Im Herbst 2014 riefen Glanz & Elend und der Lichtwolf einen Essaywettbewerb zur Preisfrage aus: „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ Die beste Einsendung weist die Frage einfach zurück.
von Ulrich Elsbroek, 20.03.2015, 11:53 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)
1.
„Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“: Diese Frage drapiert sich seit vielen Jahrhunderten zunehmend selbstverliebt in metaphysischem Gewande. Dabei kann sie nur schwerlich verbergen, dass sie von ihren diesseitigen, materiellen Bedingungen lebt: Sie kann nur stellen, der ist, und nicht, der nicht ist. Das Universum expandiert rund 13,7 Mrd. Jahre gedankenlos vor sich hin, um auf der allerletzten Strecke von einer seiner Hervorbringungen radikal in Frage gestellt zu werden. Das hat etwas von der Chuzpe eines Neugeborenen, das seiner Mutter – auf ihrem Bauch liegend – die Frage stellt: Und? Neu hier?
2.
Neulich fand ich mich – getrieben von Hunger – in unserem Vorratsraum wieder. Als ich das Gesuchte nicht erblicken konnte, fragte ich meine Frau: „Wo sind die Nudeln?“ Meine Liebste – sie kennt mich und meinen selektiven Blick ja schon einige Jahre – verdrehte die Augen und antwortete mit nur schlecht unterdrückter Vehemenz: „In der Vorratskammer.“ Ich also zurück, um alles noch einmal genauestens zu prüfen. Ich fand eine Brotkapsel, eine Packung Kaffee, drei Dosen Mais, zwei Tuben Tomatenmark, jede Menge Kartoffeln und – weil wir gerade auch bei Leibniz sind – eine Packung Butterkekse. Aber Nudeln? Mit Bestimmtheit rief ich zurück: „Ich seh die nicht!“ Meine Frau erwiderte: „Schatz, jetzt guck doch noch mal genau hin!“ Ich retournierte: „Die sind da nicht!“ Erneut setzte sie zur Rede an, doch ich kam ihr zuvor und legte letztgültig fest: „Da ist nichts!“
3.
Für heutige Ohren ist die Negation „nichts“ nicht ohne das Negierte zu erklären. Fangen wir als mit dem Positiven an. Das Grimmsche Wörterbuch (1) führt aus, dass das Wort „icht“ (mhd. iht) die Bedeutung von „irgendein Ding, etwas“ hat. Die Form „ichtesicht“ – die Verbindung aus Genitiv und Nominativ des Begriffs „icht“ – stellt eine Verstärkung dar. In gleicher Weise gilt dies für die Negation „nicht“ („nicht etwas“) und „nichtesnicht“ („ganz und gar kein Ding“). Im Laufe der Zeit haben sich beide Formen verkürzt: „ichtesicht“ zu „ichts“ und „nichtesnicht“ zu „nichts“. Ironischerweise dämmerte das „ichts“ später seinem Nichts entgegen, während das „nichts“ bis heute seine Existenz behaupten konnte. Und wie!
4.
Zurück zur Vorratskammer. Angesichts eines Meers aus „etwas“ behaupten wir ganz fidel, da befinde sich „nichts“. Die Absurdität, die diese Aussage annimmt, resultiert aus dem Zwitterwesen des Begriffs: Einerseits meint er das konkret Fehlende vor einem weiterhin materiell seienden Horizont, andererseits die Abwesenheit von allem Materiellen – also nicht nur der heißgeliebten Nudeln, sondern auch von Mais, Kaffee, Kartoffeln, Tomatenmark, Butterkeksen, ja, der ganzen Vorratskammer und dem Rest des Universums. Und so fasse ich den Begriff wie folgt: Das „nichts“ bezeichnet die Abwesenheit von Materie und/oder ihres Äquivalents Energie. Mit der Einschränkung, dass bis zum 20. Jahrhundert der Zusammenhang von Materie und Energie nicht bekannt war, lässt sich feststellen, dass sich das „nichts“ in dieser Definition zum stolzen weißen Schwan der Metaphysik entfaltet hat, der sich glücklich von allen materiellen Anhaftungen befreien konnte und seitdem ein irritierendes Eigenleben führt.
5.
