Von Pandas, Löschpapier und Siegesgöttern

Vergessen – dieses makelhafte Ding. Nicht gerade der Darling unter den menschlichen Handlungsmöglichkeiten. Wer vergesslich ist, gilt als unzuverlässig, als lebensuntüchtig. Manchmal sogar als dumm. Von der Wissenschaft als vermeintlicher Tod des Wissens gehasst, kann dem Vergessen wohl zu Recht der Titel des ungeliebten Stiefkindes der Philosophie zugesprochen werden.

Gonzo-Science von IPuP-Press

(Photo: Cimberley, pixabay.com, CC0)

Solchermaßen ausgestoßen aus der Hall of Fame der Geisteswissenschaften giert das Vergessen nach Liebe und Zuwendung und erweist sich somit als optimales Thema und Forschungsobjekt des IPuPs. Denn, alleingelassen und herumgeschubst auf dem Spielplatz der Ideen, wirkt es so unschuldig und hilfsbedürftig wie ein Pandababy. Und die Verehrung des Panda gehört zu den Pflichten eines jeden IPuP-Mitarbeiters. Da es sonst eigentlich keine weiteren Pflichten gibt, besteht ein IPuP-Projekt zum größten Teil aus Prokrastination. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Eine statistische Erhebung darüber ist zwar seit längerer Zeit in Planung, aber – hier beißt sich die Schlange in den Schwanz – scheitert an genau jenem hohen Prokrastinationsanteil. Wird also verschleppt, verdrängt, vergessen.

Wir alle sind anscheinend Profis des Vergessens. Es ist tägliches Werkzeug eines jeden Prokrastinierers. Die Kunst des Aufschiebens besteht schließlich genau darin, sich des Aufschiebens nicht bewusst zu sein, die zu erledigenden Dinge alle zu vergessen. Die Briefe zu übersehen, die mit der Räumung des Instituts drohen, den dringend notwendigen Zahnarzttermin zum vierten Mal zu versäumen und den Herausgeber dieser Zeitschrift bis zum letztmöglichen Zeitpunkt auf das Eintreffen dieses Artikels warten zu lassen.

Durch nicht repräsentative Studien ist belegt: Die Möglichkeiten des Prokrastinierens sind schier unerschöpflich. Mehr oder weniger verdeckt teilnehmende Beobachtung des eigenen Lebens. Empirische Studien haben aber auch in diesem Fall Probleme. Mindestens zwei. Weder sagen sie uns, warum wir das tun, noch was das eigentlich ist. Auch wenn der größere Teil der Welt sich scheinbar mit diesem Zustand abgefunden hat – wir nicht! Das IPuP sagt nein. Nein danke. Aber danke.

Wer hilft weiter? Ein wahnsinniger Philologe und ein großer starker Mann mit Kokain im Blut. Die besten Männer, die wir kriegen konnten. Ein Anwalt ist nicht dabei. Wir schaffen das auch ohne. Zu viert eingesperrt in ein Badezimmer mit einem Laptop und zwei Sesseln. Aber womit beginnen? „Mit der Etymologie“, schreit der Philologe. Das IPuP ist begeistert, der Kokser fühlt sich übergangen und gekränkt, willigt aber schließlich ein.

Also gut. Laut Grimmschem Wörterbuch haben wir es beim Vergessen mit einem zusammengesetzten Wort zu tun. Zum einen finden wir die Vorsilbe „ver-“, bekannt aus Klassikern wie „Verlieren“, „Verlaufen“, „Verraffen“ und anderen beliebten Tätigkeiten. Sie deutet an, dass eine ursprünglich auf ein bestimmtes Ziel gerichtete Aktivität nun in die umgekehrte Richtung und dabei gerne um einiges weniger zielstrebig ausgeführt wird. Zum anderen findet sich der alleinstehend im Deutschen nicht vorhandene Stamm „-gessen“. Zurückführen lässt der sich bis auf die indogermanische Wurzel ghed (Sanskrit: „gitan“), welche zunächst so viel wie „fassen, ergreifen, in Besitz nehmen“ bedeutete und erst später auch auf den Bereich des Geistigen ausgedehnt wurde. Im englischen „to get“ finden sich noch heute diese beiden Ebenen wieder.

Wenn wir etwas vergessen, stoßen wir also etwas, das wir zunächst einmal mühselig aufgenommen haben, wieder aus unserem Bewusstsein hinaus.

