Die letzte Kränkung

Menschen unserer Prägung sind – auch, ein wenig, zumindest in der Kindheit – narzisstisch. Das muss nicht schädlich sein. Für die persönliche wie für die Entwicklung unserer Spezies aber ist entscheidend, wie wir der Tatsache unserer Unwichtigkeit begegnen.

von Marc Hieronimus, 20.09.2015, 13:18 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Kopernikus, Darwin, Freud

Der Begründer des Narzissmuskonzepts wusste, wovon er schrieb. Eine, früher sagte man: „Zigeunerin“ hatte Freuds Mutter vorhergesagt, ihr Sohn werde mal ein ganz Großer. Das hat sich letztlich erfüllt, aber Sigmunds Leben war geprägt von Kränkungen seiner Eigenliebe. Die Uni-Karriere misslang, als Arzt wurde er nichts, viele therapeutische Hoffnungen musste er verwerfen, ging häufiger auf Holz- und Irr- als auf geraden Wegen und fragte sich kurz vor seinem Tod im Londoner Exil sogar, was er denn überhaupt Großes, über bloße Ansätze Hinausreichendes hinterlassen werde. Das allein ist nicht zwangsläufig krankhaft. Von einer Neurose, also krankhaftem Narzissmus spricht man, wenn die nur menschlichen Züge Selbstliebe und Selbstzweifel den Menschen in seiner Entfaltung einschränken oder über das verträgliche Maß hinausgehen, wo immer das auch liegen mag. Es war zweifellos in einem Moment großer Selbstverliebheit, als Freud sein berühmtes Diktum von den „drei Kränkungen des Menschen“ niederschrieb. Mit Kopernikus habe dieser den Platz im Zentrum des Universums eingebüßt (bzw. mit Aristarch von Samos 1.800 Jahre früher, seien wir nicht kleinlich), mit Darwin den an der Spitze der irdischen Schöpfung (oder bereits mit de Lamarck, bleiben wir großzügig), na und nun, mit ihm, Freud (der ja auch weder der erste noch der einzige Rufer in der Wüste war), sei er nicht mal mehr Herr im eigenen Haus.

Ego Null

Selfie eines Schopfmakaken-Weibchens (Macaca nigra) in Nord-Sulawesi (Indonesien), das eine Kamera des Tierphotographen David Slater in die Hand genommen und durch zufälliges Auslösen u.a. dieses Selbstportrait angefertigt hat. Nachdem Slater die Bilder ins Internet gestellt hatte und die Wikimedia Foundation sie als gemeinfrei verwendete, kam es zu einem Rechtsstreit. Slaters Argumentation, er besitze das Urheberrecht an dem Bild, weil er der Makakendame die Kamera gegeben hatte, wurde zurückgewiesen: Inhaber des Urheberrechts ist demnach der Schöpfer des Werks, nicht der Eigentümer des Werkzeugs. Das US Copyright Office stellte in der Folge klar, dass in den Vereinigten Staaten niemand die Rechte an Photos innehabe, die nicht von einem Menschen angefertigt wurden. (Quelle: Wikipedia; This file is in the public domain, because as the work of a non-human animal, it has no human author in whom copyright is vested.)

Die verschärfte Kränkung

Der allzu verkürzten Triumvirats-Behauptung ist noch einiges hinzuzufügen. Die Wissenschaft hat ja nach Freuds Tod nicht aufgehört, nicht die „weiche“ des Geistes und schon gar nicht die „harte“ der Natur. Unser aus Wissenschaft, Technik und Spektakel bestehendes und entstandenes Weltbild ist keine weitere Religion; es gibt in ihm nichts Bleibendes und Weiterführendes, weder Transzendenz noch Spiritualität, und der Platz, den es dem Menschen im Kosmos einräumt, ist beschämend. Es ist nichts Ganzes, sondern zerfällt in drei unvereinbare und unlebbare Positionen:

1. Wir sind nichts.

2. Wo wir etwas sind, sind wir nichts.

3. Wir sind alles.

1. Der Mensch im Kosmos

Astronomisch sind wir in den letzten Jahrzehnten noch einmal sehr viel kleiner geworden, und diese „Vernichtung“ der Menschheit durch Satellitenteleskope und neue Theorien und Auswertungsverfahren hat längst nicht aufgehört. Wir fliegen um einen kleinen Stern, von denen es nach jüngeren Schätzungen Einhundertmilliarden in ebensovielen Galaxien gibt – 1022, sinnlos, sich das vorstellen zu wollen. Auch die zeitliche Dimension ist schlichtweg nicht fassbar. Fünfzehn oder zwanzig Milliarden Jahre soll der Urknall her sein, die Zeitalter der jüngeren Erde messen sich in Jahrhundertmillionen. Gibt es außer uns noch Leben „irgendwo da draußen“, womöglich intelligentes? Zweifellos, wenn man sich die Zahlen anschaut, aber wohl so wenig und so weit entfernt, dass wir niemals mit außerirdischen Lebensformen werden kommunizieren können, so sehr CETI und SETI, Krethi und Plethi auch davon träumen mögen. Stanis?aw Lem hat uns zwar Kontakte mit nicht-irdischen „Psychozoen“ ausgemalt – aber glaubhaft dargestellt, dass eine Kommunikation mit ihnen an der menschlichen Beschränktheit scheitern würde. Vielleicht würden wir nicht einmal wissen, ob, geschweige denn mit wem dort kommuniziert wird.

