Vom Reisen und Denken

„Es wird >Kein Gedanke zu Ende gebracht<. gedanken="" sind="" sowieso="" unm="">zu Ende zu bringen>, – es wird keine >Handlung

von IPuP-Press, 19.06.2011, 23:14 Uhr (Neues Zeitalter)

Was interessiert, ist der Zusammenhang von Reisen und Denken, wobei noch unklar ist, ob das Denken Reisen sein oder der Reisende denken soll [Im Endeffekt ergibt sich ein Versuch, Reisen zu denken]. Vermutlich handelt es sich bei dem, was beschrieben und bedeutet werden soll, vielmehr um eine Möglichkeit als um eine Wirklichkeit. Gerade weil es niemals ohne letztere auskommt, […]

Wohin der Weg genau gehen wird, ist noch unklar, obwohl bereits eine Richtung eingeschlagen ist. Zu beachten ist, dass auch das Lesen selbst ein Reisen sein kann. Einerseits im Sinne des Sich-befindens in einer fremden Welt. Dieser Aspekt gilt zunächst einmal [nur?] für das Lesen fiktionaler Texte. Andererseits bedeutet es einen Verzicht auf die Linearität, die den kürzesten Weg nehmen will [sofern man einen Begriff des Reisens annimmt, der noch zu entwickeln sein wird]. Dieser Text ist nicht auf einer Eisenbahnlinie zu bereisen. Wer es trotzdem versucht, ist selbst schuld. Ein Text, der bereist wird, kann von Felsspalten durchzogen sein, die Umwege erzwingen. Es mag Sackgassen geben. Manchmal wird etwas aussehen, als sei es bereits in Reichweite, und doch erst nach vielen Kurven erreicht werden. Dringende IPuP-Reisewarnung: Die Metaphern sollten ernst genommen werden. Es ist sinnvoll, wenn auch nicht notwendig, die Reise als eine kreisförmige Bewegung zu betrachten. Kehrt die Reise nicht zu ihrem Ausgangsort [zu bedenken: Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss.] zurück, ist sie nicht beendet, sondern abgebrochen worden. In diesem Sinne überdehnt die Rede vom Leben als Reise die Grenzen der Metapher.

Warum sich überhaupt auf den Weg machen? Da sind zunächst einmal die ganz pragmatischen Gründe: Gereist wird, um Geld zu verdienen. Enzensberger weist in seinem Aufsatz zur „Theorie des Tourismus“ darauf hin, das im frühen Hebräisch die Worte „Kaufmann“ und „Reisender“ synonym waren. Reichtümer anhäufen, Prestige erlangen und dabei ein wenig plündern waren und sind Motive, die Menschen vom heimischen Herd in die Welt treiben. [Flucht / Not] Auch Besuche von Verwandten oder Freunden, medizinische Gründe etc. Warum nicht?

Polemisches

a) Backpacker stinken!

Der moderne Backpacker unterscheidet sich nicht von dem von ihm verhassten Massentouristen. Für ihn gilt, was Enzensberger noch dem Pauschalreisenden bescheinigt: Er konsumiert vorfabrizierte Erfahrungen. „Die Befreiung von der industriellen Welt hat sich selbst als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden.“ Die Probe aufs Exempel ist leicht gemacht. Man lese einen „Lonely Planet“-Guide zu einem x-beliebigen Land, lerne die zentralen Sehenswürdigkeiten (2) auswendig, suche das nächstbeste Hostel auf und warte. Über kurz oder lang wird dort ein Rucksackreisender aufzufinden sein, der tatsächlich (oder doch nicht?) in besagtem Land war und mit dem nun ein ergötzlicher Erfahrungsaustausch stattfinden kann, der vor allem in der gegenseitigen Versicherung der Einzigartigkeit und Exotik der Erfahrungen bestehen wird. Nicht, dass dem gemeinen Backpacker die Freude und Lust an seinen Erlebnisse abgesprochen werden sollen, doch statt der vielmals vorgeschobenen hehren Ziele, Freiheiten und Authentizitäten erlebt er in Wirklichkeit, was auch TUI verspricht: Eine gute Zeit mit Gleichgesinnten, ein wenig Entspannung, ein wenig körperliche Betätigung, ein paar Drogen, postkartentaugliche Photos und im besten Fall noch ein wenig Sex.

b) Niemand reist aus Neugier!

