Leviathan frisst

Masse und Macht sind nicht gerade appetitliche Themen, und doch ging Elias Canetti sie auf ebenso abenteuerliche wie kulinarische Weise an. Zumindest darin war er originell. Ein Lektürebericht, der Spuren von Polemik enthalten kann.

von Georg Frost, 20.12.2010, 13:41 Uhr (Neues Zeitalter)

Mit der Größe einer Persönlichkeit wachsen ihre Probleme, deren penetrantestes ihre Anhängerschaft ist. Denn nicht nur, wo sich der Ruhm der Persönlichkeit auf einem Textwerk gründet, wird die Auseinandersetzung damit erschwert durch die literarischen und philosophischen Schlachtenbummler, die Besserwisser und Zitateklopper, aus denen sich die Orthodoxie rekrutiert, die auch dann miefig bleibt, wenn sie sich ach so unorthodox gibt. Das phantasmagorische Sabbeln der George- und Hölderlin-Jünger ist vom gleichen bieder- und vereinsmeierlichen Habitus wie die Armleuchterei der Kerouac- und Burroughs-Bagage.

Vor diesem Hintergrund forderte der Schriftsteller und internationale Goethe-Vertreter Stephan Wackwitz im September für Walter Benjamin: „Rettet ihn vor seinen Fans!“ Was Wackwitz dann mit Benjamin anlässlich des 70. Todestags machte, war keine Rettung, sondern eine Hinrichtung, in der der Verfasser auch mit einem jüngeren Ich abrechnete. Dessen Benjamin-Verehrung gründete sich nämlich auf dem unkonventionellen Stil des Philosophen. Benjamins Theorien seien schließlich eher dem Bereich der schwärmerischen Prosa als der rationalen Wissenschaft zuzurechnen. In der akademischen Literatur jedoch ist das Schema F das Maß der wissenschaftlichen Texte, was ihre Autoren wohl umso mehr antreibt, darin bedeutungsschwanger mit Benjamin-Zitaten um sich zu werfen.

Canetti im Klo, Photo: Georg Frost

(Canetti im Klo, Photo: Georg Frost)

Das Schicksal, für einen Wissenschaftler einfach zu gut schreiben zu können und eine Anhängerschaft zu besitzen, die auf die Bedeutung ihres Meisters als Objekt und Subjekt der Geisteswissenschaften besteht, teilt Benjamin mit Elias Canetti. Für seinen Essay „Masse und Macht“, wahlweise als anthropologisch, psychologisch oder philosophisch attributiert, würde Canetti nicht mal einen Proseminarschein kriegen, sondern mit Schimpf und Schande vom Campus gejagt werden.

Andererseits schert sich in Post-Bologna-Zeiten vielleicht auch niemand mehr um derart haarsträubende Quellenarbeit. Mit seinem Literaturverzeichnis-Overkill geht Canetti immerhin noch Konform mit den Gepflogenheiten akademischen Schwanzvergleichs, auch wenn er auf über 500 Seiten nicht eine einzige Fußnote setzt. Doch nicht nur Adorno – selbst kein Jünger des Formalzwangs – geriet darüber in lautes Stirnrunzeln: Aus einer handvoll kolonialistischer Räuberpistolen über die Wilden strickt sich Canetti einen Pulli, der der ganzen Menschheit passen soll. Wie er dann auch noch Selbstauskünfte von psychisch Kranken nicht zur Illustration, sondern zur Stützung seiner Ideen über Masse und Macht verwendet, hat uns spätestens mit Foucaults Gefolge den postakademischen Normalwahn beschert, das „Walking on the Borderline“ sei der Eigentlichkeit zuträglich und lehre den Aufbau einer besseren Gesellschaft.

Weil sich Canetti zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1960 schon eine gewisse Anhängerschaft in den Feuilletonredaktionen eingepreist hatte, ging man dort davon aus, das ganze Zeug über die Macht werde nach Hitler und vor Atomkrieg schon seine Richtigkeit haben; einzig der tautologische Klappentextwahnsinn meiner Fischer-Ausgabe kündet davon, dass zumindest Rudolf Hartung sich gegen den Fall versichert hat, „Masse und Macht“ würde sich späterhin als Riesenhumbug entpuppen: „Elias Canetti ist originell wie kaum ein Zeitgenosse, und er will es sein.“ (Müssen das verrückte Zeiten gewesen sein!)