2. Der Mensch an der Maschine

Was wir seit der durch die Weltkriege teils unterbrochenen, teils vorangetriebenen techn(olog)ischen Modernisierung erfahren, lässt sich am besten mit Günther Anders’ Begriff der „prometheischen Scham“ oder eben „Kränkung“ beschreiben: Früher konnten sich die Menschen Dinge vorstellen, die sie nicht herstellen konnten. Heute stellen sie Dinge her, deren Folgen sie sich nicht vorstellen können – und ihre Maschinen können alles besser als sie selbst. Der Mensch passt sich an sie an oder verschwindet, und verschwindet in dem Maß, in dem er sich anpasst. Anders ist kein weiterer Kränker, weil nicht seine Beobachtung, sondern ihr Objekt die Kränkung bewirkt. Diese wird aber viel zu wenig bedacht, weniger noch als die der drei Großen: Der (einzelne, westliche) Mensch hat jede Autonomie gegenüber seiner Umwelt verloren. Man kann auf dem Balkon ein paar Kräuter züchten. Man konnte einmal, kann vielleicht noch einen Tisch oder ein Kleidungsstück selber herstellen und reparieren. Was heute aber an Technologie und Servicediensten üblich und „unverzichtbar“ ist – Autos, Smartphones, Kühlschränke, Turnschuhe, Energie, Internet – kann ich nur kaufen. Die Regel ist, dass wir nichts mehr herstellen, alles nur kaufen, und zwar egal, woher es kommt und was dabei anderswo kaputt geht. Der homo faber ist nurmehr homo consumens consumptusque, er verbraucht und wird verbraucht, nämlich von seiner eigenen Maschinerie. Das steckt uns heute in den Knochen, das stecken wir nicht weg.

3. Der Mensch im Spektakel

Der Rummel schließlich sagt uns etwas ganz anderes: Wir alle können es schaffen, egal, wer wir sind, egal, wo wir leben. Wir sind schon Gewinner, wir müssen nur noch an uns arbeiten. So stellt sich gar nicht die Frage, wohin das global oder auch nur gesellschaftlich führt: Erstmal bin ich mir doch selbst der Nächste, und ich will nun mal kein Luhser sein.

Stars…

Es wurde viel über den Germanwings-Copiloten geschrieben, der im April diesen Jahres 149 Menschen mit in seinen Tod gerissen hat. Zweifellos war er auch „depressiv“, aber das war nicht das Entscheidende. Klassische depressive Selbstmörder wollen einfach verschwinden. Manchmal spielt auch die Bestrafung der Angehörigen eine Rolle oder der Schrei nach Aufmerksamkeit – besonders dann, wenn sie ihn ankündigen und also eigentlich gerettet werden wollen. Nicht so Andreas L. Er musste fürchten, nie echter Pilot zu werden und nicht einmal Copilot bleiben zu dürfen. „Eines Tages wird jeder meinen Namen kennen“, soll er seiner Freundin gesagt haben.

Etwas Vergleichbares – nämlich die Überzeugung von der eigenen Besonderheit und der Ungerechtigkeit des Schicksals, der Gesellschaft oder was bzw. wer auch immer die gebührende Wertschätzung der eigenen Person verhindert – trieb Freud an, und auch von Mengele und Hunderten anderen ist ein solches Zitat bekannt. Vielleicht haben es sich sogar die meisten bekannten Menschen aller Länder und Zeiten früh im Leben zum Ziel gesetzt, zumindest in ihrem Wirkungskreis erfolgreich, angesehen, machtvoll und „berühmt“ zu werden. „Der fehlende Glanz in den Augen der Mutter“ (Kohut) hat sie zur Selbstaufopferung, zum Wagemut, zum Experimentieren und Ränkeschmieden getrieben. Ihre Geltungssucht (wenn sie es war, was sie bewegte) mag oft von Depressionen begleitet gewesen sein, ihrem Wesen nach war sie narzisstisch und betraf, soweit man das historisch überhaupt herausarbeiten kann, immer einen verschwindend geringen, wenngleich überaus wirkmächtigen Prozentsatz der Menschen.