„Das Einzige, was der Mensch tun möchte, ist sich entspannen, sonst nichts. Er will weder Verbrechen begehen, noch sonst etwas tun.“ (3) Der Begriff der Neugier, behauptet als Motivation des Reisens, ist in Wirklichkeit der Versuch, einen negativen Grund – den des Mangels – in einen positiven umzudeuten. Dadurch wird ein klarer Blick einem diffus-optimistischen Menschenbild geopfert. Niemand würde auf Reisen gehen, verhoffte er nicht dort etwas zu finden, was ihm im Alltag versagt bleibt. […]

Um eine zynische Gleichsetzung zu vermeiden, ist es wichtig, an dieser Stelle auf den Unterschied zwischen Mangel und Not hinzuweisen. Wer Not leidet, wird sich nur selten entschließen zu reisen. Er flüchtet, sucht, vielleicht vagabundiert er oder wird zum Piraten. Es geht weniger darum, mit dieser Unterscheidung diesen Formen der Mobilität ihre Legitimation abzusprechen, als vielmehr darauf hinzuweisen, dass ihnen eine existentielle Notwendigkeit zugrunde liegt, gegenüber der das Reisen stets ein Luxus mit Netz und doppeltem Boden darstellt.

Von der Möglichkeit eines zweckfreien Reisens

Wie ist es möglich, von einer Zweckfreiheit des Reisens zu sprechen, wenn doch bereits die vielfältigsten Motivationen für das Reisen benannt wurden? Indem zunächst einmal zugestanden wird, dass nicht jedes Reisen ein zweckfreies ist. Handelsreisen sind ebenso wie Erholungsreisen eindeutig ausgerichtet: Sie sollen Profit erbringen beziehungsweise zur Reproduktion von Arbeitskraft beitragen. Waren die Verhandlungspartner zu engstirnig oder das Hotel zu überfüllt und auch noch direkt neben einer Baustelle, war die Reise eine schlechte, ein Misserfolg. Trotzdem geht es nicht darum, einer Hippie-Romantik im Sinne eines „Der Weg ist das Ziel“ hinterherzuhängen. Das ist Bullshit. Der Weg ist der Weg und das Ziel ist das Ziel. Alles andere heißt, sich im Reisen einzurichten.

Thesen:

Die zweckfreie Reise kann kein Misserfolg sein. Sie ist mehr oder weniger intensiv, mehr oder weniger anstrengend, mehr oder weniger erkenntnisreich.

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Auch die zweckfreie Reise besitzt eine Motivation. Sie macht jedoch nicht den Zweck der Reise selbst aus, sondern führt lediglich dazu, sie zu beginnen. Die Handlung des Reisens wird zum eigenen Zweck und damit frei von anderen Zwecken.

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Die Zweckfreiheit der Reise bedeutet nicht ihre Zwecklosigkeit. Tatsächlich besteht sowohl die Möglichkeit, dass die in ihr gemachten Erfahrungen sich im Nachhinein als bestimmten persönlichen Zwecken zuträglich erweisen oder gesellschaftlichen Zwecken entgegenkommen. Die zunehmende Förderung von Reisen bis hin zum Reisezwang als Teil der Karriereplanung kann in diesem Sinne verstanden werden [Reisen als Management-Training: Siehe hierzu auch „Peter Sloterdijk und die Paläopolitik“, Lichtwolf Nr. 31, S. 6].

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Die zweckfreie Reise ist eine Idee, ist eine gedachte Möglichkeit. In Wirklichkeit ist sie zumeist mit anderen, zweckgerichteten Formen des Reisens vermengt und lediglich ein diesen abgetrutzer Moment.

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Die zweckfreie Reise ist nicht notwendig eine sinnlose Reise. Sie kann als un-sinnige Reise einer anderen Regelhaftigkeit folgen, oder ihren Sinn im Nachhinein als Erzählung oder sogar als Teil einer größeren Lebensdichtung bekommen.

Reisen als Erkenntnismodus

„Vor dem Trip liegt die Drift, das Bewußtsein, daß das ganze Leben an einen Punkt gelangt ist, wo das Ich eine andere Qualität erhält und zur Überprüfung all dessen drängt, was seit der Geburt geschehen ist. Mindestens dessen – denn es schießt über alles hinaus, bezieht den Punkt, der man selbst ist, in der Zeit geworden ist, in diese Prüfung mit ein“. (4)

Von der Wissenschaft unterscheidet sich das Reisen als Erkenntnisproduktion durch die enge Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Fremderkenntnis. Beim Reisen gibt es keine Erkenntnis, die nicht vom auf das erkennenden Subjekt bestimmt, geprägt ist, bezogen ist. Etwas pathetisch spricht Marianne Meier in ihrem Buch „Reisephilosophie“ davon, dass beim Reisen „die starre Subjekt-Objekt-Beziehung preisgegeben [wird], denn die äußeren Anschauungen schmelzen mit den Gedanken und Empfindungen im Inneren zu einer neuen geistigen Welt.“ Das Unsicherwerden gesellschaftlicher Konventionen, der eigenen Wahrnehmung und des eigenen Wahrgenommenwerdens.