 

Und wer jetzt immer noch denkt, wir hätten eine Torheit begangen, als wir am Anfang des Artikels das Vergessen als Handlungsmöglichkeit beschrieben, fühle sich hiermit eines Besseren belehrt und ausgescholten. Immer noch nicht überzeugt? Entrüstet über die Vorstellung, dem verpassten wichtigen Termin von letzter Woche liege eine aktive Handlung und nicht vielmehr ein passives, unschuldiges Entschlüpfen zugrunde? Ring frei für den großen koksenden Mann und seine Fehlleistungen. „Das Vergessen von Vorsätzen lässt sich ganz allgemein auf eine gegensätzliche Strömung zurückführen, welche den Vorsatz nicht ausführen will“, beginnt er zu dozieren. Vergessen kann man alles Mögliche, nicht nur Vorsätze, sondern genauso Namen, Termine, Wegbeschreibungen. Auch das Verlegen und Verlieren von Dingen zählt der zugekokste Herr Professor zu den Arten des Vergessens. Er möchte nicht missverstanden werden: Es ist keineswegs so, dass das Individuum selbst das Vergessene vergessen will, sondern jene just genannte gegensätzliche Strömung. Und diese ist es eben, die das bewusst Gewollte hinausstößt. Hinausstößt in die unendlichen Weiten des Unbewussten. Das Vergessene ist nicht für immer verloren, sondern eher temporär. Als zu Vergessendes gilt der Psyche das, was Unlust erregt. Also irgendeine Form von Widerwillen. Dabei muss noch nicht mal das Vergessene selbst der Unlustauslöser sein. Der Psyche reicht auch so etwas Vages wie eine Assoziation, um alle Schutzschilde hochzufahren.

(Illu: Norbert Hildebrand, „Pripyat“)

Der Professor ist uneitel genug, ein erläuterndes Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung zum Besten zu geben. Als er sich schon seit längerer Zeit vorgenommen hatte, Löschpapier zu kaufen, es jedoch immer wieder vergaß, musste er kurzerhand zur Selbstanalyse schreiten. Des Rätsels Lösung: Gegen das Löschpapier war gar nichts einzuwenden. Das Problem bestand vielmehr darin, dass er sich mit seinem guten Freund und Kollegen Fließ überworfen hatte. Und da jenes stets neu vergessene Löschpapier auch als sogenanntes Fließpapier über die Ladentheke ging, wurde jeder Gedanke an Löschpapier mit dem ungeliebten Freund assoziiert und deshalb vergessen. Analog kann es sich mit nicht abgeschickten Briefen verhalten: Der Inhalt ist nicht das Problem, dieses liegt bei einem früher versendeten Brief, der unbewusst damit verbunden wird. Genauso kann ein vergessener Termin nichts mit der sitzengelassenen Person zu tun haben, sondern der Ort ein ungeliebter sein. Die Wege der Psyche sind nicht unergründlich, aber manchmal ziemlich tricky.

 

Vergessen auf die richtige Art betrachtet, bietet also den spielerischen Spaß der Analyse. Aber auch die wunderbar ernste Angelegenheit der Selbstreflexion. Durch Verständnis wird die Bedingung der Möglichkeit von Klarkommen mit sich selbst geschaffen. Dabei geht das IPuP jedoch von einem stärker konstruktivistisch geprägten Begriff von Verständnis aus als der Wiener Professor. Der meint, die eine Wahrheit erkannt zu haben. Das IPuP fürchtet sich ein wenig, beschließt aber trotzdem weiter zu machen. Unser Weg führt uns auf dem Fluß des Vergessens weiter hinab in die Tiefe der Psyche. (1)

Beim Mechanismus des Vergessens handelt es sich um nichts anderes als den Vorgang der Verdrängung. Gastauftritt Laplanche und Pontalis mit ihrem „Vokabular der Psychoanalyse“: „Im eigentlichen Sinne: Operation, wodurch das Subjekt versucht, mit einem Trieb zusammenhängende Vorstellungen (Gedanken, Bilder, Erinnerungen) in das Unbewusste zurückzustoßen oder dort festzuhalten. Die Verdrängung geschieht in den Fällen, in denen die Befriedigung eines Triebes – der durch sich selbst Lust verschaffen kann – im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr läuft, Unlust hervorzurufen.“

Verdrängung wirkt auf den ersten Blick ähnlich unattraktiv wie das Vergessen. Dabei ermöglicht die Verdrängung überhaupt erst das, was wir als zivilisiertes Leben bezeichnen.

