Heimlichkeit und Fremde

Im Mythos zu Hause: Drinnen ist es sicher, draußen ist das Un-Heimliche, so verraten uns Heideggers Blut&Boden-Denke und die ganz alltägliche Furcht vor dem Fremden.

von Timotheus Schneidegger, 19.12.2014, 10:06 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Die deutsche Sprache ist voller unübersetzbarer Preziosen. Bei der Wahl zum schönsten deutschen Wort kamen unlängst die „Habseligkeiten“ aufs Treppchen. Die haben die Anglophonen zwar auch und ähnlich in ihren „belongings“, und wenn eins jemandem gehört und zu ihm oder irgendwo hingehört, dann mag sich eine gewisse Seligkeit einstellen. Gar nichts Ähnliches haben die Anglophonen für die „Gemütlichkeit“, weshalb diese zu den bekanntesten Germanizismen neben Achtung, Blitzkrieg, Schnitzel, Lebensraum, Leitmotiv und Bereitschaftspotential gehört.

Umgekehrt kennt das Englische mit stranger, foreigner, unknown und alien eine Vielzahl von Worten, für die das Deutsche „der, die, das Fremde“ hat. Die Philosophie sah in diesem Begriff seit jeher auch eine Kontrastfolie für andere Begriffe: das Eigene, den Besitz, die Heimat, die Bekannten und Verwandten und nicht zuletzt die Erzählung der persönlichen und sozialen Identität.

Photo: Michael Helming
Einsame Hütte auf Bornholm, Photo: Michael Helming

1) Das Fremde als das Andere

Fremd ist zunächst einmal alles, was anders ist als du und alles, was du kennst. Das Fremde stellt eine Herausforderung dar, weil das Bekannte nicht mehr das Selbstverständliche ist. Das kann kränken, denn diejenigen, die anders sind als du, sind immer in der Mehrheit, die deine Gewohnheit, du seist Zentrum und Norm, ins Unrecht setzt.

Hesiod erzählt von dem Priester Tiresias, der eine weibliche Schlange während der Paarung tötete und daraufhin in eine Frau verwandelt wurde. Nach sieben Jahren als Frau tötete Tiresias eine männliche Schlange während der Paarung und wurde in einen Mann zurückverwandelt. Da er als einziger wusste, wie es ist, ein Mann zu sein, und wie es ist, eine Frau zu sein, suchten selbst Zeus und Hera bei ihm Rat. (Um auch ohne Schlangenmord und antiken Hokuspokus eine Ahnung zu bekommen, wie groß der Abgrund an Fremdheit zwischen den beiden Geschlechtern ist, sei den Männern Ute Gahlings großartige „Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen“ (Karl Alber, 2006) empfohlen.)

Aber es bleibt ja nicht bei der Differenz aus dem Sexus: Eine Frau wächst in Ostfriesland ganz anders auf als in Hamburg. Nehmen wir weitere Merkmale hinzu wie Religiosität, sexuelle Orientierung, Bildungsgrad und Einkommen, von Nationalität, Hautfarbe und Behinderung ganz zu schweigen, so grenzt es an ein Wunder, dass wir überhaupt in der Lage sind zu verstehen, was ein Mensch, der immer ein anderer Mensch ist, mit dem meint, was er sagt. Wenn wir es uns denn anhören wollen.

2) Das Fremde als das Seltsame / Ungehörige

Das Fremde sitzt als das Andere oft nur wenige Zentimeter von dir entfernt. Es kann auch aus Vertrauten und Vertrautem jederzeit hervorbrechen. Wenn Menschen sich anders verhalten als in der gewohnten Regel, befällt dich Befremden. Dann kommen sie dir ungewöhnlich, befremdlich, verwunderlich und seltsam vor. Das ist erfrischend und doch wieder eine Herausforderung der Regeln, die selbstverständlich waren, bis einer sie brach. In Köln und anderen Karnevalshochburgen ist wieder zu besichtigen, wie sich Seltsamkeit und Befremden ritualisieren lassen. Doch schon die Reise in die Großstadt oder aufs Land kann dir, je nachdem, woher du kommst, die Mitmenschen fremd erscheinen lassen, mit denen du Geschlecht, Sprache und Staatsangehörigkeit teilst.

