Außer sich in der Zeit

Was haben Ekstasen im Abschnitt über die Zeitlichkeit in Heideggers „Sein und Zeit“ verloren bzw. zu bedeuten?

von Timotheus Schneidegger 

 

Das Außersichsein ist philosophiegeschichtlich nichts Ungewöhnliches. Die Erkenntnistheorie plagt sich seit Jahrtausenden damit herum, wie das Subjekt etwas vom Objekt mitbekommt. Viele (die meisten?) Gegenstände des Bewusstseins sind außerhalb seiner, weshalb seine wortwörtliche Ekstase üblich ist. Bei Leibniz zwar nicht: Weil dessen Monaden keine Fenster haben, besorgt Gott den Input. Beim ekstatischen Kant tritt das Subjekt etwas aus sich heraus, schnappt sich Erscheinungen und apperzipiert – zurück in der Innerlichkeit – sein Ich sowie allerhand Ideen. Andere wie Schelling nehmen den asketischen Weg: Seine intellektuelle Anschauung besteht im Sich-verlieren des endlichen Sub­jekts, das alles Vorwissen aufgibt und ganz im Angeschauten aufgeht.

Heidegger dagegen spricht wörtlich von Ekstasen, meint es aber – wie so oft – ganz anders als alle vor ihm, denen er damit in die Parade – namentlich ihren Subjektbegriff – fahren will. Heideggers Ekstasen sind Teil seines Gegenentwurfs zur Subjektivität im Sinne des in sich eingeschlossenen Bewusstseins in der transzendentalen Phänomenologie. Anders als bei Schelling & Co. hat Heideggers Ekstase-Begriff nichts mit Innerlichkeit zu tun, sondern betont das Immer-schon-äußerlich-sein des fundamentalontologischen Subjekts, das keines im traditionellen Sinne mehr ist.

Er ist mit verschiedenen Momenten der Zeitlichkeit verbunden, was auch das wesentliche Außer-sich des Daseins ausmacht.

Um zur oberflächlichen Wunderlichkeit von Heideggers Ekstase-Begriff zu kommen, muss erst ein Abstecher in die wunderliche Tiefe des Begriffs unternommen werden.

Die Zeit ist als Bedingung für jegliches Verstehen eine scheinbar triviale Angelegenheit, aber von doppelter Bedeutung, da sowohl das verstehende Dasein (=der Mensch, der je du bist) als auch zu verstehendes Seiendes (=alle anderen Dinge) zeitlich geprägt sind. Aber Dasein unterscheidet sich vom Seienden vor allem in der Art dieser zeitlichen Prägung. Der Mensch als Dasein ist nicht einfach in der Zeit wie ein Ding, sondern er ist eine Existenz, die nur im zeitlichen Vollzug besteht, d.h. er ist zeitlich. Er ist ein nicht bloß vorhandenes, sondern geschichtliches, also aus einer Vergangenheit her sich findendes und in ein Zukünftiges vorweg existierendes Wesen, das sich aus seiner Zeitlichkeit her, also aus seinen vergangenen Entscheidungen und künftigen Möglichkeiten versteht.

Dasein ist geworfen in die immer schon laufende Welt (Geworfenheit) mit all ihren bestehenden Sinnbezügen, die es verstehend ergründet und deren Möglichkeiten es für seinen weiteren Lebensvollzug auswählt (Entwurf) und sich dabei am Bestehenden orientiert (Verfallenheit). Das sind die Existenzialien, die das Sein des Daseins ausmachen, unter „Sorge“ zusammengebunden werden und darauf verweisen, dass der Mensch zunächst und zumeist sich mit alltäglichen Problemen herumschlagen muss und nicht – wie im Rest der Philosophiegeschichte – ein ideales Erkenntnissubjekt ist. Zeitlichkeit ist der Sinn der Sorge, weil sich das Dasein in seiner Zeitlichkeit auf seinen Tod hin ausrichten kann. Die Zeitlichkeit besteht aus – jetzt kommt’s – den drei „Ekstasen“ Gewesenheit, Zukunft und Gegenwart, die Heidegger den Bestimmungen zuordnet, die gemeinsam die Sorge bilden:

  • Geworfenheit („Schon-sein-in-der-Welt“) – Gewesenheit
  • Verfallenheit („Sein-bei“) – Gegenwart
  • Entwurf („Sich-vorweg-sein“) – Zukunft

In den drei Momenten der Sorge (Geworfenheit, Verfallenheit und Entwurf) „zeitigen sich“ stets je alle drei Ekstasen, was so viel heißt wie: Keine Vergangenheit ohne Gegenwart und Zukunft usw.

