Weitermachen? Bloß nicht!

Wir wissen, dass es so nicht weitergeht. Die Medien schreiben seit Jahren davon, das vorliegende sogar schon ein wenig länger als die anderen. Ja, aber wie geht es denn dann bitte weiter?

von Marc Hieronimus

 

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat.“
– Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (MEW 8:117)

 

Klimawandel, Artensterben, Plastik überall, Ressourcenknappheit. In der Zukunft kein Öl, kein Wasser, kein Ackerboden, kein Wald, kein Bausand mehr. Auch Max Mustermann und Lieschen Müller haben ihre Zuversicht verloren. Es muss etwas geschehen, es geschieht aber zu wenig. Ethisch und ökologisch völlig unverantwortliche Übersprungshandlungen wie „Biokraftstoff“ und Abwrackprämien erweisen sich als propagandistische Strohfeuer. Immer mehr Menschen verzweifeln beim Versuch, den Kurs des Schiffs in den Abgrund zu ändern, indem sie auf Deck ein paar Schritte in die Gegenrichtung tun. Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft: Die verantwortliche Menschheit – der industrialisierte Westen – steht wie der Ochs vorm Berg, wie das Kaninchen vor der heranrollenden Dampfwalze, weil es für diese Situation einer gemeinschaftlich verursachten globalen, lebensbedrohlichen Katastrophe keine Vorbilder gibt. Beim FCKW konnte man sich schnell auf ein Verbot einigen, weil der Stoff verzichtbar und noch nicht lange im Umlauf war. An den fossilen Brennstoffen aber hängen zugleich alle Errungenschaften und Zerstörungen der letzten zweihundert Jahre. Ohne Kohle, Gas und Öl kein Transport, keine Energie, keine Chemie, kein Kunststoff, keine Elektronik, keine Kommunikation – oder eben nur auf frühneuzeitlichem Niveau. Hätte man früh auf die Sonne (und von ihr abgeleitet auf Wind und Biogas) als einzige dauerhafte Energiequelle gesetzt, wären wir längst aus dem Gröbsten raus oder vielmehr nie hineingeraten. Hat man aber nicht. Wie aber kommen wir nun von A nach B?

Häuser am Rhein
(Photo: Marc Hieronimus)

Erste Möglichkeit: die große Einsicht kommt von selbst.

„Wo aber Gefahr ist / wächst das Rettende auch“ (Hölderlin, Patmos). Und wenn Gesellschaften sich gleichsam schlafwandlerisch zum Guten wandelten? Weithin anerkannt ist heute, dass die Erde sinnvollerweise als großer Organismus mit unterschiedlich langen Kreisläufen zu verstehen ist, auch wenn vielen das Wort Gaia und der Name James Lovelock nicht über die Lippen kommen. Auf große Krisen reagiert der Organismus Erde mit entsprechenden Gegenmaßnahmen, ohne dass ein Fisch oder Vogel sich dessen bewusst zu werden bräuchte. Es könnte doch auch gesellschaftliche Selbstheilung geben. Sind wir nicht heute viel umweltfreundlicher und nächstenliebender als z.B. 1933? Individuell vermutlich, aber wandelt sich deshalb auch der Zeitgeist zum Guten? Just als 1968 die junge Generation nach Abkehr von Krieg und entfesselter Technik rief, schrieben Foucault, Derrida und Lyotard gewissermaßen die Gründungsmanifeste des Relativismus, der die ihre zu einer Ansicht unter vielen machte. Die postmoderne Philosophie wird verehrt (höchstes Adelsprädikat: „rebellisch“), weil sie die Welt nur unterschiedlich interpretiert, wo es darauf ankäme, sie zu verändern. Der Wandel hat starke Widersacher in Form fester Strukturen, hier den Willen, Oberdenker zu haben, die erklären, warum alles ist, wie es ist. Starke kämpferische Vereinigungen wie z.B. Gewerkschaften sind auch nur so lange Teil der Heilung, bis sie zum Symptom werden. Robert Michels schrieb schon 1910 über die Sozialdemokraten der Kaiserzeit, jede Organisation bringe sich abkapselnde Führungsriegen hervor. Am Ende verwandle sich die Organisation von einem Mittel zum Zweck zum Selbstzweck. „Das Organ siegt über den Organismus.“

 

Zweite Möglichkeit: Schock.