Das Fremde als das Seltsame lässt sich immerhin ergründen. Im Roman „Der Fremde“ von Albert Camus erschießt die Hauptfigur Meursault ohne Grund einen jungen Araber. Meursault ist geständig, aber er kann und will zum Verdruss des Richters kein Tatmotiv nennen.

Meursault ist für die Gesellschaft ein Fremder wie diese ihm fremd ist. Er kennt ihre Regeln und versteht doch deren Gründe nicht: Sie kommen ihm seltsam vor. Für seinen Mord gibt es tatsächlich keinen Grund und es kann auch keinen geben, weshalb Meursault dem Gericht und der Gesellschaft nicht den Gefallen tut, seine seltsame Untat mit einem Motiv zu normalisieren. Erst dadurch entsteht auch für den Leser das Befremden vor einer latent mörderischen Gesellschaft, in der es Gründe dafür geben kann, einen Menschen zu töten.

3) Das Fremde als das Unbekannte

Das Fremde ist anstrengend, weil es alles in Frage stellt: Alltag, Gewohnheiten, das, was als normal gilt, was sich gehört und wie man sich benimmt.

Das Neue ist das Fremde, mit dem wir uns erst vertraut machen müssen, egal, ob es sich nun um ein neues Stück Unterhaltungselektronik handelt, dessen Bedienung deine Geduld auf die Probe stellt. Oder ob du es mit „dem Neuen“ in der Schulklasse oder Sportmannschaft zu tun hast, den man erst einmal beschnuppern muss. Mancher kann vom Neuen gar nicht genug kriegen und ist neugierig.

Der Ausdruck „sich mit etwas vertraut machen“ verweist schon auf den Widersinn der Forderung, Fremde müssten sich integrieren. Sie ist sprachlich wie praktisch unrealistisch und verrät überdies die Unlust an der Mühe, „sich mit den Fremden vertraut zu machen“. Der Neue kann sich vorstellen, aber nicht vertraut machen. Wenn man ihm einen Platz zuweist und ihm aus dem Weg geht, ist das keine Toleranz, sondern Bequemlichkeit. Stellt sich ein Fremder vor, dann stellt er sich dafür zur Verfügung, sich mit ihm vertraut zu machen.

4) Das Fremde als das Unzugehörige

Wem das zu umständlich ist, dem bleibt nur die zweite Art des Umgangs mit dem Fremden: Abschottung und Abgrenzung durch Zäune und Mauern. Das ist so wenig per se gut oder schlecht wie Neugier und Offenheit. Der Strategie der Neugier folgt auch der Missionar, der Händler und der Soldat, kurzum: der Eroberer. Er macht sich nicht mit dem Fremden vertraut, sondern eignet es sich an, indem er es seinen Regeln unterwirft.

Das germanische Wort fram, aus dem sich der, die das Fremde entwickelte, bedeutete ursprünglich „von weit weg“ oder „weit entfernt“. Der Vremde war im Mittelhochdeutschen noch der Gast, was sich im Wort „Fremdenverkehr“ erhalten hat. Es gibt Kulturen, die der Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert beimessen. Zwei mögliche Gründe:

1) Mangelnde sozio-ökonomische Eigendynamik: Die Reiseliteratur ist voller Wüsten-, Moor- und Talbewohner, die den Fremdling bestürzen, ihnen von der großen weiten Welt zu erzählen, aus der er zu ihnen gekommen ist, wo sonst nicht viel los ist.

2) Kulturelles Selbstvertrauen, also die Überzeugung von der Stärke der eigenen Kultur, die durch das Fremde bereichert, aber nicht ernstlich herausgefordert werden kann.