(Illu: Georg Frost)

Der zweite Band von „Sein und Zeit“, für den Heidegger weitere Ausführungen zu seinem Zeitbegriff verspricht, ist nie erschienen. Dabei wird es hier erst richtig spannend! Die Zeit ist das saftige Filetstück der Metaphysik, auf das jeder abfährt (positivistische Vegetarier ausgenommen). Heidegger lässt den vulgären Zeitbegriff der Physik links liegen und bestimmt die Zeit aus unserem Umgang mit unserer Zeitlichkeit. Erlebte Zeit („Weltzeit“) ist keine messbare, unendliche Reihe von Zeitpunkten (die „Jetzt-Zeit“), sondern bestimmt vom Besorgten, kurz: davon, was wir in ihr machen und denken. In der vulgären Jetzt-Zeit wird die ekstatisch-horizontale Struktur der Zeit nivelliert, weil Zeit zur Abfolge von Gegenwarten verkürzt wird, wohinter Heidegger die Flucht vor dem Sein zum Tode, also der „Ekstase der Zukunft“ vermutet, da die Jetzt-Zeit unendlich zu sein scheint.

Ekstatisch-horizontale Struktur der Zeit?! Die Zeitlichkeit des Daseins besteht aus den erwähnten Ekstasen. Sie fangen nicht an, gehen nicht vorbei oder ineinander über, sondern sind stets miteinander verflochten und „zeitigen sich“ nur zu dritt. Wie verkürzt das physikalische Zeitverständnis („in fünf Sekunden“, „am 20. Juni 2016“) ist, zeigen Beispiele für die Verknüpfung von Ekstasen in unserem alltäglichen Besorgen: „Heute spreche ich die Neue an, die mich immer anlächelt, seit sie in unsere Klasse gekommen ist.“ „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann mache ich eine Weltreise.“ Egal in welcher Ekstase sich das Dasein gerade befindet, ob es sich erinnert, konzentriert oder Pläne schmiedet, immer sind die anderen Ekstasen mit dabei.

Diese sind jeweils unendlich, aber nicht unbegrenzt: Sie haben einen transzendentalen Horizont, der etwa durch die Grenzen des Erinnerungs- oder Planungsvermögens bedingt ist. Jede Ekstase ist „eineEntrückung nach…, auf etwas hin in einem formalen Sinne“ (GA24, 378), also ein „Offensein für…“ innerhalb des jeweiligen ekstatischen Horizonts. Der Begriff „Ekstase“ betont damit die Relativität und Endlichkeit des Daseins, was nicht nur, aber auch seine Sterblichkeit meint, die der Zukunft eine ebenso unbestimmte wie gewisse Grenze setzt. Im „Vorlaufen zum Tode“ konstituiert das eigentliche Dasein seinen Entwurfsspielraum als frei und endlich.

Warum Heidegger bei den drei Zeitebenen von Ekstasen spricht, lässt die englische Wikipedia erahnen, die im Gegensatz zur deutschen einen Eintrag „Ecstasy (philosophy)“ hat. Demnach stehen wir immer schon in der Gegenwart und ragen aus ihr heraus erinnernd in die Vergangenheit oder planend in die Zukunft, oder, wie es ebd. in der Fußnote heißt: „Existential philosophy defined the new concepts of ecstasy or of transcendence to fix a distinct kind of being that is by casting itself out of its own given place and time, without dissipating, because at each moment it projects itself — or, more exactly, a variant of itself — into another place and time.“ (Lingis, Alphonso. „The Imperative“, Indiana University Press, 1998.)

Heidegger sieht es ähnlich, aber anders: Das Dasein kann nie nur ganz in einem Zeithorizont sein, es ist bei jeder Beschäftigung mit Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft immer auch in die anderen Zeithorizonte entrückt. Dasein ist immer-schon-außer-sich, es transzendiert die Gegenwart ständig, egal was es tut. Dasein ist, was es war (weshalb Heidegger von „Gewesensein“ statt „Vergangenheit“ spricht); und Dasein ist eigentlich, was es zukünftig gewesen ist. Das Gewesensein eines Daseins, das sich entschlossen in seinem Sein zum Tode entwirft, wird von der Zukunft geprägt, sprich: Was wir für unsere Vergangenheit halten, wird von unseren aktuellen Plänen bestimmt.

