Aus der Not einen Text machen

Es gibt Worte, die sind wie Schwämme, derart vollgesogen mit Bedeutung, dass sie tropfen. Wer sich daran macht, sie auszuwringen, hält bald kaum noch Masse in Händen. Auch die Not ist so ein Begriff, der an Gewicht verliert, wenn man ihn drückt. Ein Definitionsversuch

von Michael Helming

„Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe“
– Schiller, Die Braut von Messina

Das Volk ist ein unscharfes, angeblich oft notleidendes Gebilde, von dem man vermuten könnte, es spräche mit nur einer einzigen Stimme, dem sogenannten Volksmund. Dieser wiederum behauptet, es sei nicht nur möglich, sondern sogar erstrebenswert, aus der Not eine Tugend zu machen. Wie stelle ich mir diese Metamorphose vor? Ist das schon Selbsttäuschung oder noch die bescheidene Einsicht in Abhängigkeiten? Vermag der Mensch aus real-existierender Scheiße moralisches Gold zu gewinnen? Und wenn ja, fällt solch ethische Alchemie nicht ins Reich der Schwarzkunst? Oder darf man Sprichwörter ohnehin nicht allzu wortwörtlich nehmen?

Halten wir doch zunächst einmal fest, das Wort Tugend leitet sich von Tauglichkeit her, also von Eignung, Brauchbarkeit oder Nutzen. Die Tugend einer Person meint positive Eigenschaften, vor allem vorbildliche, tüchtige und vorzügliche Haltung, möglichst frei von Laster und Sünde; letztlich einen wertvollen und glänzenden Charakter. Tugenden sollen ihren Besitzer zu moralisch einwandfreien Handlungen befähigen. Mag sein, dass tugendhafte Menschen Not besser überstehen als moralisch mangelhafte – aber aus Not direkt Tugend generieren, das scheint mir schwierig. Ist es nicht überhaupt das Tugendhafteste, Not zu meiden, sie vorauszusehen und abzuwenden? Was genau ist denn überhaupt Not und wer hat sich ihre seltsame Verwandlung in Tugend ausgedacht?

Offenbar ist die Redensart zuerst in lateinischer Form bezeugt, nämlich bei Hieronymus, dem temperamentvollen Kirchenvater aus Dalmatien. In seiner „Rede gegen die Schriften des Rufinus“ (III,2) heißt es „Facis de necessitate virtutem“. Und auch an einer Stelle in den Briefen (54,6) steht „Fac de necessitate virtutem“. Beides wird gewöhnlich mit „aus der Not eine Tugend machen“ übersetzt und auch der Google-Online-Translator verfährt auf diese Weise. Dabei habe ich mit „virtutem“ weniger ein Problem, denn „virtus“ steht neben „Mannhaftigkeit“ und „Kraft“ auch für „Tüchtigkeit“, „Tugendhaftigkeit“ und „Sittlichkeit“. Stutzig macht mich hingegen „necessitas“, zwar auch mit „Not“, „Notlage“ und „Mangel“ zu übersetzen, vor allem jedoch mit „Notwendigkeit“, „Unvermeidlichkeit“, „Zwang“ und „Verpflichtung“. Hätte Hieronymus nicht ebenso gut oder vielleicht besser das Wort „angustiae“ bemühen dürfen, welches zwar zunächst „Enge“, „Hohlweg“ und „Engpass“ bedeutet, dann aber neben „Not“ auch „Einschränkung“, „Mangel“, „Qual“,„Verlegenheit“, „Schwierigkeiten“ und „Pein“? Freilich wird sich der Autor der Vulgata etwas dabei gedacht haben, doch was ist mit seinen Übersetzern?
Bei plötzlichen Anfällen babylonischer Sprachverwirrung suche ich für gewöhnlich Trost in Fritz Mauthners „Wörterbuch der Philosophie“ und siehe da, der Urvater der Sprachkritik ahnte bereits vor über hundert Jahren, wo der Hase im Pfeffer liegt. Unter dem Stichwort „Not“ heißt es: „Nur im Deutschen haben wir aus dem gleichen Stamme zwei verschiedene Worte, Not und Notwendigkeit, für die Begriffe Mangel und Zwang; französisch nécessité und englisch necessity kann beides bedeuten. Das Wort notwendig findet sich bei Luther noch nicht. Notwendigkeit im philosophischen Sinne wird erst im 18. Jahrhundert üblich; anstatt Notwendigkeit im Sinne des Erforderlichen sagte man früher Notdurft, anstatt notwendig im Sinne von zwingend sagte man früher nötig.“ Mauthner schreibt, daß „Notwendigkeit die unzerreißbare Kette des Kausalgeschehens ausdrückte. Was muß, geschieht.“ Das ist nicht zwingend ein Notfall, sondern lediglich der Lauf der Welt. Und weil Not also nicht immer mit Notwendigkeit zu tun hat, widmet er letzterer konsequent einen eigenen Eintrag und warnt, vermutlich nicht ohne Anlass, davor „die beiden Begriffe Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander zu verwechseln; Gesetzmäßigkeit oder Gesetzlichkeit ist die wohlfeile Anerkennung der Tatsache, daß wir da und dort in der Wirklichkeit Gesetze gefunden haben, d.h. ökonomische Zusammenfassungen von Erfahrungen; der Glaube an die Notwendigkeit ist eine die Erfahrung gern leitende Überzeugung, ein Dogma, das freilich durch kühnen Analogieschluß wieder aus der Erfahrung abgeleitet ist.“ Auf den folgenden drei Seiten – der Eintrag zur Notwendigkeit ist etwa vier mal so lang wie der zur Not – zeigt Mauthner, „daß die Notwendigkeit am letzten Ende ein negativer Begriff ist, genau so wie der Gegenbegriff Zufall“.