Im Umkehrschluss zeichnet sich eine fremdenfeindliche Gesellschaft durch hohe sozio-ökonomische Dynamik und/oder geringes kulturelles Selbstvertrauen aus. Auf der einen Seite gibt es Gesellschaften, die durch jeden Besucher daran erinnert werden, dass ihr goldenes Zeitalter lange zurückliegt. Auf der anderen Seite sind die Mitglieder westlicher Gesellschaften unter dem neoliberalen Dogma zu ununterbrochener Selbstoptimierung verpflichtet und ständig auf Bewährung. Die „Euroskeptiker“ der UKIP lassen einen riesigen Zeigefinger von der Plakatwand auf den Betrachter zeigen, darüber ist zu lesen: „26 million people in Europe are looking for work. And whose jobs are they after?“

Der Kapitalismus hat nicht unbedingt eine innere Tendenz zur Fremdenfeindlichkeit, wie die marxistische Kirche mit nicht den schlechtesten Argumenten behauptet. Allerdings befördert er die Abschottung vor dem Unzugehörigen durch sein Prinzip des Konkurrenzkampfes aller gegen alle. Du bist ganz alleine und über deinen Wert entscheidet „der Markt“, da ist wenig Platz für Neugier oder Solidarität. Das Krisengerede tut sein Übriges, um in den reichsten Ländern der Welt ein Klima der Bedrohung zu schaffen. Es macht den Rückzug ins Private (und Nationale) weitaus attraktiver als die offene Tür. Der Zaun ist Inbegriff dieser defensiven Heimeligkeit, die sich nicht aus ihrer verdienten Ruhe bringen lassen will. Von dem, was jenseits des Zauns vor sich geht, will man nichts wissen, wie es ja auch niemanden etwas angeht, was man im Privaten so treibt.

Dort gibt es nichts Fremdes: Alles ist von eigener Art, hält sich an die Regeln und ist vertraut. Mitunter ist das Fremde auch das nicht zugelassene Eigene, etwa die Sehnsucht des Homophobiefunktionärs nach saftigen Schwänzen.

Was innerhalb des Zaunes ist, gehört dazu. Das muss aber nicht zwangsläufig so sein, wenn wir Rousseau glauben dürfen: „Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen ‚Dies gehört mir‘ und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft.“

Rousseaus Kritik der ursprünglichen Akkumulation avant la lettre verweist unbeabsichtigt auf einen Zusammenhang zwischen Fremdheit und Besitz. Mein Besitz ist das, was mir gehört. Hingehören und dazugehören heißt im Englischen (to) belong und lässt dieselbe Verbindung anklingen. Der bürgerlichen Gesellschaft ist das Unzugehörige fremd: Das, was niemandem gehört, muss sie erobern und sich aneignen. Nichts fürchtet sie so sehr wie das Fremde, das nicht dazugehören, das niemandem gehören kann oder will.

Die Welt jenseits des Jägerzauns ist jedoch unermesslich größer als die übersichtliche im Innern. Je unrealistischer alle Welteroberungsphantasien im 20. Jahrhundert wurden, desto verbissener wurde ihre Umsetzung betrieben – militärisch, ökonomisch und wissenschaftlich.

5) Die Fremde als Ort

Die Fremde als Ort ist das Gegenteil des Zuhauses und vereint alle bisherigen Eigenschaften des Fremden: Hier ist nichts und niemand vertraut und alles und jeder unbekannt. Hier geht es anders zu als gewohnt. Hier gehört einem nichts und man gehört nirgends dazu.

Als Ort kehrt die Fremde das gewohnte Verhältnis um und macht für ihren Besucher erfahrbar, was es heißt, ein Fremder zu sein. Mit „Interesse“ meinte der Römer, sich aus dem Schneckenhaus zu trauen und dem Anderen auf halber Strecke zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu begegnen.

In „Sprache und Heimat“ (GA13) schreibt Heidegger es, jeder werde in die Sprache hineingeboren, wachse darin auf und wohne in ihr: „Sprache ist Sprache als Muttersprache.“ Wie es seine Art ist, lässt Heidegger auch in diesen Gedanken das Zusammenspiel von Hinge-hören und dazu-gehören anklingen und was es heißt, jemanden zu ver-stehen, also vermittels Sprache seinen Standpunkt – und sei es nur probeweise – einzunehmen. So ist das Fremde auch das Unverständliche, dasjenige, dessen Standpunkt ich nicht einnehmen und das meinen nicht einnehmen kann. Unter diesen Umständen ist es nahezu unmöglich zu verhandeln oder sich miteinander vertraut zu machen, weswegen Feindschaft umso erbitterter ist, je fremder man einander ist.