Frei nach Paul Watzlawick lässt sich feststellen: Man kann nicht nichts denken, geschweige denn „nichts“ denken. Wenn es heißt: „Denk mal nicht an einen grünen Frosch“, so denke ich zuverlässig an einen grünen Frosch. Und wenn wir enttäuscht die Vorratskammer verlassen, in der wir eben „nichts“ entdeckt haben, denken wir doch unentwegt an die Nudeln, die nur eben nicht an Ort und Stelle waren. Die Leerstelle in der Vorratskammer hat keine Entsprechung in unserem Denken. Und auch die metaphysische Leerstelle des „nichts“ füllen wir unentwegt mit Diesseitigem, wie das Beispiel Plotins zeigt. Der verhedderte sich einst heillos wie Laokoon, als er daran ging, das Unsagbare zum Gegenstand der Sprache zu machen. Bekanntlich betrachtete er das „Eine“ einerseits als nicht de-finier-bar, hegte es aber in Form von Negationen mehr und mehr ein: Das „Eine“ sei unendlich, unbegrenzt, unteilbar, unräumlich, unzeitlich und so weiter. (2) In der Absicht, das „Eine“ begrifflich wie ein rohes Ei zu behandeln, schlägt er es zuverlässig in die Pfanne.
6.
Nun ist das „Eine“ etwas Seiendes, nach Plotin sogar der Urgrund des Seins schlechthin. Wie größer sind die Schwierigkeiten, wenn wir „nichts“ zur Sprache – oder besser – in die Sprache bringen! Wir gliedern es wie selbstverständlich in unsere lang eingewöhnte Grammatik ein und machen es so zu einem „etwas“. In der Frage „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ steckt ja die Möglichkeit, dass es „nichts“ geben könnte. Das ist aber ein Widerspruch in sich: „nichts“ kann es nicht geben, weil „geben“ im Sinne von „existieren“ sich nur auf Seiendes beziehen kann. Das reine „nichts“ – der stolze weiße Schwan der Metaphysik – regrediert durch die Berührung mit der Sprache wieder zum hässlichen Entlein, das unabwaschbar mit Materiellem kontaminiert ist.
>>>>>[ Die Antwort in einem Satz: weil es nichts nicht geben kann. ]<<<<<
– YoX <17.06.2015, 23:04 Uhr>
7.
Apostel Paulus müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen. Immerhin glaubte er, seine Eingebungen direkt vom lieben Gott zu erhalten. (3) Heute wissen wir es besser: Der menschliche Geist kommt nicht vom Himmel, sondern ist ein Produkt der Evolution. (4) Er hat sich in der ständigen Auseinandersetzung mit den ihm umgebenden Dingen herausgebildet. Sprache ist immer zunächst positiv, die Fähigkeit zur Negation dagegen eine zeitlich wie logisch nachgeschaltete Abstraktionsleistung des menschlichen Geistes. Mit anderen Worten: Zuerst ist das Ding, bevor es zum Nicht-Ding erklärt werden kann. Das zweite geht aus dem ersten hervor. Die Antithese „Etwas – Nichts“, die unserer Frage zugrunde liegt, verwischt diese Abhängigkeit und insinuiert zwei gleichrangige, voneinander unabhängige Entitäten.
8.
Wie die Sprache hat auch die Naturwissenschaft Antennen ausschließlich für das Seiende. Vorausgesetzt, das „nichts“ existierte – die Naturwissenschaft verfügte gar nicht über die erforderlichen Messinstrumente, es nachzuweisen. Das „nichts“ – soviel wissen wir immerhin darüber – tritt nicht in eine wie auch immer geartete Wechselwirkung mit einem Detektor. Ein Messinstrument, das nicht anschlägt, ist kein Beweis für die Existenz des „nichts“.
9.
Die Unverfügbarkeit des „nichts“ kann zwei Reaktionen nach sich ziehen:
a.) Der Mensch fokussiert auf das materiell Seiende. So halten die Astrophysiker über das „Davor“ und „Daneben“ unseres Universums jede Menge Theorien bereit und reden unablässig von Singularitäten, Quantenfluktuationen, Multiversen, Strings, Branen und Loops, als ob es kein Morgen gäbe. (5) Das „nichts“ und die Vorstellung, die Welt sei aus dem Nichts entstanden, haben in ihren Modellen keinen Platz. Zugegeben: Sie halten keinerlei Beweis für ihre Annahmen in Händen. Immerhin reden sie über „Zeiten“ und „Orte“, die für unsere physikalischen Nachweisverfahren aus prinzipiellen Gründen nicht erreichbar sind. Aber sie spekulieren nicht einfach ins Blaue hinein, sondern entwickeln ihre Gedankengebäude auf der Grundlage mathematischer, also wissenschaftlich nachprüfbarer Schritte.
b.) Oder der Mensch lässt das Seiende links liegen und vertraut darauf, dass der Begriff „nichts“ durch die bloße Setzung Faktizität erlangt. Einmal in die Welt entlassen, drängt der Begriff ins Sein, gewinnt als solcher immer mehr an „Realität“ und hält uns wie das Ungeheuer von Loch Ness in Atem. Niemand hat es je gesehen, aber jeder spricht davon und weiß Näheres. Und schon tauchen die ersten Bilder auf, die Nessi – zugegeben – etwas verwackelt und unscharf, aber dennoch unwiderlegbar „beweisen“…
10.
