Bunt Vermischtes, Vermengtes, Vergorenes und Aufgepfropftes

Entweder eine nicht ganz so blütenreine Bewusstseinserweiterung zwischen Stechapfel und Schierling oder einfach ein irgendwie fragwürdiges Idyll im weiteren Familienkreis und im ungepflegten Kleingarten…

von Filbinger, 20.03.2015, 11:46 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

 

Wird ein Kraut in viel Flüssigkeit getaucht, so vertheilt es sich mehr darin, die Flüssigkeit saugt weniger davon ein; ist aber die Flüssigkeit nur gering, so ist die Einsaugung stärker als die Vertheilung. Ich glaube nicht, dass Francis Bacon im zweiten Buch seines Neuen Organon auch nur annähernd den Kern meines Problems trifft. Ebensowenig ermesse ich noch das klare Wie und Warum meines Daseins in diesem verwunschenen Garten. Die feinen, weißen Bläschen in meinem Bierkrug bezeugen eine mir gänzlich unbekannte chemische Reaktion und ich weiß nicht mehr, sind es nun zwei, drei oder noch mehr Tage, die ich meinen Cousin nun schon beackere, um doch noch aus ihm herauszubringen, was das für ein Teufelssud ist, den wir da von früh bis spät in unsere Körper schütten. Darauf winkte denn Kriton dem Knaben, der ihm zunächst stand, und der Knabe ging heraus, und nachdem er eine Weile weggeblieben, kam er und führte den herein, der ihm den Trank reichen sollte, welchen er schon zubereitet im Becher brachte. Zusammen mit den Bläschen steigt inzwischen immer häufiger eine Unruhe in mir auf, beinahe nach vulkanischem Prinzip schmierigen Schweiß aus meinen Poren treibend. Manchmal habe ich regelrecht Schaum vor dem Mund und ich sehe immerzu Blattläuse oder Bettwanzen – überall, auch an meinem eigenen Körper – und ich kann nur hoffen, es handelt sich um Halluzinationen. Oft sind inzwischen Teile meines Körpers geradezu taub. Finger und Zehen – vor allem die Zehen, ja manchmal beide Füße – fühlen sich eisig an, nicht einfach nur eingeschlafen, kribbelnd, sondern bemerkenswert kalt; Todgeweihten gleiche Glieder. Besser versuche ich, die Urwurzel dieses bedrohlich heraufziehenden Nachtschattens zu finden. Letzen Donnerstag oder Freitag. Irgendwann.

 

 

Schierling

(Gefleckter Schierling, Photo: MPF, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

 

 

Das einzige Buch, das Heiko bis jetzt zeitlebens gelesen hat – Michael Kohlhaas und anderen Schulkram mal beiseite – sind die Phantasia-Phantasien von Michael Ende. Er erinnere sich aber nicht mehr recht an den Inhalt, behauptet er. Heiko ist genau genommen mein Halbcousin. Mit seinen erst siebzehn Lenzen steht er mitten in der Blüte seiner Jugend, die ihn bislang in vielen Fragen völlig frei und unbelastet gehalten hat, so auch in jener, was er denn nach der Schule mit seinem Leben anzufangen gedenke. Innerhalb unserer Sippen tummeln sich Kaufleute, Ingenieure, Ärzte und Juristen. Heiko hingegen möchte eher etwas machen, was sonst kaum einer mache, wie er sagt, und da ich weit und breit der einzige im hyperfamiliären Kreis bin, der – zumindest kurz – Philosophie studiert hat, war seinerseits aufrichtiges Interesse an meiner Person vorhanden. Deshalb sollten wir uns, trotz beachtlichem Altersunterschied von über einer Dekade, zu zweit hier draußen in der Provinz zusammenfinden, zu was auch immer.

 

Heikos Erzeuger, ein mit mir weder leiblich noch geistig verwandter Doktor der Rechte, besitzt hier in Oberösterreich, etwa dreißig Kilometer von Linz entfernt, eine Hütte auf einem Berg, die er nie besucht, da es dort weder Strom noch fließend Warmwasser gibt; die Sanitärtechnik vor Ort beschränkt sich auf einen Brunnen und eine Versitzgrube. Der Boden nebst Immobilie, einst als Kapitalanlage beschafft, erfüllte mittelfristig nicht die hohen Ertragserwartungen. Auch weil imposante Wertzuwächse seit geraumer Zeit lediglich noch im Luxussegment erzielt werden, kümmert sich der Herr Rechtsanwalt lieber um seine Mietwohnungen in Leipzig und Dresden und überlässt den verkommenen Verschlag in der Ostmark, wie er das kleine Anwesen angeblich nennt, seinem ebenso verkommenen Sohn, der sich dorthin so oft wie möglich zurückzieht. Offensichtlich bestehen zwischen beiden gewisse Spannungen. Die sind jetzt jedoch nur am Rande Thema, wo ich nun also da bin, um ein langes Wochenende auf der Finca Falla zu verbringen. Keine Ahnung, ob besagtes Wochenende nicht schon längst vorbei ist.

