Krisen über Krisen
Der Demokratie ging es auch schon vor der Pandemie nicht so gut: Martin Hartmann ist Demokratietheoretiker und gibt im Standard-Interview Auskunft zur gegenwärtigen und künftigen Kohäsionswirkung von Vertrauen. Oder ist es eine Krise der Spätmoderne? Holger Krawinkel geht dem Verdacht in der FR mit Blick auf die ökotechnologischen Vorhaben der neuen Bundesregierung nach.
Zwei Plädoyers für Ökosozialismus werden in der FAZ rezensiert: Andreas Malm kritisiert vor allem kulturwissenschaftliches Herumtheoretisieren, mit dem sich die Welt weder retten noch verändern lässt; Klaus Dörre dagegen sieht in der unausweichlichen Transformation die Gelegenheit, einen demokratischen Sozialismus ohne revolutionäres Subjekt zu schöpfen.
Minouche Shafik begründet den von ihr geforderten Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert zur Überwindung mannigfacher Krisen vor allem ökonomisch, wie der Tagesspiegel schreibt. Destruktive Kritik in Krisenzeiten dagegen verspricht die Edition Endzeit, mit deren Herausgeber Jürgen Hoßdorf sich Johannes Schillo bei Telepolis unterhält – unter anderem darüber, warum es wichtig ist, den Leuten Trost, Hoffnung und Sinn auszureden. Michael Ignatieff hat eine Ideengeschichte des Trostes geschrieben, die der SZ wie eine langweilige Abhandlung vorkommt.
Zusammen leben
Bruno Latours planetarisches Bewusstsein weiß, dass alles miteinander verbunden ist und klare Grenzen willkürlich sind; wie und wo verortet man sich da in einer Pandemie? Sein Buch zu dieser Frage wird in der FR vorgestellt. Dazu passend ist die Lektüre von Harald Welzers „Nachruf auf mich selbst“, der bei Spektrum rezensiert wird.
Ann-Kristin Tlusty beschäftigt sich in ihrem in der FAZ rezensierten Buch mit sanft, süß und zart als Adjektive des Weiblichen und wie sie sich auf Frauen auswirken. Auch Evke Rulffes’ Geschichte der Hausfrau, die sich als Verfallsgeschichte entpuppt, wird in der FAZ vorgestellt.
Großes Durcheinander
Inzwischen ist auch der NZZ aufgefallen, dass mit dem Youtube-„Philosophen“ Gunnar Kaiser irgendwas nicht stimmt, und sie rekapituliert, wie er sich mit Foucault, NS-Geraune und Halbwahrheiten zum neuen Guru der Impfgegner-Bubble machte.
Marlon Grohn versucht es bei Telepolis mit einem anderen Ansatz bei der Coronakrisenkritik, indem er dem Gerede von vermeintlich Vernünftigen und Unvernünftigen die Dialektik staatlichen Handelns entgegenstellt, in der „Querdenker“ ebenso wie brave Maskenträger die nützlichen Idioten abgeben.
David Baddiel fragt in seinem von der taz empfohlenen Buch, warum vermeintlich Progressive sich so schwer damit tun, Antisemitismus ebenso entschieden wie Sexismus und Rassismus abzulehnen.
Neue Bücher, alte Bücher
Bei Telepolis würdigen Peter Kempin und Wolfgang Neuhaus den polnischen Science-Fiction-Autor und Technikphilosoph Stanisław Lem zum 100. Geburtstag, indem sie zeigen, wie er die Fiktion als philosophisches Labor benutzte.
Spannend wie einen Thriller findet die SZ Paul Jankowskis Buch darüber, wie 1932 bis 34 in nahezu allen Hauptstädten der Welt die Paranoia um sich griff und der nächste Krieg am Horizont auftauchte. Zur Freude der taz wird C. L. R. James’ „Die schwarzen Jakobiner“ über Toussaint Louvertures Widerstand gegen die Sklaverei und die haitianische Revolution neu aufgelegt.
Keine Werbung. Weder online noch im Heft. Niemals.
Mit Philosophie kann man weder die Kosten decken noch gar Gewinn machen – und trotz Philosophie erst recht nicht. Darum ist der Lichtwolf auch ganz offiziell gemeinnützig.
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Was ist das hier?
Der Lichtwolf wurde im Sommer 2002 aus Übermut und Langeweile im Umfeld der Fachschaft Philosophie der Uni Freiburg gegründet. Der Studentengag wuchs sich im Laufe der Jahre grund- und ziellos zum fröhlichen Wissenschaftsmagazin aus. Indem er unermutigt und unerfolgreich (nicht erfolglos!) beharrlich weiter gegen jede ökonomische Vernunft erscheint, widerlegt der Lichtwolf Ausgabe für Ausgabe ihre Allgültigkeit.
Der Frage, was es heißt zu übersetzen, haben Kate Briggs und Uljana Wolf jeweils ein Buch gewidmet, das laut SZ auch ein Plädoyer für eine empathische Gesellschaft ist bzw. der Leserschaft die stummen Stimmen des Betriebs ins Gedächtnis ruft.
Die Verlegerlegende Klaus Wagenbach ist mit 91 Jahren gestorben. Einen schönen Nachruf auf ihn lesen wir u.a. in der taz, wo es auch gute Nachrichten gibt aus Zeiten, da Büchermachen noch nicht die Fortsetzung von Twitter mit anderen Mitteln war: Der Wagenbach im Geiste verwandte März Verlag feiert seine Wiederauferstehung!
Vermischtes zum Jahresende
Zum Ende des Dante-Jahrs war die SZ in Rom und berichtet von einer Ausstellung zur Höllendarstellung in der Göttlichen Komödie und anderswo. Googles Quantencomputer hat unterdessen aus Zeit (!) Kristallgitter geformt und damit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik einen schweren Schlag versetzt, wie die FAZ berichtet.
Zur Jahreszeit passend macht sich Matthias Warkus in seiner Spektrum-Kolumne mit Emmanuel Levinas und gegen Heidegger Gedanken über den Gebäckgenuss. Micha Brumlik dagegen erinnert in der taz an die Weihnachtsgeschichte als Flucht- und Migrationsgeschichte. Arno Kleinebeckel staunt bei Telepolis, wie unbeeindruckt der phantasmagorische Konsumterror auch im zweiten Seuchenadvent durch Gazetten und Hirne rast.
Apropos: Es gibt einen neuen Lichtwolf. Das Thema von Ausgabe Nr. 76 lautet: „mein und sein“. Guten Rutsch ins Jahr 2022!