…und die Masse

Ewig waren die Menschen fromm, dumm, elend, zufrieden, furchtsam oder schlicht beschäftigt genug, über ihre Existenz nicht nachzudenken. In festen, Levy-Strauss würde sagen: „kalten“ Gesellschaften hat das Schicksal über das je eigene Los bestimmt, war es nun von außen betrachtet ein großes oder eher eine Niete. Wenn ausreichend viele Menschen die Lotterie nicht mehr akzeptierten, wurde es heiß, begannen die Verhältnisse zu tanzen. Bewegungen bildeten sich, die alles umwälzten oder niedergeschlagen wurden. Vor und nach dem Sturm war und ist Ruhe.

Nun wiederholt sich Geschichte und wiederholt sich nicht. In jeder Veränderung, jedem Zustand ist Bekanntes und Neues. Neu ist die Akzeptanz und Pflege des individuellen Narzissmus. Becketts „Fail again. Fail better.“ wäre in anderen Zeiten einfach unverständlich gewesen und ist heute etwas für Leute, die den Retro-Lifestyle der düsteren Selbstaufopferung für die Kunst als den ihren gewählt haben. Massenhaft aber verschenken wir Glückwunschkarten mit Sprüchen wie „Aufstehen. Krönchen richten. Weitergehen“ oder „Ich schmeiße alles hin und bleibe Prinzessin“. Das ist nur Spaß? Sicher, aber auch und vor allem Zeitgeist, also ein Spaß, den man zu anderen Zeiten gar nicht verstanden hätte.

Der Fortschritt ist, dass wir uns in der Regel nicht mehr mit allem abfinden und uns auch nicht wie Beckett kaputt machen wollen oder müssen. Der Rückschritt ist, dass jeder Beckett sein will, oder Beckham (Mann oder Frau), Kurt Cobain ohne Selbstmord, Steve Jobs ohne Krebs, „Conchita Wurst“ oder welche Bekanntheit auch immer. Wir lachen (vielleicht!) über unsere Starallüren, aber pflegen sie nichtsdestotrotz. So ist jeder unzufrieden, weil er es vermeintlich besser haben könnte, wenn. Also strengen wir uns an. Das ist eine große Triebfeder der Verhältnisse in unserer Fettwelt, wo wahrlich jeder mehr hat, als er bräuchte. Das hält das Elend der Welt mit am Laufen.

La petite bourgeoisie

Wie es dazu kam? Es wird viel zu wenig bedacht, welch fatale Rolle die Mittelklasse oder das „Kleinbürgertum“ in beinah allen Bereichen unserer Gesellschaften spielt. Sie/es ist Verhaltens-, Konsum-, Stilvorbild für alle hier und anderswo, die noch versuchen, sich oder ihr Land zu „entwickeln“. Alain Accardo hat die „kleinbürgerlichen Edelmänner“ aufs Trefflichste in Buchform behandelt: Das Kleinbürgertum verhindert den Klassenkampf und die Emanzipation, zerstört mit seinen Medien, aber auch durch seine bloße Beharrlichkeit die letzten Reste populärer Kultur, treibt zu viel, um es schnell darzulegen, darunter auch Gutes.

Hier ist es wichtig, auf das fragile Selbstverständnis dieser Klasse und ihrer Mitglieder aufmerksam zu machen: Die reden sich wirklich ein, sie seien verhinderte Stars, ihnen gebührten Ruhm und Anerkennung. Oder vielmehr wir tun das, jeder von uns, sofern er/sie nicht reich, arm oder (anders) milieuverhaftet genug sind, nicht nach „oben“ zu streben. Das Kleinbürgertum ist immer im Wettbewerb. Weil es aber zu dessen Wesen gehört, dass fast keiner gewinnt, sind so viele frustriert, verunsichert und gekränkt. Eigentlich wollen sie die Verhältnisse nicht, oder haben jedenfalls in der Jugend ein wenig dagegen gemosert. Sie beruhigen ihr schlechtes Gewissen gegenüber den Ärmeren und wegen der begonnenen ökologischen Katastrophe mit Fatalismus, Spenden und Bio-Einkäufen, wollen aber irgendwo auch ein (noch) größeres Stück vom Kuchen haben. Klassenlose Gesellschaft? – gern, aber Leistung soll sich trotzdem lohnen, und (ererbtes) Eigentum ist unantastbar. Um den Prozess der individuellen Menschwerdung – ganz selbstverliebt – auf vier Verse der Band grau zu verkürzen:

Man arrangiert sich, etabliert sich

Assimiliert sich, korrumpiert sich

Träumt vielleicht noch von der Revolution

Doch im Grunde fürchtet man sie schon

„Vielleicht“ träumt man von der Revolution, wahrscheinlich aber nicht. Der geneigte Lichtwolfleser, die (leider seltenere) Leserin des Magazins trotz Philosophie mache sich nichts vor: Die Leserschaft insgesamt, egal welcher Druckerzeugnisse, nimmt ab, ebenso wie der Umfang und vor allem die Tiefe des Gelesenen. […]


Lichtwolf Nr. 51

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