Aber: Wo nichts ist, kann auch nichts erkannt werden: Erkenntnis ist produktiv, Reisen kann also eine Form der Ich-Bildung sein. Es gibt die Möglichkeit, die eigene Lebensdichtung neu zu schreiben [„Das merkwürdige Verhältnis, das wir zu uns selbst bekommen, durch den Zwang, häufig im Leben stereotype Biographien zu verfassen: Bewerbungen, Lebensläufe.“]

Darüber hinaus ermöglicht das Reisen ein außer-gewöhnliches Reisen von Raum und Zeit (Heterotopien und Heterochronien).

Der Weg als Ziel – Regression und Reisen

Neben seinem transgressivem Moment ist dem Reisen immer auch ein regressives Moment eigen. Die Flucht aus der Alltagswelt, ihren Zwängen und Verpflichtungen, ist, neben der immer auch darin enthaltenen Kritik am bestehenden, auch die Flucht vor Verantwortung und Verbindlichkeit. Das reisende Individuum, von seinen Bindungen zumindest temporär befreit, wird auf sich selbst und seine basalen Bedürfnisse zurückgeworfen (Je sicherer die Reise, desto geringer dieses Moment). Dieser Moment der Befreiung, der auch ein beängstigender sein kann, dieser Moment, in dem sich ein vielfarbiges Feld von Möglichkeiten öffnet, sollte nicht mit der erhofften Freiheit verwechselt werden. Wer sich, als selbsternannter Aussteiger in diesem Feld wieder dauerhaft beheimatet, unterwirft sich einerseits neuen Zwängen und verzichtet andererseits auf die Verwirklichung der Möglichkeiten. Die gern behauptete gesellschaftliche Veränderung oder gar Befreiung findet sich so sicherlich nicht. [Tatsächlich ist dies ein Aufruf, die Sesshaftigkeit selbst in Form der Reise abzulehnen.] Wer umgekehrt Regression per se als etwas Schlechtes und zu vermeidendes ansieht, ist selber schuld.

Nichtreisendes Reisen

Das Reisen ist nicht an die Form der physischen Ortsveränderung gebunden. Folgende Bereiche lassen sich ebenso als Formen des Reisen begreifen [Oder besteht doch nur sehr enge Verwandschaft?]:

  • Sexualität: Zum Verhältnis von Grenzüberschreitung und Erkenntnis siehe beispielsweise Georges Batailles, „Das obszöne Werk“. Generell scheinen die Elemente der Zweckfreiheit, der Macht, des Spiels und weitere Aspekte, einschließlich der Abgrenzung gegenüber der reinen am Reproduktionszweck ausgerichteten Erscheinungsformen gleich angeordnet zu sein.
  • Drogen: Nicht umsonst heißt es Trip.

Macht und Kontrolle beim Reisen

Reisen findet nicht in einem machtfreien Raum statt. Ganz im Gegenteil. Einerseits gibt die Reise die Möglichkeit, sich in einem Feld zu bewegen, in welchem die Machtstrukturen anderen Linien folgen, die Kräfteverhältnisse anders sind. Dies ermöglicht es dem Reisenden zu erkennen, wo und wie sich Machtverhältnisse in seinen Körper, in seinen Kopf eingeschrieben haben. […]

Das Überschreiten einer Grenze weist den Reisenden (zudem) immer als eine Person aus, die entweder sich selbst bemächtigt, eine Grenze zu überschreiten, oder von vornherein schon dazu berechtigt ist. Damit setzt sich der Reisende, ob er will oder nicht, vom Nichtreisenden der entweder unfähig, unwillig oder unbefugt ist, ab. Die Überwindung erscheint dabei als persönliche Überwältigung eines Hindernisses. Die Grenzüberschreitung und damit verbundene Selbst- und Fremderkenntnis erweitern [also] scheinbar oder tatsächlich den Handlungsspielraum des Reisenden. […]

Die faktische geographische Entfernung eines Reiseziels sinkt in sofern in ihrer Bedeutung, als sie immer weniger über die Schwierigkeiten des Zugangs, die Geschlossenheit der zu überwindenden Grenzen und damit auch über die Überwindungsleistung des Reisenden aussagt.

Andererseits sind viele Formen des Reisens nicht denkbar, ohne die Illusion von Kontrolle aufgeben zu müssen. Reisen heißt auch, bewusst mit Unkontrollierbarem umgehen müssen (ohne sich dem schicksalhaft zu ergeben).


(1) Bernward Vesper: Die Reise.
(2) „Der Begriff der Sehenswürdigkeit [straft] die Zwecklosigkeit der Reise, welche erst die ersehnte Freiheit garantiert (…) Lügen. Sie ist der Besichtigung nicht nur würdig, sie verlangt nach ihr auf gebieterische Weise. (…) Mit der Erfüllung dieser Pflicht gilt der Tourist die Schuld ab, die er heimlich in seiner Flucht vor der Gesellschaft erblickt.“, Enzensberger
(3) Boris Groys, zitiert nach Carl Hegemann: Die ewige Raststätte: Trash, entschleunigt.
(4) Bernward Vesper: Die Reise.

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