Die Frage „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ besteht aus zwei Teilen:
Teil 1: Warum gibt es etwas? Diese Frage hat eine heuristische Funktion im Rahmen der Naturwissenschaft und steht dann mit beiden Beinen auf festem Boden. Wie gezeigt, gibt es aus naturwissenschaftlicher Perspektive zwar jede Menge Theorien, aber keine bis heute per Experiment bewiesene Antwort.
Teil 2: Warum gibt es nicht nichts? Inhaltlich betrachtet, ist sie mit der ersten Teilfrage identisch. Warum sie also anhängen? Weil sie nichts anderes ist als ein rhetorischer Nachbrenner – wie dazu gemacht, den Kopf durch die Wand des Diesseits zu treiben, um einen Blick in die Welt hinter der Welt zu erhaschen. Leibesübungen für den Hinterweltler. (6)
11.
Die Kernfrage lautet also nicht: „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“. Die Kernfrage lautet: Warum bedürfen wir dieser Frage?
12.
Der Historiker François Walter beschreibt, dass die Inanspruchnahme Gottes als Ursache für die über die Menschen hereinbrechenden Katastrophen ein Akt der Traumabewältigung (7) gewesen sei. Lieber noch dem göttlichen Zorn als der absoluten Sinnlosigkeit ausgesetzt sein: „Es ist für den Menschen sicher tröstlicher, das ihm widerfahrende Gute und Böse Gott zuzuschreiben, als einem launischen oder gar blinden Schicksal diese Ehre zu erweisen“, so Abbé Nicolas Sylvestre Bergier, ein französischer Theologe des 18. Jahrhunderts. (8) So sehr das verheerende Vernichtungswerk einer Überschwemmung, eines Stadtbrandes oder eines Erdbebens auch mein Leben hätte auslöschen können; durch die Hypothese „Gott“ verkehrt es sich in das Hohelied über die Sinnhaftigkeit meines Seins.
13.
In ebendieser Weise fungiert die Ausgangsfrage „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ als ein Quell der Sinngebung. Wenn ich nur einigermaßen glaubhaft machen kann, dass das „nichts“ möglich gewesen wäre, insinuiere ich zugleich einen Grund, warum es gerade dazu nicht gekommen ist: Wenn es die Materie im Allgemeinen und so etwas Tolles wie uns Menschen im Besonderen gibt – da muss schon etwas Großes dahinter stecken, das alles so wunderbar ins Werk gesetzt hat.
14.
Diese Denkfigur hat vordergründig verdammte Ähnlichkeit mit einem Gottesbeweis, der bereits mehr als 700 Jahre alt ist: dem Kontingenzbeweis von Thomas von Aquin. Thomas entfaltet seine Argumentation vor dem Gegensatz von Zufälligkeit und Notwendigkeit. Das Werden und Vergehen der Dinge zeige uns, dass sie sein oder auch nicht sein können. Weil sie aber sind, müssen sie eine Ursache haben und sind also notwendig. Diese Ursache selbst kann wieder aus einer anderen Ursache entstanden sein, die dann ihrerseits… Diese Ursache-Wirkung-Kette führt nun nicht ins Unendliche, sondern hat einen Anfang, der „ein durch sich selbst Notwendiges ist und […] die Ursache seiner Notwendigkeit nicht woandersher hat, statt dessen aber die Ursache der Notwendigkeit der anderen ist, und das nennen alle ‚Gott‘“. (9)
15.
Der Kontingenzbeweis von Thomas von Aquin hat eine für unsere Fragestellung spannende Konsequenz. Denn wenn die Wirkung durch seine Ursache den Status einer Notwendigkeit erlangt, ist die Verursachung der Wirkung ebenfalls notwendig. Es liegt also nicht im Belieben der Ursache, so oder anders oder gar nicht zu wirken. Welche Konsequenzen das für das Gottesbild hat, soll nicht weiter erörtert werden. In jedem Fall ist das Sein nach Thomas notwendig. Bei Licht besehen findet unsere hier abzuhandelnde Fragestellung auch bei ihm keine Heimstatt.
16.
