’ Kopfweh.“
Aufhalten ließ sich die Akzeptanz der Logik nicht und so pflasterte Folgerichtigkeit, bildlich gesprochen, den konsequenten Weg vom Mythos zur Wissenschaft. Die Zunahme rationalistischer Auffassungen unter den Gebildeten verpflichtete auch die Theologie nach und nach zur Rationalität und dieser Prozess entwickelte eine Eigendynamik, die letztlich zur Reformation führte.
Bis es soweit war, lieferten vor allem die Denker der Scholastik einander mitunter absurde Debatten über im Nachhinein sinnlose Streitfragen, die heute allerdings höchst amüsant und unterhaltsam sind, da sie einerseits mit Wortklaubereien und logischen Spitzfindigkeiten jonglierten und regelmäßig in schulmeisterliche Rechthaberei ausuferten, sich andererseits aber – aus moderner Sicht recht unprofessionell – in Zirkeln und Widersprüchen verfingen oder sogar schlicht oder dreist von falschen Grundannahmen ausgingen. Die allerletzten Wahrheiten blieben – noch! – autoritativ festgesetzt und neue durften nicht gesucht werden. Bekannt ist in diesem Zusammenhang der Streit um die Vita apostolica, also darum, wieweit dieses Lebensideal als Vorbild für den Alltag taugte. Oder stark vereinfacht und zeitgemäß formuliert: Ist die Kirche ein Unternehmen, das Gewinne machen soll, oder ein gemeinnütziger Verein? Der sogenannte Armutsstreit zog sich vom 12. bis ins 15. Jahrhundert hin und behandelte unter anderem so abstruse Fragen wie die nach der Anzahl von Hemden, die Jesus besessen haben soll, und die danach, ob besagte Hemden – falls er nicht doch fremde anzog – im eigentlichen Sinn überhaupt sein persönlicher Besitz waren. [pullquote]Der sogenannte Armutsstreit zog sich vom 12. bis ins 15. Jahrhundert hin und behandelte unter anderem so abstruse Fragen wie die nach der Anzahl von Hemden, die Jesus besessen haben soll.[/pullquote](Man kommt da schnell vom Hundertsten ins Tausendste: Bei seiner Kreuzigung soll Jesus angeblich ein Hemd aus einem einzigen Stück Stoff getragen haben und nicht eines aus Flicken; ein Zeichen von relativem Reichtum.) Nicht nur die Art der Problemstellung verhinderte in diesem und auch in anderen Fällen rationale Lösungen, beziehungsweise die gütliche Einigung; am Ende stand hier unter anderem die Teilung des Franziskanerordens.
Der satanische Lustriemen
Derartige Dispute erinnern mich an Dialoge, die man in Stücken des Absurden Theaters findet und mein scholastischer Lieblingsstreit ist nicht nur lustig, sondern auch schlüpfrig, denn er dreht sich um Lust und Sex, um die Physiologie der Erektion und um einen Brief, in dem Papst Gregor der Große (540–604) die Parole „Die Lust kann nie ohne Sünde sein.“ ausrief und damit dem Sexualpessimismus der Kirche für Jahrhunderte Futter gab. Unter anderem der Kirchenrechtler Huguccio von Pisa († 1210) leitete aus ihr einen Beweis für die Jungfrauengeburt ab; denn wenn das Empfinden von Geschlechtslust generell Sünde war, konnte ein per Definition sündenfreier Heiland gar nicht durch Eheverkehr gezeugt worden sein. Eine einfache und zugleich komplizierte Sache, denn da Maria ebenfalls als sündenfrei galt, musste nicht auch sie ohne Geschlechtsverkehr empfangen worden sein? Und was war mit ihren Eltern? Dem sich hier aufdrängenden infiniten Regress schob die Kirche erst 1854 mit dem Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens einen Riegel vor.