Mangel oder Notwendigkeit? Zufall oder Sachzwang?

Alldem entnehmen wir, zu Mauthners Zeiten war der Begriff „Not“ noch recht eng und eindeutig mit Mangel verbunden und grenzte sich vor allem gegen die „Notwendigkeit“ ab. Wenn es also beispielsweise in der „Chronik der Grafen von Zimmern“, einer bekannten Quelle zur Adels- und Volkskultur des 16. Jahrhunderts, heißt: „Darumb mußten sie user der not eine tugent machen“ oder wenn Fritz von Stolberg an den Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi schreibt: „Sie hatten aus der Noth Tugend gemacht, bürgerliche Tugend, deren sie bedurften, weil der gesittete Mensch ohne sie nicht bestehen kann!“, dann werden da vermutlich materielle Mangelsituationen kommentiert. Oder etwa nicht? Vertrauen wir auf Mauthner, müsste dies auch für jene Zeile aus Schillers „Braut von Messina“ gelten, die diesem Text vorangestellt ist und wir finden uns bestätigt in der Behauptung einiger Sprachwissenschaftler, Schiller habe die Zeile bei Shakespeare geklaut, wo in „Romeo und Julia“ (V,1) ein armer Apotheker mit den Worten „My poverty, but not my will, consents.“ sein Gift verkauft. Allerdings ist in „Die Braut von Messina“ der Sinn ein anderer. Donna Isabella, die bei Schiller jene Zeile spricht, hat kein Problem mit Armut, sondern mit komplexen familiären Zwängen. Sie hat eine Tochter ins Kloster gegeben, die laut Befehl ihres verstorbenen Mannes schon bei der Geburt hätte getötet werden sollen, da sie andernfalls – laut eines Orakelspruchs – den Untergang ihrer Sippe besiegeln würde, was dann bekanntlich auch passiert. Wir begegnen hier einer dramatischen Kausalkette, in Teilen Zufall, in Teilen Notwendigkeit, jedoch keine Not. Isabella handelt „notgedrungen“. Warum aber spricht Schiller hier von Not statt von Notwendigkeit oder Notgedrungenheit? Poetische Sachzwänge? Hatte der Dichter seine liebe Not – Verzeihung! – Notwendigkeit mit dem Versmaß? Oder war der Begriff womöglich damals schon nicht mehr ganz so eindeutig wie Mauthner ihn verstand? War er es womöglich nie? Wir wissen es nicht.

(Photo: Michael Helming)

Wir wissen jedoch, heute versteht der Duden unter Not nicht mehr nur einen Mangel, sondern eine breit gefächerte Auswahl an – sagen wir mal – „blöden Situationen“. Die erste Definition spricht von einer „besonders schlimmen Lage, in der jemand dringend Hilfe braucht“, womit freilich ein Mangel an materiellen Dingen oder aber an Gesundheit und Wohlbefinden gemeint sein kann. Es kann dabei aber auch um eine vergleichsweise einfache Handreichung gehen, z.B. darum, jemandem bei einer Wanderung die Hand zu reichen, damit er nicht abstürzt oder in einen Bach fällt. Die zweite Definition geht von einem „Mangel an lebenswichtigen Dingen“ aus, von „Elend“ und „äußerster Armut“. Soweit entspricht der Duden noch Mauthners Auffassung von Not, doch dann kommt eine psychologische Definition ins Spiel, die Not als „durch ein Gefühl von Ausweglosigkeit, durch Verzweiflung, Angst gekennzeichneten seelischen Zustand, unter dem der davon Betroffene sehr leidet“ beschreibt. Zudem stuft der Duden „Bedrängnis“, „ein belastendes Problem“ oder „durch etwas, jemanden verursachte Mühe“ als Not ein und bis hier folgt dem auch die Wikipedia, doch dann weichen beide in einer Kleinigkeit von einander ab. Die Bezeichnung Not für „äußeren Zwang“, „Notwendigkeit“ oder „Unvermeidlichkeit“ nennt die Wikipedia „veraltet“, der Duden hingegen „veraltend“; wo die Sache für das Internet also bereits erledigt und abgeschlossen ist, sieht das klassische Wörterbuch den Prozess als noch laufend an. Zweifellos hat man zuweilen seine liebe Not damit, genau zu sagen, was bis zu welchem Punkt eigentlich genau unter Not zu verstehen ist. Umstände, die mich verzweifeln lassen, mit denen ich nicht leben kann?