Klassiker sind wie Pop-Hits, auch und besonders darin, dass sie „gemacht“ werden durch affirmatives Dauerfeuer, vor dem das Publikum schließlich kapituliert. Darin schenken sich „Masse und Macht“ und „Macarena“ nichts; auch nicht darin, immer wieder mal hervorgekramt zu werden. Hier, wenn die vorgerückte Stunde nach dem Ballermann-Sampler verlangt; da, wenn sich in Duisburg die Leute tottrampeln und der Kolumnist gedankenvoll auf Canettis Beschreibungen verweist, wie die Jubelmasse in eine Panikmasse umschlägt. Die geraten zugegebenermaßen eindringlich, aber Canettis prosaische Qualitäten (bzw. die Schöpfungshöhe bei seiner Quellenverwurstung) stehen hier gar nicht zur Debatte. Breton-Angeber sind im Feuilleton selten geworden, sonst hätte dort jemand auf die grausam-theatralische Ironie hingewiesen, mit der Duisburg daran erinnerte, dass „Masse und Macht“ vor genau einem halben Jahrhundert erschien.

Vermehrung der Jagdmeute

Canetti hatte jahrzehntelang immer wieder mal in seine gut sortierte Kolonialbibliothek gegriffen. Die Indianer, Indios und Aborigines in den Berichten pflegten nicht den Gang in Supermarkt oder Gourmettempel, wie es hier bei knurrendem Magen Usus ist, sondern sie gingen Jagen. Entsprechend nimmt ausnahmslos jeder Gedanke in „Masse und Macht“ Ausgang von der Jagd bzw. der Jagdmeute als kleinste soziale Einheit. Wer sich wundert, woher der publizistische Trend kommt, alles, aber auch wirklich alles mit dem steinzeitlichen Jäger-und-Sammler-Erbe zu begründen, das Raketenwissenschaftler, Innendekorateure und Kanaltechniker steuert, findet hier einen Pionier dieses Unfugs.

Löwe

Der Löwe kann jeden fressen und das auch noch offen kundtun. Das ist Macht. (Illu: Chatsam, Wikipedia, PD)

Es ist ja nicht falsch, nur platt, wenn Canetti in den ersten Abschnitten zum Thema Masse bemerkt, das Töten der Beute diene immer der Vermehrung des eigenen Körpers oder Clans und sei darum die unverzichtbare Kardinaldisziplin der Macht. Es ist überhaupt manches einleuchtend, was er sich da überlegt, und der Leser fragt sich häufig, wie es 1960 wohl gewesen sein muss, als diese und jene Sentenz noch nicht den Rang eines Gemeinplatzes hatte. Die Produktion sei die moderne Form der Vermehrung – wer hätte es gedacht! Canetti wird vor diesem Hintergrund auf den letzten Seiten gar durchaus hellsichtig, wenn er urteilt: Kapitalismus und Kommunismus wollen einander nicht zerstören, sondern übertreffen. So kam es dann ja auch, als die Sowjetunion schließlich nicht mehr mithalten konnte im steten Anhäufen von Overkillkapazität.

Den Wunsch nach Mehr sieht Canetti im Zentrum aller Mythen und Riten stehen. Er entspringt der bitteren Lektion, die mancher Urmensch erleiden musste: Allein machen sie dich ein. Neidisch auf und eingeschüchtert von riesigen Tierherden setzt Canettis Mensch – ungestört von jeder individuellen Regung – alles daran, selber Herde zu werden, um den Gefahren der Unterzahl zu entgehen und noch mehr ranzuschaffen, als es ihm allein möglich wäre. Denn natürlich ist die Bedingung der Vermehrung, dass zunächst einmal genug Lebensmittel für den Spaß vorliegen. Hier verbindet sich das Jagdglück der Männer mit der Fruchtbarkeit der Frauen zum wenig originellen Leitmotiv des Herdentiers Mensch. Die Triebfeder der massenhaften Vermehrung sieht Canetti in seinen Kolonialvorlagen immer wieder bestätigt, schließlich dient ein Regentanz nicht der Unterhaltung christlicher Missionare, sondern dem Vermehrungssinn mit Blick auf die Ernte.