Gesellschaften unter Schock machen fast alles mit, wie wir aus Naomi Kleins lange vergriffenem Buch „Die Schock-Strategie“ gelernt haben, in dem die kanadische Journalistin zeigt, wie auf Naturkatastrophen, Umstürze, Kriege die neoliberalen Raubzüge folgen konnten. Zwischen Trümmern kommen Gesellschaften auch zur Einsicht. Nach dem Ersten, auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es ein breites Verständnis für den Zusammenhang von Kapitalismus und Krise, Kapitalismus und Krieg. Die 1946 in Hessen per Volksentscheid beschlossenen Sozialisierungen scheiterten nur am Veto der amerikanischen Besatzer. Auch ins Grundgesetz schrieb man die Möglichkeit der Enteignung großer Betriebe. Wahrscheinlich gilt: Je größer die Krise, desto größer die mögliche Veränderung. Wir wissen bislang nur, dass Krise ist, wir spüren sie aber nicht. Aus der Kuschelkatastrophe müsste demnach erst eine handfeste werden, damit es zur notwendigen grundlegenden Veränderung kommen kann. Giuseppe Tomasi di Lampedusas im Leopard formuliertes Bonmot: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist“ trifft den Nagel auf den Kopf, wenn wir es als die Haltung derer verstehen, die zu allen Zugeständnissen bereit sind, solange nur ihre Macht nicht in Frage gestellt wird. Selbst siegreiche Revolution ver-siegen mit geradezu gesetzhafter Regelmäßigkeit, bevor ihre Ziele erreicht sind, wie schon Marx im Achtzehnten Brumaire erkannte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (MEW 8:115)

Lenin hat die Wichtigkeit revolutionärer Bildung hervorgehoben, Wilhelm Reich die Versteinerung der geltenden Verhältnisse bis in den menschlichen Körper hinein. Wo bitte wäre da zur Zeit, d.h. kurz vor dem Knall, schon das Subjekt revolutionären Wandels? Die jugendlichen Freitagsaktivisten? Extinction Rebellion? Die Millionen Aktivisten in Lateinamerika! Aber die da unten lässt man nicht.

 

Möglichkeit drei: Der große Knall.

Das wahrscheinlichste ist leider der Dritte Weltkrieg, egal ob um „Sicherheit“, „Freiheit“ oder Wasser und Brot, und vielleicht hat er schon angefangen. Ende 1939, ja noch Anfang 1941 wussten die meisten Menschen nicht, dass der begonnene der Zweite Weltkrieg war. Und kein Befürworter eines großen Krieges hat sich dessen tatsächliches Ende ausmalen können, das schafften allenfalls die verfemten Pazifisten. Kommen wir um WK3 herum, erwartet uns der Zusammenbruch durch die Energie- und Rohstoffkrise. Wer erinnert sich noch an die letzte, 1973? Damals haben die OPEC-Länder als Antwort auf den Jom-Kippur-Krieg den Erdölhahn ein wenig zugedreht, der Ölpreis hat sich in kurzer Zeit vervierfacht. Wenn aber für sagen wir eine Woche weder Gas noch Öl zu haben sind, bricht alles zusammen: Transport, Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft, Produktion, einfach alles.