Heidegger warnt davor, die Sprache als bloßes Kommunikationsinstrument zu behandeln und dadurch zuerst der „angestammten überlieferten Bezüge zwischen Sprache, Muttersprache, Mundart und Heimat“ verlustig zu gehen und schließlich der Sprache und Heimat überhaupt. Diese Bezüge sind das notwendige Geleit, um „im Fremden das Eigene und aus dem Unterschied beider das Wesenhafte zu vernehmen“. Indes nimmt die Sprach- und Heimatlosigkeit des modernen Menschen weiter zu, obwohl und weil noch nie so viel geredet worden ist und kein Fleckchen Erde mehr frei bleibt von den Umtrieben des Menschen.

6) Das Fremde als das Unverfügbare

Andreas Steffens bestimmt in seinem Buch „Ontoanthropologie“ (2011) das Fremde als das Unverfügbare. Er zielt damit nicht nur auf die Fremde ab, die – Heidegger folgend – existentiell und metaphysisch überall ist.

Vermöge der gemeinsamen Sprache kannst du in einem gewissen Rahmen über deine Mitmenschen verfügen. Wenn du beispielsweise möchtest, dass jemand das Fenster öffnet, kannst du darum bitten und davon ausgehen, verstanden zu werden.

Verfügbar heißt auch vorrätig und bereit zur Verwendung. Hier klingt wieder der Aspekt von Besitz und Herrschaft an. Du verfügst zu Hause über dein Eigentum, das heißt: Du kennst es, besitzt es und bestimmst darüber, weil du es hast und weil es dir gehört.

Steffens zeigt nun auf, wie wenig dem Menschen tatsächlich verfügbar ist. Die Welt im Allgemeinen, seine soziale Umwelt und sogar sein eigenes Leben: Über nichts verfügt der Mensch in einem Maße, das hinreichend wäre, um sich heimisch zu fühlen. Ort und Zeitpunkt unserer Geburt und unseres Todes entziehen sich ohnehin unserem Willen. Nicht nur der Weltenlauf ist undurchschaubar und dem persönlichen Eingriff entzogen. Auch der je eigene Lebenslauf vollzieht sich unbeeindruckt von unserem Selbstbild als freie Subjekte.

Das Fremde als das Unverfügbare ist für Steffens die wesentliche Bestimmung der Welt für den Menschen. Nicht nur, wo dieser es leugnet und sich ein Heim, eine Heimat schafft, meldet sich das Fremde. Sigmund Freuds Psychoanalyse hat den menschlichen Geist damit gekränkt, nicht der Herr im eigenen Hause zu sein. Die Kontrolle und Unterdrückung von Instinkt, Trieb und Wahn, die sich jeder Steuerung entziehen und ihrerseits jederzeit den Willen zu kapern drohen, nimmt einen Großteil deiner kognitiven Kraft in Anspruch. Mitunter erleben wir sogar unseren Körper als das Unverfügbare. Im plötzlichen schweren Krankheitsausbruch und in Todesangst wird der Körper nicht mehr als Zuhause erfahren, sondern als sinkendenes Schiff, in dem das Ich unentrinnbar gefangen ist.

7) Das Fremde als Eindringling

Im Mai diesen Jahres ist mit Hansruedi Giger der Oscar-prämierte Künstler gestorben, dem wir das Alien verdanken, das im gleichnamigen Film von Ridley Scott Angst und Schrecken verbreitete und in der vergangenen Ausgabe als Genderkiller behandelt wurde. Nicht allein die düster-faszinierende Ästhetik hat das Alien zum Kult werden lassen. Vielmehr rührten Giger und Scott an eine menschliche Urangst. Das Alien ist mehr als ein menschenfressendes Weltraummonster. Es ist zu Beginn seines mörderischen Lebenszyklus ein unheimlicher Eindringling.

