Beschreibung
„Not“ ist ein Zustand der Bedrängnis, die zu etwas „nötigt“ – und doch so viel mehr oder weniger, wie Michael Helming in seiner einleitenden Meditation über das schillernde Wörtchen mit drei Buchstaben zeigt. Darüber, was den Mangel ausmachen kann, der Not bedeutet, denkt Marc Hieronimus u.a. mit bzw. gegen Abraham Maslow nach. Denn Nöte können niedriger wie höchster Natur sein, wie dieses Heft zeigt: Bdolf schildert die Nöte der Heiligen, Osman Hajjar zeigt anhand der Nöte von Höhlenbewohnern, wie der Koran antike Freidenkerei in (theo)logische Ordnung bringt, während Ewgeniy Kasakow mit Oleg Fomin-Schachow einen Zeitgenossen portraitiert, der Mutter Russland auf eigenwillige Art aus ihrer Not zu befreien suchte.
Dass Politik erst jenseits der Not beginnt, ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, die Philip J. Dingeldey gegen das moderne Verständnis des Politischen verteidigt. Mit dem Pflegenotstand und einem darob nötigen neuen Arbeitsbegriff befasst sich Bernhard Horwatitsch. Während Timotheus Schneidegger die Notwendigkeit der Menschheit infrage stellt, findet Wolfgang Schröder in den Illusionen der Notlosigkeit, die Werbung uns bereitet, eine eigene ästhetische Qualität.
Vom Hohen geht es zum Niederen, weshalb Marc Hieronimus die durch Wäsche verursachte Notgeilheit beleuchtet und Sarah Maria Lenk dem bürgerlichen Konstrukt hinter der „Notzucht“ nachgeht. Nietzsche gibt einiges über Notwehr zu bedenken, während Martin Köhler über den Schinkenmangel in der Kunst glossiert und Bdolf anhand von Herrn Jedermann die Nöte des Alltags illustriert – und natürlich wieder das Propädeutikum zum Thema beigesteuert hat.
Den hinteren Heftteil eröffnet wie stets die beliebte Miniaturensammlung „Der tragbare Gedanke“, gefolgt von Filbingers Portrait des „einbeinigen Ersatz-Münchhausens“, Friedrich von Urban (1799–1825), auf den der urbane Mythos zurückgeht. Nach den Aphorismen pro domo et mundo sowie den Rezensionen in unter 800 Zeichen folgt der Pinguin, den Simon Preker in der Reihe „Viehlosovieh“ vorstellt und dann ist das Heft komplett durchgelesen.
Inhalt
Inhalt Nr. 65
Not, Nöte und Wendigkeiten in Lebenswelt, Politik und Metaphysik – u.a. mit Mauthner, Adorno, Arendt, Maslow und Pinguinen: 92 frühlingshafte Seiten zur Not.
2 Editorial & Impressum
3 Not
Einleitung ins Titelthema
3 Der Jugend zum Geleit
Propädeutikum und Prolegomena zum Thema „Not“
von Bdolf
4 The Wort is Not Enough
Aus der Not einen Text machen
Es gibt Worte, die sind wie Schwämme, derart vollgesogen mit Bedeutung, dass sie tropfen. Wer sich daran macht, sie auszuwringen, hält bald kaum noch Masse in Händen. Auch die Not ist so ein Begriff, der an Gewicht verliert, wenn man ihn drückt. Ein Definitionsversuch
von Michael Helming
14 Psychologische Nöte
Was braucht der Mensch?
In der Not schmeckt die Wurst bekanntlich auch ohne Brot, während dem Herrn der Fliegen nachgesagt wird, dann gewissermaßen seine Leibeigenen zu verzehren. Aber was genau muss uns eigentlich fehlen, damit von Not die Rede sein kann?
von Marc Hieronimus
17 Von wegen „notleidend“
Die Noth der Heiligen
von Bdolf
18 Epistemologische Wohnungsnot
Schläfer in Seelennot
Die Höhle war phylogenetisch und ontogenetisch unsere erste Heimstatt. Kein Wunder, dass sich so mancher Mythos um sie, ihre zwiespältige Gemütlichkeit und die erkenntnistheoretische Notlage ihrer Insassen rankt.