Also was tun, Vorräte horten? Ja, aber für wie lange denn? Ein Atomschlag in der Nähe kann bedeuten, dass man nach zwei Wochen wieder vor die Tür kann, denn die Radioaktivität geht anders als bei AKW-Unfällen rasch zurück (über so etwas informiert jetzt ungefragt Youtube). Aber dann haben natürlich noch lange nicht wieder die Supermärkte geöffnet, und wenn, wohl kaum mit dem gewohnten Warenangebot. Also zwei Monate? Ein Jahr, bis man autark vom eigenen nur noch leicht strahlenden Garten leben kann? Das kann hierzulande – anders als in den armen Ländern Europas wie Rumänien oder Ukraine – so gut wie niemand mehr, auf dem Land nicht und noch weniger in den dann noch übrigen Großstädten. Landwirtschaft und Urbanität sind nicht zwangsläufig Widersprüche: Im 19. Jahrhundert exportierte Paris Schweinefleisch und Gemüse (auch unser Champignon (frz.: Pilz) ist eigentlich ein Champignon de Paris, ein Pilz, der in den endlosen Katakomben unter der Weltstadt gedeiht), aber dafür braucht es Fläche und Expertise. Heute leben nur noch 1,3% der deutschen Erwerbstätigen vom Primärsektor, und ein bisschen Schnittlauch und Basilikum vom Balkon schaffen noch keine Nahrungsmittelautarkie.

Egal, wie wir durch die Krisenzeit kommen, danach muss es eine globale Einsicht geben in den Irrsinn der heutigen Zeit. Irrsinn, weil anders als beim Erdöl in vielen Bereichen eine Unterschrift genügte, um das unverantwortliche Handeln zu beenden. Tag für Tag bringen wir über Reifen und Sohlen Mikroplastik in die Umwelt und damit ins Meer, das nach wissenschaftlicher Expertise 2.000 Jahre zum Verrotten braucht. Da soll es nichts Besseres geben? Was richten wir mit unserer Baumwollkleidung an – Wüstenbildung, Herbi-/Fungi-/Pestizide, bis zu 7 kg CO2 pro T-Shirt, wo es Leinen, Hanf und Brennnesseln genauso täten. Egal, wo man schaut, es gibt verhinderte Lösungen auf der materiellen und auf der ideellen Ebene. Wir müssen uns all die anschauen, die dem kapitalistischen Trubel ihre verhassten, belächelten oder verschwiegenen Gegenmodelle und -überlegungen gegenübergestellt haben: Marx/Engels natürlich, Ellul und Charbonneau (LW59 und 61) und z.B. auch Ivan Illich, um den es hier im Weiteren gehen soll.

Ivan Illich (Illu: Valérie Paquereau)

Ivan Illich

„Das gesamte Werk Illichs ist eine Infragestellung der Entwicklung, des Wirtschaftswachstums, der Industrialisierung (…) und der modernen Lebensweise“, schreibt Serge Latouche über den ungemein belesenen und in den späten Lebensjahren mehr als zehnsprachigen Denker Ivan Illich. Er selbst sah seine Arbeit als einen „Versuch, mit großer Traurigkeit die Tatsache der westlichen Kultur zu akzeptieren“, deren Ausbreitung und Auswirkung er besonders in Lateinamerika sehr genau studieren konnte. Dabei war ein kein verhärmter Kritiker der Gegenwart oder Prophet einer düsteren Zukunft: „Ich vermute sehr, dass es möglich ist, eine Lebenskunst in der Jetzt-Zeit zurückzugewinnen. Ich glaube an die Kunst zu leiden, an die Kunst zu sterben, an die Kunst zu leben, und, wenn es in einer nüchternen und hellsichtigen Weise passiert, glaube ich an die Kunst des Vergnügens – die Kunst, ein frohes Leben zu führen.“ Wer immer Illich in Seminaren, privaten Diskussionen, Gesprächen, auf Symposien oder (anderen) Feiern kennengelernt hat, schildert ihn als einen in sich ruhenden offenen und warmherzigen Menschen, der seinen Gesprächspartnern zuhörte und ihnen Zugang zu anderen vermittelte; Begegnungen mit ihm waren Feste der Freundschaft und der „Konvivialität“.

Als Dozent und Buchautor machte er allerdings keine Konzessionen an den Zeitgeist oder die Befindlichkeiten seiner Leserschaft. Wie der von ihm verehrte Jacques Ellul kam er noch aus einer Zeit, in der „menschliche“ Strukturen, wenn schon nicht mehr vorherrschend, so doch noch möglich und durchaus verbreitet waren. Deutlicher noch als Ellul erlebte er in Lateinamerika die Auswirkungen der forcierten Industrialisierung und „Verwestlichung“ über Jahrhunderte entstandener Strukturen und Beziehungen. […]

 

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