Der Mensch richtet sich in seinem Zuhause ein, dessen Wände ihn vor dem Wetter wie vor dem Fremden da draußen schützen sollen. Draußen ist es un-heimlich. In seinen vier Wänden ist er sicher und qua Hausrecht der Herr über alles, was darin geschieht. Diesen Hausfrieden garantieren ihm schon die ältesten Rechtsordnungen.

Das Alien im Kino dringt in den Bereich des menschlichen Wohnens und Arbeitens ein, ja sogar in den menschlichen Körper selbst. Die Furcht vor Einbrechern ist die ganz reale Ableitung der Urangst, das Fremde könne die Abschottung überwinden und ins Heimliche eindringen.

Daher die scheinbar „defensiven“ Namen rechtsextremer Organisationen (Wehrsport, Widerstand, Heimatschutz). Ihrem Selbstverständnis nach wollen Rechtsextreme nicht erobern, sondern verteidigen. Und zwar das, was sie für Heimat halten, gegen das Eindringen des Fremden.

8) Das Fremde als das Unheimliche

Ridley Scotts Kinofilm „Alien“ hatte im Deutschen den Untertitel: „Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt“ Damit ist das Fremde gleich dreimal auf dem Kinoplakat vertreten. Mit „unheimlich“ haben wir die letzte Charakterisierung des Fremden.

Das Wort „heimlich“ hat im deutschen Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel vollzogen. Wer etwas heimlich tut, tut es geheim, vertraulich und „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“, sozusagen im Privaten. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist uns noch als „heimelig“ erhalten. Im Gegensatz zwischen Heim/Heimat und Fremde wird deutlich, wie eng Haus, Besitz und Vertrautheit begrifflich zusammenhängen und warum das Fremde un-heimlich ist.

In Kierkegaards Unterscheidung ist Angst die Dialektik von Anziehung und Abwehr ohne konkretes Objekt. Es ist vielmehr das Nichts, das dir in der Angst begegnet. Viel lieber ist dir da die Furcht, die stets objektbezogen ist und also pragmatisch bewältigt werden kann. Das Grundgefühl der Angst entsteht aus der menschlichen Fremdheit in der Welt, der nicht zu entgehen ist. Dem Objekt der Furcht jedoch kann man entkommen oder ihm begegnen; man kann das Unheimliche aussperren oder bekämpfen. Statt als Fremder heimatlos in der Welt Angst zu haben, ziehen Menschen es vor, sich ein fest umrissenes Heim zu schaffen und das Fremde jenseits dessen als das Unheimliche zu fürchten. In diesem begrifflichen Zusammenhang wird auch erkennbar, warum Xenophobie, also die Furcht vor dem Fremden so oft mit einer vor der demokratischen Öffentlichkeit verbunden ist: Beide sind dem Subjekt unheimlich, weder ganz durchschaubar noch verfügbar.

Und das Fremde da draußen wächst mit jedem Tag: „Die Bilder passen nicht mehr zusammen, sie erklären nichts und werden von nichts erklärt. […] Ukraine, Syrien, Gaza, Irak, NSA und Ebola. Die Welt geht nun an allen Ecken und Enden unter“, wie Georg Seeßlen Mitte Oktober schrieb.

9) Die Zähmung des Fremden durch den Mythos

Weil „Angst immer wieder zu Furcht rationalisiert werden muss“, schreibt Hans Blumenberg, erfindet der Mensch „Kunstgriffe wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unnennbare“: „Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat“ („Arbeit am Mythos“, 1979)

Ein Mythos ist komplexitätsreduzierend, er bringt das Unüberschaubare in geordnete Strukturen. Claude Lévi-Strauss erkannte in der Bildung von Gegensätzen das Grundmuster, nach dem alle Menschen ihre Umwelt ordnen. Er ging davon aus, dass dieses mythische Denken in der Moderne eine Renaissance erlebe. Wer schon einmal seinen Computer oder sein Auto angeschrien hat, ahnt, worauf Lévi-Strauss hinauswill.