Zudem findet die Vorstellung, Gott habe die Welt aus dem Nichts erschaffen, keine Grundlage in der Bibel. Denn wie der unmittelbare Augenzeuge des Schöpfungsaktes glaubhaft versichert, existierte vor dem Schöpfungsakt bereits ein Etwas, nämlich das Tohuwabohu: „die Erde aber war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht“. (10) Mit anderen Worten: Gott beginnt die Schöpfung „erst mit der Erschaffung des Lichtes. Sein Schöpfungshandeln ist also ursprünglich keine creatio ex nihilo, keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern die Welt ist schon vorhanden, gestaltlos zwar, aber vorgegeben.“ (11) Der liebe Gott ist jemand, der das Licht macht. Ein Lucifex.
17.
Nach dem „nichts“ zu fragen kann nur, wer es als eine reale Größe betrachtet. Die einfache, voraussetzungslos anmutende Frage „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ schleppt also in Wirklichkeit den ganzen Rucksack abendländischer Metaphysik und Theologie mit sich herum und präfiguriert bereits die Antwort. Wer mit dieser Frage hausieren geht, ist nicht mehr ergebnisoffen. Er will – bewusst oder unbewusst – auf Gott hinaus.
18.
Sinn ist kein Bestandteil der objektiven Welt. Sinn erzeugt der Mensch aus sich selbst heraus. Immer fragt er nach dem Warum und stellt Verknüpfungen zwischen den Dingen her. Denn nur so kann er sich in der verwirrenden Vielfalt der Realität orientieren, also sinn-voll verhalten. (12) Und deshalb wird er erst ruhig, wenn er eine befriedigende Antwort gefunden hat. Er ist damit auch sehr weit gekommen: Die Erde bebt, weil sich die zwischen tektonischen Platten aufgebaute Spannung ruckartig löst. Es blitzt, weil sich eine in den Wolken aufgebaute elektrostatische Spannung entlädt. Ein Vulkan bricht aus, weil sich in tieferen Erdschichten ausdehnendes Magma explosionsartig Platz verschafft. In voraufklärerischer Zeit wussten wir über diese Zusammenhänge nichts. Doch auch da haben wir – wie oben gezeigt – das uns jederzeit bedrängende Warum mit einer allseits überzeugenden Antwort sedieren können: mit Gott.
19.
Spätestens das Erdbeben von Lissabon in 1755 hat die Universalbegründung „Gott“ brüchig werden lassen. Deshalb haben wir sie danach in vielen Wissensbereichen sukzessive durch viele unterschiedliche naturwissenschaftliche Erklärungen abgelöst. Dieser nachhaltige Trend setzt mit einem Male aus, wenn es um unsere eigene Existenz geht. Einerseits wissen wir heute, dass wir das Resultat einer biologischen Evolution sind, müssen dann aber zugeben, ein reines Zufallsprodukt zu sein. Das darf nicht sein! Und so hängen wir in punkto der eigenen Existenz auch weiterhin unlösbar an unserer Universalbegründung „Gott“ wie der Junkie an der Nadel. Denn nur dann können wir die Illusion aufrechterhalten, das Ziel allen Seins zu sein. Dabei geschieht etwas Entscheidendes: Sinn – eben noch reine Ursache-Wirkung-Relation – ist nun die uns nicht zugängliche Ursache hinter der Ursache, der Sinn hinter dem Sinn. Damit erhält „Sinn“ mit einem Male ein sorgsam herausgeputztes ontologisches Qualitätssiegel, das mit seinem Glanz nun erfolgreich von dem wahren Kern unserer Sinnsuche abzulenken versteht: von unserer abgrundtief gekränkten Eitelkeit, unsere Existenz einem Zufall verdanken zu müssen.
20.
Vom Sein der Materie auf Gott zu schließen, ist gerade vor dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Tradition nicht ohne Ironie. Am Anfang ist Materie Ausdruck des göttlichen Willens. Wie die Bibel dokumentiert, richtete Gott alles ganz nach seinem Gusto ein: „Gott sah, dass es gut war.“ (13) Diese positive Grundeinstellung bekam jedoch schon bald einen Knacks. Denn ausgerechnet die Krone der Schöpfung schlägt so richtig aus der Art. Das ist der Grund, warum der liebe, der gütige, der sanfte Gott gleich die ganze Menschheit ersäufte. Wie wir weiter lesen können, berappelt sie sich aber schon bald wieder und tritt in einen Bund mit dem Allerhöchsten ein. Deshalb bleibt die Materie auch weiterhin die Bühne göttlichen Handelns: Im Alten Testament greift Jahwe unentwegt in die Geschicke des von ihm auserwählten Volkes ein, womit der Materie ein gewisser Grad an göttlicher Würde geblieben ist. Das wird anders durch das Christentum. Die neue Lehre reicht – beeinflusst insbesondere durch Gnosis und Neuplatonismus (14) – die Materie mit leichter Hand nach unten durch, an das unterste Ende der Werteskala. Ab jetzt ist sie „nichts“-würdig, das wahre Sein verkrümelt sich ins Jenseits. Dass nun die nicht mehr zu unterbietende Minderwertigkeit der Materie gerade als Indiz für die Existenz Gottes herhalten muss, ist eine nicht mehr zu überbietende Absurdität. Wenn es das Werk ist, das den Meister lobt, dann stellen die Christen ihrem Gott ein denkbar schlechtes Zeugnis aus.
