Grützendämmerung

Bei fast allen Philosophen geht es gelegentlich auch mal ums Essen. Aber eine Philosophie des Essens scheint auch in Zeiten von mehrstündigen Kochsendungen und reger veganer wie vegetarischer Publizistik zu fehlen. Ist das ein Mangel?

von Stefan Rode, 20.12.2010, 13:31 Uhr (Neues Zeitalter)

 

„Kennt man die moralischen Wirkungen der Lebensmittel?
Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!)“
– Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3: 379

„Das lachende Schwein läd’ Sie zum Kaufen ein!“
– Örtlicher Metzgerei-Betrieb

 

I. Gibt es eine Philosophie der Ernährung?

„Der Mensch denkt unentwegt ans Essen!“ – über diese These empirische Beweise zu führen, würde bedeuten Eulen nach Athen zu tragen, vielmehr wäre es wohl eine hehre Aufgabe, das Gegenteil darzulegen. Dass „Denken“ jedoch nicht implizit kritische Hinterfragung, Wertung und Affirmation oder Negation (vereinfacht: Nachdenken) bedeutet, wird in diesem Zusammenhang unmittelbar greifbar. Vielmehr ist es doch so, dass auch den hektischsten Vertretern unserer Art in diesem Sachverhalte eine stoische Ruhe innewohnt, welche Mark Aurel sicherlich vor Neid hätte erblassen lassen. Der in Gewohnheitsabläufe eingespannte Mensch ist so wenig Herr seines Wollens, wie bereits durch Schopenhauer dargelegt die These „Ich kann tun, was ich will“ nur die Gebundenheit an den Willen selbst beweist. Leicht kann man dieses nachvollziehen, wenn im Zustand des empfundenen Mangels auch der Dunst zubereiteter Paarhufer einen konditionierten Reflex im pawlowschen Sinne bei im Regelfall disziplinierten (besser: fanatischen) Vegetariern auslöst.

 

Betrachten wir zu Beginn in aller Kürze die philosophische Tradition zur Untersuchung der ersten Fragestellung. Hier finden wir überwiegend eine Abneigung gegen kulinarische Genüsse (welche später auch im Christentum mündete – Gula, die Völlerei als peccatum mortiferum) bzw. den beliebten „erhobenen Zeigefinger“. Während Sokrates die Ernährung immerhin noch als Teil einer philosophischen Lebenskunst betrachtet, ist bereits bei Platon eine starke Abneigung gegenüber Gaumenfreuden vorhanden. Die Zubereitung von Speisen sieht er als „vernunftlose Geschicklichkeit“ an, welche das „wahre Gute“ verdecken. Ähnliches finden wir sodann bei Aristoteles und Seneca. Auf die Spitze der christlichen Moralausforschungen (Stichwort „Unreinheit der Genussgier als Quelle allen Übels und der Sünde“) treibt es später Augustinus, der uns ja selbst meistens nicht gerade als schlankes Reh übermittelt wurde.

 

Schauen wir weiterhin, was die spätere deutsche Philosophie zum Titelthema hervorgebracht hat. Dass Kant ein Feinschmecker war, wissen wir nicht erst seit Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“; „Wurst und Sterne“ lässt er den greisen Königsberger verlauten. Versuche, die „Kritik der Urteilskraft“ als gastrosophisches Werk zu interpretieren, sind allerdings bisher gescheitert.

 

Wir finden außerdem den kosmogonischen Eros nach Ludwig Klages: „… daß jedes höherentwickelte Einzelwesen im Essen und Trinken sogar wählerische Neigungen kundgibt, an deren Erfüllung sich seelenvollere Freuden knüpfen, als die Stillung allein des Hungers zu gewähren vermöchte! […] Wer ihn zu Ende schreitet, wird um eine Art des Speisens wissen, die als Polverbindung des Speisenden mit der Speise erlebt wird und demgemäß unter verzückungsartigen Schauern geschieht!“ (1) Dass „Schauer“ in diesem Zusammenhang weniger mit einem Sinnesrausch, als im Sinne höherer Bilder (nicht Metaphern!) gesehen werden muss, wird anhand des folgenden Textauszuges aus „Herrn Dames Aufzeichnungen“ (von Reventlow) deutlich: „Ja, ich will Ihren Vetter abholen – wir haben einen Nachtspaziergang zu den Hünengräbern verabredet. Es ist sehr möglich, daß wir dort zur Nachtzeit kosmische Urschauer erleben.“ (2) Die tragende und (typisch deutsch) gewollt „tiefsinnige“ Bedeutung des „Ur“ plus „X“ zieht sich wie ein roter Pfaden durch die Schriften aus dem Dunst des George-Kreises. Das gesamtheitliche mystische Weltgeflecht mag zwar die Seele erfreuen, wirklich praktische Hilfestellungen bei der Nahrungsfrage fehlen jedoch.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Spinnen wir den Faden noch etwas weiter und denken an das brechtsche Wort „erst kommt das Fressen, dann die Moral“ – hier wird schon ein deutlich bodenständiger Blick auf die Ernährung geworfen. Zunächst einmal müssen die Grundbedürfnisse befriedigt sein, anschließend hat man Muße für dieses Abfallprodukt der Befriedigung (kurz Moral). Im Idealzustand könnte somit jede Nahrungswahl, bzw. Aufnahme eine kleine moralische Prüfung sein (mal etwas aus dem Alltag: „Freiland- oder Käfighaltung“ etc.); sofern „man“ sich darauf einlässt und, wie durch Brecht dargelegt, die Rahmenbedingungen hinreichend sind. Wenden wir dies weiter auf die Praxis an. Der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz umfasst einen Betrag von 128,46 Euro monatlich für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke. Aufgeteilt auf durchschnittlich 30 Tage pro Monat entspricht dies einem täglichen Betrag von 4,28 Euro für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. Die Frage, welche herstellungstechnische Grundlage dem gewählten Produkt zugrunde liegt, dürfte somit moralisch zunächst in den Hintergrund treten, sodass bei einem derartigen Entscheidungsrahmen eher eine preislich-orientierte Selektion erfolgt.