Sublimierungen

Auch die vermeintlich transzendentalen Rituale Europas drehen sich um nichts anderes als die Vergrößerung der eigenen Zahl vornehmlich durch sublimierte Formen des Verspeisens. In der Kommunion ist es der tatsächliche Leib Christi, der den Gläubigen verabreicht wird und sie so mit der Institution verbindet. Allerdings scheut der Katholizismus die offene Masse. Ein Stück des Gottessohnes zu essen vergrößert vielmehr die ins Transzendente entrückte Masse der Gläubigen, die im Diesseits allerdings von nahezu jedem kirchlichen Aspekt streng vereinzelt werden. Anders als offene Massen wie beispielsweise nationale Ideologien hat die Kirche „keinen Appetit“: Sie will nicht die Vergrößerung und Vermehrung, alles verläuft in geordneten Reihen, Massen bildet sie nur im Notfall (Kreuzzug). Dennoch sieht Canetti in der Kommunion eine domestizierte Vermehrungshandlung: Jeder kriegt etwas vom Selben ab, ganz wie bei einer Jagdmeute. Das gemeinsam erlegte Tier verbindet und im Ritual der Beuteaufteilung ist bereits die Vorstellung von künftigen Jagderfolgen enthalten. Befremdlich? Quatsch, so hat es Canetti doch selbst gelesen in Berichten über die Vorgänge bei diversen Ureinwohnern! Da gibt es einen Stamm, der fest von der Wiederauferstehung der Beutetiere ausgeht. Natürlich ist es dann naheliegend, die Parallele zum Katholizismus zu ziehen: Hier die Vorstellung, die Jagdmeute würde sich durch ständige Wiederauferstehung der Beute vermehren, wenn nur gewisse rituelle Voraussetzungen eingehalten werden. Dort die Ehrfurcht der Gläubigen vor dem Heiligen, das den Weg durch ihre Gedärme antritt und ein ruhiges und würdiges Verhalten gebietet, auf dass nach dem Jüngsten Gericht die massenhafte Wiederauferstehung aller toten Gläubigen erfolgt.

Auf diese Weise reimt sich Canetti aus nahezu allem irgendetwas über Masse und/oder Macht zusammen. Das Stadion ist für ihn ein „Massenring“, in dem die Zuschauermasse das Spektakel und zugleich sich selbst gegenüber im Blick hat; unklar, warum er hier nicht auf den Esstisch zu sprechen kommt, wo der nächste Bezug zum Fressen selten mehr als einen Absatz auf sich warten lässt. Regen, Flüsse, Wind, Steinhaufen und Sand werden bei Canetti zu Massensymbolen, also zu als Masse empfundenen Phänomenen. Seine Ideen vom Herdenmenschen spiegeln sich wunderbar darin, umso mehr, wenn er sich mit den Massensymbolen beschäftigt, die irgendwie mit Essen zusammenhängen: Der Haufen ist vornehmlich ein solcher aus Korn oder Obst, wie auch der Schatz und der Wald, aus dem – wie aus dem Meer – die Fressalien stammen, die über dem Feuer zubereitet werden. Des Deutschen liebstes Massensymbol ist der Wald, worauf – so lernen wir von Canetti – der deutsche Militarismus zurückzuführen ist, denn dem Germanen wird ganz warm ums Herz, wenn er ein aufgestelltes Heer sieht und sich dabei an die Baumreihen im geliebten Forst erinnert fühlt. Massensymbol der Engländer und Holländer ist das Meer, wie es sich für Seefahrernationen gehört, und wer das Buch hier nicht in die Ecke geworfen hat, beweist großes Vertrauen in das Label „Klassiker“; der Leser hat übel dafür zu büßen. Hungrig nach der kleinsten klugen Sentenz (Das Feuer ist „alte Angst und neue Macht.“) stolpert er durch eine Bleiwüste aus schiefen Metaphern und hanebüchenen Verallgemeinerungen. Der gönnerhafte Verriss, ein Buch hätte ein besseres Lektorat verdient, wird zum blanken Hohn angesichts der über Dutzende von Seiten ausgewalzten Marotten eines indischen Maharadschas oder ugandischen Königs. Es hätten 100 Seiten Essay gereicht, um die Gedanken zu Masse und Macht auf den Punkt zu bringen, aber eben nicht, um dem eitlen Geck Canetti eine hinreichende Bühne zu bieten, auf der er mit seinen sinnlos aufgehäuften Lesefrüchten angeben kann.