21.
Das Erdbeben von Lissabon hat eine wichtige Frage auf die Tagesordnung unseres Denkens gestellt: Wenn unser Dasein Sinn nur durch Gott erhält, welchen Sinn erhalten dann Leid und Unrecht in diesem Szenario? Eine bis heute heikle Fragestellung, um die kein Gottesapologet herumkommt und die ihn zu einer Rechtfertigungstheologie der untersten Schublade zwingt: „Nur wenn die Existenz des Menschen über den Tod hinausreicht“, so lässt sich Erfolgsautor Manfred Lütz ein, „dann mag in jenem Jenseits die tiefe existenzielle Bewährung eines Menschen im stets zeitlich begrenzten irdischen Leid ewigen Sinn für ewiges Glück gewinnen“. (15) Bis heute ist die Diskussion unentschieden, wie die Rolle des Judas zu beurteilen ist: Hat er Böses getan, weil er Jesus verraten hat? Oder hat er Gutes getan, weil er die Heilsgeschichte durch seinen Verrat erst möglich gemacht hat? (16) Wenn ich dem irdischen Sein einen göttlichen Sinn unterstelle, dann muss ich unbedingt der zweiten Meinung zuneigen. Dann muss ich aber auch jeden hergelaufenen Menschenschlächter als Heilsbringer bejubeln, da er seine Delinquenten mithilfe einer Phase „tiefer existenzieller Bewährung“ den direkten Weg in das ewige Glück des Himmels weist.
22.
Sinn indes hat der stolze weiße Schwan der Metaphysik für all diese Argumente nicht. Selbstverliebt betrachtet er sein Spiegelbild im Wasser, putzt dabei sein strahlend weißes Kleid und beschäftigt sich auch weiterhin mit der Frage: „Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“. Weil seine Beine sehr kurz sind und sich zudem relativ weit hinten am Körper befinden, bewegt er sich auf dem festen Boden des Uferbereichs besonders schwerfällig und tapsig. Deshalb hält er sich lieber auf der schwankenden Oberfläche eines Gewässers auf. Dort taucht er zuweilen seinen langen Hals in die aquatische Zauberwelt – und gründelt.
Anmerkungen:
(1) http://dwb.uni-trier.de/de/
(2) Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe, München: DTV 2011, S. 78f.
(3) 1. Kor 2,1 ff.
(4) Pinker, Steven: Wie das Denken im Kopf entsteht, Frankfurt: Fischer 2012, S. 57.
(5) vgl. Vaas, Rüdiger: Vom Gottesteilchen zur Weltformel, Stuttgart: Kosmos 2013, S. 175.
(6) vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, München: Goldmann 1980, S. 26.
(7) vgl. Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart: Reclam 2010, S. 36. (Künftig zitiert: Katastrophen)
(8) zit. n. Walter: Katastrophen, S. 121.
(9) Bromand, Joachim und Guido Kreis (Hg.): Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, München: Suhrkamp 2011, S. 96.
(10) Gen 1,2f.
(11) Beltz, Walter: Gott und die Götter. Biblische Mythologie, Hamburg: Nikol, 2007, S. 43.
(12) vgl. Scobel, Gert: Der Ausweg aus dem Fliegenglas, Frankfurt: Fischer 2012, S. 222.
(13) Gen 1,10.
(14) Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich, München: Heine 52012, S. 27f.
(15) Lütz, Manfred: Gott. Eine kleine Geschichte des Größten, München: Knaur 2009, S. 160.
(16) vgl. Klauck, Hans-Joseph: „Ein Wort, das in die ganze Welt erschallt“. Traditions- und Identitätsbildung durch Evangelien, in: Graf, Friedrich Wilhelm, und Klaus Wiegandt: Die Anfänge des Christentums, Frankfurt: Fischer 22009, S. 86.