Aber zurück ins Mittelalter: Grundsätzlich war damals alle Lust sündhaft, weil es aber leider verschiedene Arten und Ausprägungen der Lust und besonders der Fleischeslust gab, existierten folglich diverse Abstufungen von Sünde. Dantes Höllenkreise lassen grüßen. Irgendwo erlaubt war Sex, wenn überhaupt, nur zur Zeugung von Nachwuchs und dann auch nur in der Missionarsstellung; alles andere galt als animalisch und umso sündiger. Man wusste damals noch nicht, dass neben den Primaten auch manche Nagetierarten gern ventro-ventral kopulieren. Die Frage nach der Präferenz dieser Technik scheint weniger eine nach der Mimik des Partners zu sein, sondern eine der Klitorisgröße.
Apropos Größe: Der Frühscholastiker Anselm von Leon (1050–1117) war der Meinung, die Größe der Lust verhielte sich proportional zur Größe der Sünde. Damit warf er nebenbei die Frage auf, ob die Sünde beim Sex mit einer schönen Frau größer sei als bei dem mit einer hässlichen – und wie so oft gab es auch hier zwei Standpunkte: Der französische Bibelkommentator Petrus Cantor († 1174) meinte, der Verkehr mit schönen Frauen „ergötze“ mehr und sei folglich sündiger. Je geiler man(n) ist, umso sicherer winkt der Highway to Hell. Aber Autoren wie Alanus ab Insulis (1120–1202) – Steiner nannte ihn einen Wegbereiter der Anthroposophie – oder der Kirchenrechtler und Glossator der Bologneser Schule, Bazian († 1197), hielten dagegen, wer mit einem schönen Weib verkehre, sündige im Gegenteil weniger, „weil er durch den Anblick ihrer Schönheit mehr bezwungen wird“, und „wo größerer Zwang, da ist geringere Sünde“. Die Sexbombe nötigt den Mann also quasi durch ihr Äußeres zum Verkehr und dagegen ist er machtlos und somit unschuldig, weil er ja im Prinzip gar nicht poppen will. Aber ihr Gesicht, die Kurven, einfach alles sieht leider so toll aus und da wird er eben geil. Überall stellt der Teufel einem den Schwanz auf. Wie soll es der gute Christ da halten, wenn er clean bleiben will? Wichsen darf er ja auch nicht. Für ihn demnach am günstigsten scheint es, er macht gleichermaßen um den steilen Zahn und die ranzige Torte einen Bogen und begattet stattdessen Durchschnittsbräute mit kleineren optischen Fehlern; freilich auch das nur „unter Zwang“, also obwohl er eigentlich überhaupt nicht erregt ist.
Hier stoßen wir an ein seltsames Problem und es begegnet uns nicht zum letzten Mal: der Zwang. Frauen können auch gegen ihren Willen Sex haben, bei Männern hingegen wird das schwierig, da der volle Kontakt ohne Erektion nur schwer herzustellen, geschweige denn aufrecht zu erhalten und zu vollenden ist. Da Sex obendrein zwingend der Zeugung von Nachwuchs dienen sollte, musste der Ständer dabei auch entsaftet werden; doch der Volksmuttermund weiß: Ein schlaffer Schwanz ejakuliert nicht gern. Nun hatte Hugoccio eingeräumt, die Spermaausstoßung sei immer mit Lust verbunden, obwohl er wusste, dass allein derjenige nicht sündigt, der nichts Wohliges empfindet. Angesichts dieses Dilemmas grübelten die alten Moraltheologen sogar über die Frage, wie sündig spontane nächtliche Samenergüsse von Mönchen und Priestern sind, und Uta Ranke-Heinemann stellt dazu in ihrem unbedingt lesenswerten Klassiker zur Sexualphobie der Kirche („Eunuchen für das Himmelreich“) fest: „ihre Auslassungen dazu füllen ganze Bibliotheken“. Wohlgemerkt: Es geht da nur um Literatur zur provokationslosen Ejakulation; aktive Selbstbefriedigung und weitere Praktiken behandeln diverse andere Folianten.