Im Bilde: Stellen Sie sich vor, in völliger Dunkelheit auf einem Fahrrad ohne Bremsen einen Abhang hinabzurollen, zu dessen Fuße ein tiefe Schlucht liegt. Vorder- und Rücklicht funktionieren, sind aber vertauscht: Vorne haben Sie nur eine rote Funzel, mit der Sie gerade genug sehen können, um den ärgsten Untiefen auf dem Weg hinab auszuweichen; dass Sie am Ende in die Schlucht stürzen werden, ist Ihnen vollkommen klar, aber bis dahin können Sie ja im Funzellicht noch etwas unternehmen – entweder, weil der Weg hinab gerade nicht zu viele Lenkmanöver erfordert, oder, weil Sie vor lauter Angst sich etwas vormachen. Hinten am Rad beleuchtet die helle Lampe den Weg, den Sie hinter sich haben, aber was dort im Dunkeln zu sehen ist, hängt ab von der Richtung, in die Sie ihr Rad gerade lenken. –

Da die Zeit der Sinn (die Richtung) des Seins ist, besteht die Existenz des Daseins (=der Vollzug seines Seins) in der Ekstase, im Aus-sich-Her­austreten.

Für Heideggerianer sollte am Zeitlichkeitsabschnitt von „Sein und Zeit“ noch eine andere Sache spannend sein. Denn es verwundert, dass Heidegger – der sich zur Abgrenzung vom Ziel seiner Dekonstruktion, aller bisherigen Philosophiegeschichte nämlich, für alles neue Begriffe aus dem Deutschen holt – die drei Zeitlichkeitsstrukturen als „Ekstasen“ bezeichnet.

Der Meister erklärt das so: „Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ‚Auf-sich-zu‘, des ‚Zurück auf‘, des ‚Begegnenlassens von‘. Die Phänomene des zu…, auf…, bei… offenbaren die Zeitlichkeit als das ἐκστατικόν schlechthin.“ (SuZ, S. 328f.) „Die Zeit ist in sich selbst als Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart entrückt. Als zukünftiges ist das Dasein zu seinem gewesenen Seinkönnen, als gewesenes zu seiner Gewesenheit, als gegenwärtigendes zu anderem Seienden entrückt.“ Und weiter: „Die Zeitlichkeit als Einheit von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart entrückt nicht das Dasein zuweilen und gelegentlich, sondern sie selbst als Zeitlichkeit ist das ur­sprüngliche Außer-sich, das ἐκστατικόν.“ (GA24, S. 377).

Heidegger deutscht nicht bloß ein und um, er betreibt sein charakteristisches Wortstammdenken genauso im Lateinischen und Griechischen, wo er genug Material für sein Metaphorik von Bewegung, Ballsport, Raum- und Bauwesen findet. So auch den Stand (hinaus-stehen, aus-stehen, Hineingehaltenheit, Inständigkeit, Innestehen, ständig, stellen, ver-stehen usw.usf.), der altgriechische Stillstand (στάσις), aus dem es im Falle der Zeitlichkeit des Daseins „ständig“ „herausgeht“.

Heideggers vormaliges Theologiestudium und die mystische Beeinflussung durch Duns Scotus haben also „nichts“ mit der Begriffswahl zu tun: „Die Bezeichnung ‚ekstatisch‘ hat mit ekstatischen Zuständen und dergleichen nichts zu tun. Der vulgäre griechische Ausdruck ἐκστατικόν bedeutet das aus-sich-heraustreten. Er hängt mit dem Terminus ‚Existenz‘ zusammen.“ (GA24, S. 377)

Und sei es nur über das „stehen“, das der Lateiner in existentia als „Bestehen“ findet…

Literaturhinweise:

Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24).

Martin Heidegger: Sein und Zeit. 1967.

Marion Heinz: Zeitlichkeit und Temporalität. Die Konstruktion der Existenz und die Grundle­gung einer temporalen Ontologie im Frühwerk Martin Heideggers. 1982.

Andrei Patkul: Das Außer-sich-sein bei Schelling und Heidegger. In: Horizon 4 (2) 2015, S. 121-138.

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