von Osman Hajjar
27 Reklame: MMPM 2019
28 Russisch Not
„Die russischen Kätzchen sind krank“
Oleg Walerjewitsch Fomin-Schachow (1976–2017) verband slawische Mythologie und Avantgarde, reaktionäres Verschwörungsdenken und Selbstironie. Mit Narrenkappe und Zaubererhut suchte er die völkische Utopie im Wald.
von Ewgeniy Kasakow
36 Im außermoralischen Sinne
Notwehr
von Friedrich Nietzsche
37 Notschinken
Stufen zum Nichts: Not
Kolumne von Martin Köhler
38 Zur Polis in der Moderne
Das Politische in der Not
Zeitgenössische Politikbegriffe sind gemessen am Ursprung der politischen Philosophie verfehlt. Politik als Kampf und Konflikt ist unfreiheitlich der Not und dem Zwang des Subjekts unterworfen. Ist Politik im ursprünglichen Sinne in Zeiten von Angst und Not überhaupt noch möglich?
von Philip J. Dingeldey
46 1.001 Nöte
Didaktische Lehrgeschichten zur „Not“
Herr Jedermann hat seine liebe Not, die uns eine Lehre sei.
von Bdolf
48 Pflegenotstand
Die Krise der Reproduktion in der Spätmoderne
Der Pflegenotstand ist dem demographischen Wandel mindestens so sehr zuzuschreiben wie einer kapitalistischen Arbeitsethik, die Sorgearbeit nur als Produkt begreifen kann und so in ihr Gegenteil verkehrt.
von Bernhard Horwatitsch
58 Notgeilheit
Vom Reiz der Wäsche
Was ist das Reizvolle an „Reizwäsche“, die man heute nur das Drunter nennt, eben „Dessous“? Und was finden eigentlich Frauen attraktiv?
von Marc Hieronimus
60 Nötigung der Natur
Das Contrajekt
Jedes Wort eine Notlüge, jedes Werk ein Notbehelf: Alles Menschliche ist von Falschheit durchzogen, die davon ablenkt, dass der Mensch selbst keine Notwendigkeit ist.
von Timotheus Schneidegger
69 Notzucht
Der Wille zum Müssen
Das Lebens des Mannes könnte so rational und edel sein, stürzte nicht unentwegt irgendein Frauenzimmer ihn unrettbar in Triebregungen. Über die angenommene Not im Manne, seinen Samen in die Welt bringen zu müssen
von Sarah Maria Lenk
71 Kurz gedacht
Denker im Haiku: Cioran & Hume
von Michael Helming (mh) und Bernhard Horwatitsch (bh)
72 Notlose Werbewelt
„Alles gut“ oder „All is pretty“
Not in der Verneinung: Kann man den Schein des Heils der Reklame goutieren oder soll man ihn schmähen? Über den Illusionismus der Reklame und unseren Umgang mit ihren Reizen
von Wolfgang Schröder
82 Kurz lesen, lang nachdenken
Der tragbare Gedanke 65
von Bdolf (bd), Filbinger (fi), Michael Helming (mh), Bernhard Horwatitsch (bh), Jean-Baptiste O’Lebigmac (ol) und Timotheus Schneidegger (ts)
85 Die unbedeutendsten Denker
Der einbeinige Ersatz-Münchhausen
Eine Volksetymologie leitet den Urbanen Mythos von urban (engl.: städtisch) ab, was natürlich Unsinn ist. Tatsächlich geht der Terminus auf den Journalisten Friedrich von Urban (1799–1825) zurück, der nach einem Schicksalsschlag übers Ziel hinausschießt.
von Filbinger
87 Sentenzen für die Latrinentür
Pro Domo et Mundo 65
von Michael Helming (mh), Bernhard Horwatitsch (bh) und Wolfgang Schröder (ws)
88 Rezensionen in < 800 Z.
Kurz & Klein 65
von Bdolf (bd), Michael Helming (mh) und Marc Hieronimus (hi)
90 Kaiser des letzten Kontinents
Viehlosovieh: Pinguin
Der Pinguin ist ein Latecomer in der globalisierten Welt. Die klassischen Denkerinnen und Denker der hegemonialen Nordhalbkugel-Philosophie wussten nichts von ihm – und er glücklicherweise auch nichts von ihnen.
von Simon Preker
92 Autoren & Illustratoren
Zusätzliche Information
Gewicht | 300 g |
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Größe | 21 × 30 cm |