Die kirchliche Sexualphobie geht auf Augustinus zurück
Warum sollte lustvoller Sex überhaupt sündig sein und nicht einfach ganz normal? Die Antwort darauf glaubte man im Paradies zu finden. Zwar liegt der Ursprung kirchlicher Sexskepsis tatsächlich im auch heute noch umstrittenen Zölibat, den die Christen nicht selbst erdacht, sondern von bestimmten Heidenkulten übernommen hatten; doch mochte das die Kirche freilich nicht zugeben. Lieber ließ man ergründen, ob Adam und Eva im Paradies auch schon Sex gehabt hatten und stützte sich dabei auf biblische Quellen. Andere gab es nicht und selbst wenn Adam und Eva je Amateurhardcorepornos von sich produziert hätten, waren diese bereits zu Christi Zeiten verschollen. Wie aber sollte nun die göttliche Anordnung „Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde.“ verstanden werden? Knallhart fleischlich oder doch vergeistigt-metaphorisch? Dieses Problem spukte seit der Spätantike in gelehrten Köpfen und als einer der Ersten dürfte Augustinus von Hippo (354–430) es gewälzt haben.
Der Urvater christlicher Philosophie blieb bis zur Reformation eine nahezu unumstrittene Instanz in allen Glaubensfragen, obwohl manche Kommentatoren ihn auch kritisch bearbeiteten und sogar modifizierten. Seine platonischen Ansätze wurden beispielsweise nach und nach durch aristotelische ersetzt, wobei sich besonders Thomas von Aquin (1225–1274) hervortat, ohne die Stellung des Denkers Augustinus damit jedoch zu schmälern; er festigte sie im Gegenteil für Jahrhunderte. Tatsächlich beriefen sich nicht nur fast alle einflussreichen Namen der Kirchengeschichte – Dogmatiker, Scholastiker wie Mystiker – auf Augustinus; über die Humanisten und Universalgelehrten von Albertus Magnus bis hin zu Gottfried Wilhelm Leibniz – der sich mit der durch Augustinusschüler überlieferten „Verdammniss, welche blos auf der Erbsünde beruht“ in seiner Theodicee „nicht befreunden“ konnte – reichen die Gedanken des Kirchenvaters bis in die moderne Existenzphilosophie hinein. Selbst weltliche Herrscher kamen an ihm nicht vorbei. So soll Karl der Große begeisterter Augustinus-Leser gewesen sein.
Privat lebte der spätere Kirchenlehrer seine Fleischeslust zeitweise ungeniert aus. Bekanntlich hatte er als Student ein uneheliches Kind mit einer verheirateten Frau. Demnach war Sex für ihn – auch jenseits der Ehe – kein abstrakter Begriff und zur Seid-Fruchtbar-Parole äußerte er schon 389 in seinem Genesiskommentar gegen die Manichäer den Gedanken: „Wir können nämlich diesen Segen auch geistig fassen und annehmen, dass er erst nach dem Sündenfall in fleischliche Fruchtbarkeit umgewandelt wurde.“ Heißt: Bevor Eva sich den Apfel hatte andrehen lassen, funktionierte das Kindermachen ganz anders als danach, vielleicht sogar ohne Reinstecken des Riemens. Diese Problematik beschäftigte Augustinus für Jahrzehnte und zunächst vermied er Festlegungen. In seiner moraltheologischen Schrift „De bono coniugali“ (401) überlegte er, es gebe drei Möglichkeiten, den Schöpfungssegen zu verstehen: Entweder hätten die ersten Menschen ohne Verkehr Kinder bekommen, auf irgendeine andere Weise, „durch Gabe des allmächtigen Schöpfers, der ja auch sie selbst ohne Eltern erschaffen konnte.“ Das erinnert stark an hochrotköpfige Vermeidungstaktiken bei der kindlichen Sexualaufklärung: Der Storch hat dich gebracht. Die Mami hat dich aus Wollresten gehäkelt. Papi hat dich im Bierkrug gefunden. Wer nicht sagen will, was zu sagen ist, entwickelt Phantasie. Wie jedoch selbst die verklemmtesten Eltern irgendwann nach dem Storch mal auf Blumen und Bienen zu sprechen kommen, so wollte Augustinus nicht völlig ausschließen, dass Adam und Eva möglicherweise doch echten Sex gehabt haben könnten. Am Ende relativierte er dann jedoch wieder, der Satz sei eventuell auch ganz unverfänglich, nämlich „mystisch und bildlich“ zu verstehen. In letzterem Fall hätte es im Paradies keinen einzigen Bums gegeben.
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