 

Abschließend entstaube ich noch eine Absonderlichkeit aus der Freiburger Rumpelkammer: „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.“ (3) Diese Blüte der deutschen Philosophie stellt meines Erachtens die stärkste Kontroverse hinsichtlich moderner Nahrungsherstellung dar und wurde später nicht zufällig von der radikalen Tierschutzorganisation PETA aufgegriffen („Holocaust on Your Plate“ (4)). Im Übrigen nähert sich die zitierte Aussage stark Rousseaus Idee der ländlichen Selbsterzeugung an („Mein Garten wäre ein Gemüsegarten“), welche wir hier allerdings nur streifen wollen.

 

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass in obiger Fragestellung zu Römisch Eins nur eine recht oberflächliche Betrachtung weiterer Ankoppelungen an das Ausgangsproblem in der westlichen Philosophie-Geschichte (man denke u.a. auch an Epikur, Hippokrates und Feuerbach) erfolgte, allerdings lässt es sich wohl nicht leugnen, dass es insgesamt an einer system- orientierten Gastrosophie (man mag auch sagen, einer „philosophischen Wissenschaft der Ernährung“), wie Nietzsche sie im Anfangszitat wohl erstmalig in der Philosophiegeschichte einforderte, weiterhin mangelt, obwohl unbestritten an vielen Stellen (nur einige habe ich hier nennen können) durch verschiedenste Denker Äußerungen und Überlegungen erfolgten. Im Nachfolgenden soll darüber nachgedacht werden, welchen Nutzen ein solches „geschlossenes System“ denn überhaupt hätte bzw. haben könnte.

 

II. Braucht man eine Philosophie der Ernährung?

Zunächst einmal ist zusammenfassend festzuhalten, dass Nahrungsaufnahme eine tragende Rolle im gesellschaftlichen Kontext einnimmt. Kaum ein gesellschaftliches Ereignis, welches ohne Beköstigung auskommt – selbst dem Ende der stofflichen Existenz steht noch ein Leichenschmaus gegenüber; auch der Sensenmann winkt noch mit Kaffee und Kuchen. Schopenhauer spricht von der Höflichkeit als Äquivalent zur Hitze bei der Wachsformung, dass Nahrung primär auch als „Gefügigmacher“ fungiert, ergibt sich nicht nur aus dem Kontext des „Geschäftsessens“. Es gibt doch keinen leichteren Weg, den Menschen zur Folgsamkeit zu bewegen, als eine ordentliche Magenfüllung (mir kommt hier im Besonderen die Frühstücks-Szene aus Jüngers „Gläserne Bienen“ in den Sinn).

 

Kombiniert man somit zusammenfassend gesellschaftliche, soziale, kulturelle, religiöse, traditions-verpflichtete und „metaphysische“ Aspekte (nicht zu vergessen – schmeckt auch gut – „Essen als Sex des Alters“), so wird deutlich, dass Nahrungsaufnahme eine gesonderte Stellung im Lebenswandel einnimmt und dementsprechend zu behandeln wäre.

 

An den Anfang dieses Textes habe ich ein kritikwürdiges Nietzsche-Zitat gestellt – so führt N. die Streitigkeiten einer Einzelfrage auf das Fehlen einer Gesamtphilosophie zurück. Mag er im Gesamten (siehe hierzu auch Römisch Eins dieses Textes) Recht behalten, so ist das gewollte Resultat im Einzelfalle sicherlich einiger Rückfragen schuldig.

[…]

 


Lichtwolf Nr. 32

Weiterlesen?

Den kompletten Essay und weitere Beiträge finden Sie in Lichtwolf Nr. 32 (Titelthema: „Essen und Trinken“) – erhältlich hier im Einkaufszentrum.

1 Gedanke zu „Grützendämmerung“

Schreiben Sie einen Kommentar