Der Mythos weist dem Fremden seinen Platz zu und suggeriert damit Verfügungsgewalt über das Fremde. Der Mythos durchdringt, ordnet und verknüpft alle Bereiche des Lebens unmittelbar. Das abstrahierende, rationale oder „aufgeklärte Denken“ dagegen schafft kein einheitliches Weltbild und es relativiert jede Kultur zur Schöpfung des Menschen, die so oder anders sein könnte. Im Mythos gibt es den Stolz, Deutscher zu sein. Im aufgeklärten Denken gibt es nur den Zufall des Geburtsortes und des dort geltenden Staatsbürgerschaftsrechts.

Der Mythos ist zeitlos und vorbewusst. Er ist autoritär und integrativ: Wir sind so und so und die anderen sind so und so. Das „kulturschaffende Waldvolk“ der Germanen gegenüber dem „kulturzersetzenden Wüstenvolk“ der Juden, der aufgeklärte Westen gegen den intoleranten Islam.

Wolfgang Benz wies darauf hin, dass sogenannte Islamkritiker die gleichen Erzählungsmuster verwenden wie frühe Antisemiten. Mit Blick auf die Bewältigung des Fremden mit dem Mythos zeigen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit die gleichen Erzählungsmuster der Unterwanderung und Schwächung durch das Fremde sowie der ahnungslosen Masse, die durch die wenigen Durchblickenden radikal erweckt und kämpfend gerettet werden muss. In Sankt Petersburg wurde Anfang November ein iPhone-Denkmal abgerissen, wofür es gute Gründe gäbe, von denen aber keiner zum Zug kam. Stattdessen war das Coming-out des Apple-Chefs Tim Cook der Grund. Vor einem Jahr hatte Putin immerhin ein Gesetz unterzeichnet, das „homosexuelle Propaganda“ unter Strafe stellt. Ein Gesetz, das nicht zuletzt darum barbarisch wirkt, weil ihm der Mythos vom Fremden (hier als die gottgewollte Geschlechtsordnung zersetzender Eindringling) zugrunde liegt.

Zu Hause, in der Heimat kennt man sich aus. Man weiß wie die Leute ticken und verteidigt diese faktisch subjektive Illusion erbittert gegen die Realität, in der freundlich grüßende Nachbarn plötzlich durchdrehen, aus lieben Kindern auch mal Schwerverbrecher werden und die meisten Vergewaltigungen nicht im dunklen Park, sondern zu Hause – heimlich – verübt werden. „Das hat es früher nicht gegeben“, ist der Ausruf des jäh Entfremdeten, der sich um seine Heimeligkeit betrogen sieht. Schuld daran waren und sind das Internet, Rockmusik, Romane, Luther, Rom oder – zu Platons Zeiten – die geschriebene Sprache. Jede Kulturtechnik kommt als Neues, als Fremdes in die Welt, in der das Fremde allgegenwärtig ist.

Die Mythen des Alltags sind das Pfeifen im Wald. Und das kann durchaus unappetitlich sein, etwa wenn Akif Pirinçci einen Bestseller über „Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ schreibt und Thilo Sarrazin in anderer Form, aus gleichen Motiven am Mythos verdient, warum es mit Deutschland – der viertgrößten Wirtschaftsnation der Welt – kontinuierlich bergab ginge.

Die allgemeine Weltlage ist weniger unheimlich, wenn man sich vormacht, die Berichterstattung in den sogenannten „Mainstreammedien“ sei von Kriegshetzern und Ausbeutern gesteuert. Der Versuchung, sich im Mythos die Welt etwas heimeliger zu machen, ist ebenso menschlich wie die Furcht vor dem Unheimlichen. Der Mythos ist eben kein kindischer Aberglaube, den man jemandem leicht ausreden kann. Im Gegenteil, er ist die Grundstruktur des menschlichen Bewusstseins. Darum schrieben Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ auch: „Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut.“

Das ist der Auszug ins Unheimliche. Die Lektüre von Adorno und Heidegger lehrt jedoch zur Genüge, wie barbarisch auch diese hart denkenden metaphysisch Obdachlosen auf Erden hausen.


Lichtwolf Nr. 48

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