Macht essen Menschen auf

Eine schlankere Form hätte die ganze Schwäche des Machtwerks andererseits wohl zu deutlich zutage treten lassen. Denn da, wo Canetti „originell“ wird – und zwar ausnahmsweise nicht in dem Sinne, wie man eine Frau für „originell“ hält, die Zuggeräusche ausstoßend mit einem umgehängten Mercedesstern die Herrentoilette auf- und abgeht – bleibt es bei ganz netten Ideen, die von Politologen gern zur Aufhübschung zitiert, aber nie ernstlich in Betracht gezogen werden.

Obwohl er ihn nie erwähnt, bleibt Canetti seinem Hobbes treu, wenn es um die Macht geht. Sein Machthaber entspricht dem Souverän, den wir aus dem „Leviathan“ kennen. Die Ausübung und Wirkung von Macht und Gewalt stellt uns Canetti am Beispiel der Katze vor, die eine Maus in ihrer Gewalt hat. Nazitrauma hin oder her: Über Herrschaft, Regierung oder wenigstens Verwaltung erfahren wir bei Canetti gar nichts. Moderne Formen politischer oder gesellschaftlicher Macht werden en passant abgehandelt mit der Bemerkung, es mangele ihnen – im Gegensatz zum Idealbild des absoluten Herrschers, der im Jähzorn mal eben eine ganze Metropole entvölkern lässt – an Geheimnis und Entschlossenheit. Wir nennen es Transparenz und Legitimation.

Adler

Der Adler kann jeden packen, ist aber selbst außer Reichweite aller. Auch das ist Macht. (Illu: Syryatsu, WIkipedia, PD)

Allen Ideologien geht es darum, den richtigen Weg zur Gerechtigkeit gefunden zu haben, und alle haben sie sich den Begriff von der Verteilung der Beute geholt, die die Jagdmeute vor das Sozialrätsel stellt, wem wie viel zusteht. Diese Sicht ist nur konsequent von Canetti, der uns Macht und Gewalt am Beispiel von Katz und Maus erläutert und sodann – in Fortsetzung des Bildes – in die „Eingeweide der Macht“ hineinführt. Das Gefängnis ist das vorderste Sinnbild der Macht und dem Mund nachempfunden: Wer hier hineingesteckt wird, kommt nicht mehr heraus, wird zermahlen und heruntergeschluckt. (Auch hier: Nix mit habeas corpus und Gerichtsverfahren, war 1960 halt alles noch anders als heute.) Von den Zähnen leiten sich alle Waffen ab.

Die Verhaftung ist eine Abart der Jagd: Ermittlung, Fahndung und Zugriff sind dem Spähen, Lauern und Anspringen abgeguckt. Sie ist der deutlichste Akt der Macht und der Akt der Einverleibung von der Hand in den Mund. So erklärt sich auch die Bedeutung des berühmten ersten Satzes, wonach der Mensch nichts mehr fürchtet als die Berührung durch Unbekanntes. Die Berührung ist der Vorbote des Packens und Schmeckens, die Furcht davor steckt dem Menschen noch in den Knochen und der Machthaber weiß sie zu nutzen. Es ist kein Zufall, dass der Mensch mit großer Ehrfurcht auf Katzentiere blickt, die wie niemand sonst das Lauern und Zupacken beherrschen. Ebenso wenig ist es Zufall, wie beliebt Löwen und Tiger als Wappentiere und Insignien der Macht sind. Dies hat einen weiteren Grund, nämlich den Befehl. Um ihn geht es Canetti eigentlich mit seinem Traktat, nur hätte „Masse und Befehl“ nicht so schön gestabreimt. Hier geht seine Phantasie vollends mit ihm durch, das Muster ist jedoch das gleiche: Der Befehl leitet sich natürlich vom „Fluchtbefehl“ ab, den ein Raubtier seiner künftigen Beute einflößt. Auch hier stellt uns Canetti wieder den Löwen vor, der sich seiner Macht über alle Tiere so gewiss ist, dass er ihnen seine Jagdabsicht durch lautes Brüllen ankündigen kann.