 

In den trüben Tiefen der Regentonne lagert offenbar eine unerschöpfliche Anzahl an Bierflaschen und schleichend überkommt mich der Verdacht, sie sind nicht das einzige, was hier kaltgestellt wird. Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus. Wir sitzen also auf einer halb zerfallenen Bank in einem am Hang liegenden Garten, der offensichtlich das ganze Jahr sich selbst überlassen bleibt. Rund um die windschiefe Hütte rankt sich widerspenstiges Weinlaub; mitunter hängen noch die Trauben vom Vorjahr im Gestrüpp, längst zu Rosinen verschrumpelt. Die Hütte ist genauso kaputt wie der Garten, doch das alles spielt keine Rolle mehr; meine Gedanken, wenn ich sie denn noch für Momente sammeln kann, kreisen um ein seltsames Ritual, das Heiko anscheinend unablässig Tag und Nacht zelebriert. Als nun Sokrates den Menschen sah, sprach er: Wohlan, Bester, denn du verstehst es ja, wie muß man es machen? Er steht auf, stapft zur Regentonne, kommt mit zwei Bierflaschen zurück an den schiefen, wackeligen Tisch und dekantiert den Gerstensaft bedächtig in unsere Gläser. Dann pflegt er den Euphemismus „Gemüsebeilage“ zu benutzen und was dann folgt, habe ich bis zu meinem Besuch hier im Elfenbeinturm noch nirgends gesehen, gehört oder gar probiert. Er legt vier, fünf ungetrocknete Blätter auf den Tisch, die etwa so aussehen wie Löwenzahn, vielleicht etwas weniger länglich. Man dürfe auf gar keinen Fall davon essen, sagt er, das sei gefährlich. Man müsse die grüne Wunderblume lediglich für zehn Minuten in die weiße Blume des Bieres hängen, wie er sich ausdrückt. Seine glasigen Augen schweifen in die Ferne. Ich folge, halb willenlos, halb neugierig, den Instruktionen. So sitzen wir das ein ums andere Mal tatenlos vor vollen Biergläsern, über deren Ränder scheinbar Kaninchenfutter im Untergärigen badet. Bald beginnen die geheimnisvollen Bläschen zu sprudeln. Sie lagern sich in großer Zahl an der Oberfläche der Blätter ab und sinken von dort aus in die Flüssigkeit hinab, bis auf den Grund des Humpens. Auf Heikos Anraten, jetzt sei die rechte Zeit, nehmen wir die Blätter aus dem Glas. Damit reichte er dem Sokrates den Becher, und dieser nahm ihn, und ganz getrost, o Echekrates, ohne im mindesten zu zittern oder Farbe oder Gesichtszüge zu verändern. Man schmeckt weder einen Unterschied zu unbehandeltem Bier noch setzt sehr bald eine deutliche Wirkung ein. Mit der Zeit jedoch jagen tausend paranoide Weisheiten durch meinen Kopf, der weit entfernt von meinem nahezu bewegungslosen Körper scheint. Die Denke schießt durchs Hirn wie Blitze, aber ich vergesse sie sogleich wieder, Kurzschlüsse. Die Stimme meines Cousins scheint weit weg. Sokrates nun habe ausgetrunken, nachdem ihm der Sklave eingeschenkt; Eryximachos aber habe sich mit der Frage an Alkibiades gewandt: Wie wollen wir es aber nun machen? Sollen wir so gar nichts beim Becher reden oder singen, sondern nur so ohne weiteres wie die Durstigen trinken? Mir brennen die Schläfen. Meine Arme fühlen sich an wie nach fünf Stunden Sport und wieder werden meine Beine kalt und ganz weich. Außerdem bekomme ich Schüttelfrost. Heiko? Was ist das für ein Zeug?

 

Stammbäume können mit der Zeit zu garstigem Gestrüpp die Evolution hinab vegetieren, kreuz und quer durch den familiären Irrgarten, denn Reinrassigkeit ist bekanntlich sowohl moralischer Mythos, als auch jene perverse Abart, die auf den Namen Zucht hört. (Und Zucht ist die ewig verklemmte Zwillingsschwester der Ordnung!) Wo immer Verwandte dritten Grades, also vielleicht der herzensgute Onkel oder die lebensfrohe Tante, sich nach Scheidung oder Verwitwung im Knüpfen neuerlicher Beziehungen verwickeln und binden, da wird dem eigenen Stammbaum ein wildfremder Ast aufgepfropft, aus dem mitunter Halbcousins und Halbcousinen hervorsprießen wie Champignons aus einem mit Pferdemist reich gedüngten Boden. So wurde auch ich jüngst mit Menschen konfrontiert, von denen mir bis heute nicht klar ist, ob und wie ich wirklich mit ihnen verwandt sein sollte – und wo das Ungewisse lauert, wartet manche Überraschung. Warum ausgerechnet Heiko?

 

 

[…]

 

 

 


Lichtwolf Nr. 49

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