Die Fähigkeit zur Verdrängung von sexuellen oder gewalttätigen Affekten ist etwas, das wohl alle begrüßen. Und auch für die persönliche Erträglichkeit der Welt um einen herum ist das Verdrängen, gerade in der Form des Vergessens, notwendig. Verdrängung ist etwas, das uns schützt. Kurz: Wem die ganze Scheiße, woraus auch immer sie bestehen mag, permanent bewusst ist, der kann kein Leben führen. Unser Philologe ist begeistert. Er streicht sich durch seinen Walrossbart und fügt hinzu: „Stellen wir uns einen Menschen vor, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße, der verurteilt wäre, überall nur ein Werden zu sehen. Er glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein und wird zuletzt kaum mehr wagen, den Finger zu heben.“ Zu allem Handeln gehört für ihn vergessen. Vergessen, dass jede Tat auch den Tod von Möglichkeiten bedeutet. Vergessen, dass jede Entscheidung von einem Standpunkt getroffen wird, der von einem anderen als ungerecht erscheinen mag. Und vergessen, wie es alles einmal enden wird.

 

(Illu: Norbert Hildebrand, „Stabschafott“)

Aber das Vergessen ist nicht nur fleißiges Helferlein bei der Unlustvermeidung, sondern auch Schutzpatron der Lust. Hören wir weiter: „Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist.“ Auf diesen Pathos wäre sicherlich nicht nur berühmteste Propagandist des zwanzigsten Jahrhunderts, der zugegebenermaßen eine etwas andere Einstellung zur werten Frau Siegesgöttin hatte, stolz, auch so manche PR-Abteilung könnte sich davon noch eine Scheibe abschneiden. Aber gut, wechseln wir auf die inhaltliche Ebene. Das Vergessen von Gestern und Morgen in richtig guten Momenten ist allgemein bekannt. Gerade dieses im-Moment-leben, den Moment und eben nichts anderes erleben, kann Konzerte, Sex oder launige Bierabende zu erstrebenswerten Erlebnissen machen. Wenn es denn gelingt. Einen schon immer beliebten Weg, diesen Zustand herbeizuführen, den der Intoxikation, preiste bereits der antike Tragödiendichter Euripides in seinem Drama „Die Bakchen“. Dort lobt ein Chor Mänaaden den Weingott Dionysos als den Erfinder „des Tranks, der die geplagten Sterblichen vom Leid befreit, wenn sie am Strom der Reben sich erquicken, und den Schlummer bringt, Vergessen aller Qual des Tages; er ganz allein schafft Hilfe gegen jede Not.“ Eine ähnliche Weisheit findet sich bei Homer (2): „Bier – die Ursache und die Lösung aller Probleme.“

 

Diese Erkenntnis wurde nicht vergessen. Und falls doch, wieder erinnert. Kommen wir jetzt also zum Schluss noch zu der Einsicht, dass das Vergessen stets der Verbesserung, Korrektur und Ermahnung durch seinen scheinbaren Widersacher, dem Erinnern, bedarf? Nicht wirklich. Vielmehr zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sich jedes Erinnern gerade nur als Vergessen verwirklichen kann. So zumindest die Behauptung unseres ehrenwerten Philologen. Denn erinnert wird stets nur ein Teil des erlebten Ganzen. Der Rest wird abgeschnitten, verdrängt und vergessen.

Warum? Weil Erinnerung keine reibungslose Aneinanderreihung objektiver Fakten ist, sondern immer ein konstruktiver Akt, der Versuch, aus individuellen Wahrnehmungen sinnvolles Leben in einer sinnvollen Welt herzustellen.
Zu guter Letzt hat sich unser unschuldiges Pandababy damit wehrhafter als erwartet gezeigt. Das passive Opfer ist vor unseren Augen zum aktiven Gestalter geworden.

So mögen wir vom IPuP das: Der Panda wirkt kräftig und zufrieden, die Unlustvermeidung ist in vollem Gange, ein schlafender Philologe liegt in der Badewanne und dieser Artikel ist halbwegs sinnvoll beendet.

 

(1) Flussmetaphern sollten zwar normalerweise aufgrund ihrer Kitschanfälligkeit vermieden werden, in diesem Fall geht es jedoch in Ordnung, bezeichneten doch schon die antiken Griechen den in der Unterwelt verlaufenden Strom des Vergessens als Fluss Lethe. Was die heutigen Griechen davon halten ist unklar. Unseren Institutsgriechen mit dem italienischen Vornamen haben wir vergessen zu fragen und die griechische Botschaft wollten wir nicht belästigen, die hat momentan andere Probleme. Vielleicht auch ein Fall von Prokrastination.

(2) Simpson.

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