Etymologie und Synonyme

Die Wortherkunft der Not können weder Duden, Wikipedia noch Etymologen eindeutig belegen. Immerhin wurde das Wort seit dem 8. Jahrhundert stellvertretend für „Armut“, „Elend“, „Mangel“, „schwierige Lage“, „Bedrängnis“, „Mühe“, „Schwierigkeit“ und eben auch „Zwang“ verwendet. Wo Mauthner sich auf den philosophischen Wortgebrauch beschränkt, notieren andere Wörterbücher weitere Ableitungen. So entstand das Verb „nötigen“ mit der Bedeutung „jemanden auffordern oder dringend bitten, etwas zu tun“ aus dem mittelhochdeutschen „nōtec, nōtic, nœtic“ für „Not habend“, „bedrängt“, „dürftig“, „eilig“, „dringend“ und „notwendig“. Als „Nötigung“ hat das Wort im Juristendeutsch überlebt, derweil es in seiner ursprünglichen Bedeutung aus dem Alltag verschwunden ist. Auch „genotzüchtigt“ wird heutzutage niemand mehr, wo doch Prügelstrafen verboten und verpönt sind. Das frühneuhochdeutsche „nöten“ bedeutete „Gewalt / Zwang antun“ oder „drängen“ und das Wort „Notdurft“ gebrauchte man einst, wie bereits erwähnt, im Sinne von „notwendig“ oder „erforderlich“, da die Notdurft das „zum Leben Nötige“ war. Schon das althochdeutsche „nōtthurft“ bezeichnete den „Bedarf an notwendigen Dingen zum Lebensunterhalt“, was auch immer darunter fallen mochte.

Zum Leben tatsächlich nötig schien dann irgendwann im 17. Jahrhundert wohl nur noch die Entleerung von Blase und Rektumampulle. Ebenfalls seit dem 17. Jahrhundert wurde ein Zustand der Bedrängnis, in dem akut Gefahr drohte, als „Notstand“ bezeichnet. Dieser hat sich inzwischen inflationär mit anderen Worten verbunden, etwa zum polizeilichen, ökonomischen oder humanitären Notstand, zum Güllenotstand, Wassernotstand, Hunger-, Ernährungs- und Klimanotstand.
In ärgste Bedrängnis gerät man unmittelbar beim Nachschlagen des Begriffs „Not“ im Synonymwörterbuch. Alles, was der brummende Schädel hinterher mit Müh und Not noch weiß, ist, Not wird sehr subjektiv empfunden und dargestellt. Was hier kein Problem oder immerhin erträglich scheint, ist dort eine totale Katastrophe. Not verknüpft sich mit dem Mangel, dem Engpass, mit Entbehrung und Kargheit, Dürftigkeit und Knappheit, von der Bedürftigkeit bis zur absoluten Mittellosigkeit. Bei Geldmangel, also Geldnot, bemisst sich nicht zuletzt an Einkommen und Lebensweise die Höhe der Summe, ab der das Phänomen spürbar wird. Der Super-GAU sei absolute Besitzlosigkeit; man hat das letzte Hemd versetzt, wobei unser Sozialsystem völlige Nacktheit unmöglich macht. Trotzdem kann der Einzelne in der Klemme stecken, in Elend und Armut, wofür manche Lexika das harmlos klingende, lateinstämmige Wörtchen Pauperität anbieten. Der Pauperismus lässt grüßen!

Auch im Bereich des Zwangs, der hier vermutlich ohne Not mitsamt der Notwendigkeit der Not untergeschoben wurde, finden wir zahlreiche sinnverwandte Worte, allen voran das Muss, Bedrängnis oder Drangsal. Und damit ist die Liste strikter und vor allem die der partiellen Bedeutungsähnlichkeiten längst nicht abgearbeitet. Das Wort Not hat sich mit anderen Worten vollgesogen wie ein Schwamm und wenn man nur ein wenig drückt, fließt die ganze Bedeutung in nassem, eklig kalten Schwall heraus aus der Not: Dann kommt die Krise, der Missstand, die Bredouille. […]


Lichtwolf Nr. 65 („Not“)

Weiterlesen? Der komplette Essay steht in Lichtwolf Nr. 65 zum Thema „Not“ – erhältlich als 92-seitiges Paperback im A4-Format sowie als E-Book.

Schreiben Sie einen Kommentar