Macht hat durchaus Eigenschaften der Masse, denn man kann von ihr nie genug haben und sie sucht sich stetig zu vergrößern. Aus der Jagd abgeleitet, dient sie natürlich auch überall der Vermehrung durch Speisung: Womöglich sprach man in Bonn, Washington oder Moskau schon 1960 vom „Stimmvieh“ oder davon, „am rechten Rand zu fischen“. Canettis Machthaber kann jeden ergreifen und auffressen (=in den Knast stecken), aber selbst nicht ergriffen werden. Er dient – und hier hören wir doch wieder Hobbes – der Vermehrung seiner Macht durch Ernährung seiner Masse; Prunk und Verschwendungssucht sind ebenso wichtig wie Großzügigkeit und Fürsorge. Denn der Befehl ist umso wirksamer, wenn er vom nährenden Herren stammt. Das Spiel von Fütterung und Drohung, das gefügig macht, ist bei Hund und Sklave gleich. Der Machthaber signalisiert seinen Untergebenen, sie nicht aufzufressen, sondern ihnen ein Leckerli zu verabreichen, wenn sie nur seinen Befehlen Folge leisten. Allerdings bleibt jeder Befehl unvergessen und der Machthaber muss jederzeit fürchten, dass sich die Masse, der er ganz so absolut vorsteht wie der Souverän dem Leviathan, gegen ihn wendet. In der Charakterisierung des Machthabers wird Canetti inkonsequent, schlägt doch das Herdentier Mensch hier ins totale Einzeltier um, das von nichts so sehr getrieben wird wie davon, alle anderen zu überleben. Dazu ist es wichtig, nicht ergriffen werden zu können – und die Bauweise sämtlicher Königshöfe verrät ja durchaus, wie sehr Majestäten auf Abstand bedacht sind, während sich ihre Macht doch darin zeigt, jeden Untertanen in jedem Winkel des Reichs ergreifen lassen zu können. (Hier mag man an den in der Heraldik ebenso beliebten Adler denken.) Canetti sieht die Paranoia als notwendige Geisteshaltung des Machthabers und im Paranoiker umgekehrt den König ohne Land.

Lieber tot als Kot

Wer vom Fressen redet, darf vom Scheißen nicht schweigen, und natürlich hat Canetti, der zwar kleinwüchsig, aber keineswegs fett war, daran gedacht. Wer „vom langen Arm“ der Macht gepackt und ins Maul Gefängnis gestopft wird, wandert natürlich durch die Gedärme der Macht, die sich von einem nährt und dadurch vermehrt. Am Ende wird der Gefangene ausgeschieden und wir lernen von Canetti, dass nichts so sehr Teil von uns gewesen ist wie das, was uns zu Kot geworden ist. Es steht zu befürchten, Canetti habe sich hier einfach als Gefangener seiner Symbolik wiedergefunden.

Die Toten werden der Masse ausverleibt, mitunter förmlich ausgekotzt. Hingebungsvoll widmet sich Canetti den diversen Zeremonien und Umgangsformen seiner Wilden mit ihren Toten. Hier kümmern sich die Indianer aussichtslos, aber hingebungsvoll um jeden Sterbenden, damit er die feindliche Masse der Toten nicht vergrößere und wenn, dann mit Milde gegenüber den um ihn bemühten Lebenden. In nahezu allen Kulturen findet Canetti Opferrituale, in denen den Toten zu essen gegeben wird, um sie zu besänftigen oder zumindest davon abzuhalten, die Lebenden anzuknabbern. Immerhin ist die Masse der Toten deutlich größer als die der Lebenden und wenn diese wie jene von Macht besessen ist, droht den Lebenden jederzeit, Beute der Toten zu werden.

Andernorts bleibt das Verhältnis zwischen Toten und Lebenden dank Wiedergeburt stabil. Hier findet Canetti auch die schöne Brahmanen-Geschichte, in der sich ein Mensch auf den Weg ins Jenseits macht. Als er zurückkehrt, berichtet er davon, wie Korn ihn zermahlen hat, Sträucher ihn verstümmelt und Tiere ihn aufgefressen haben. Er erhielt von den Dingen, die ihn zu Lebzeiten nährten, nun die gleiche Behandlung, die er ihnen einst zuteil werden ließ. Da findet sich zum Schluss dann noch eine kleine Denkwürdigkeit: „Jeder hat Appetit und jeder steht als König auf unermeßlichen Leichenfeldern von Tieren.“ (S. 504)

Verschlingen jedenfalls wird man diese zähe Textmasse kaum und auch das sporadische Gewürz von Einfällen lässt es nicht munden. Vom geistigen Speiseplan streichen!


Lichtwolf Nr. 32

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