Big Brother – Where Art Thou?

Liebe Deinen Nächsten! 365 Tage Ich-AG! Opium fürs Volk!

von dr faustus und Timotheus Schneidegger, 22.03.2004, 21:11 Uhr (Dunkles Zeitalter)

 

Werbung – nach den bei eBay niedergeschriebenen Verkaufsofferten der größte und schwefligste Hort brechreizerregender Wortgemeinheiten, die darüber die Schamesröte ins Gesicht treiben, zur selben Spezies wie die so etwas erbrechenden Sprachschänder zu gehören. Der sachgemäße und nervenschonende Umgang mit ihr besteht darin, einfach nicht hinzugucken und zu hoffen sie möge von selbst wieder weggehen. Eine Taktik, die sich so auch bei den Verrückten bewährt,die täglich aus Emmendingen in die Freiburger Fußgängerzone gekarrt werden. Manchmal aber ist ein beherzter Zugriff doch nötig, insbesondere dann wenn die Debilität so ausartet, daß sie uns darauf aufmerksam macht: Hier möchte jemand etwas mitteilen. Jedoch: Um irgendeine Werbetaktik anwenden zu können, muß man zunächst erkennen, daß es da etwas gibt, was das Volk nicht sehen möchte. Und da steckt das Dilemma, denn genau auf diese Art und Weise funktioniert die neue Big Brassa Werbekampagne.

 

„Opium für das Volk“
Was mag da los sein?

 

Seit Anfang März ist der Lehm wieder auf Sendung und die Bildzeitung mischt auch mit. Klar, immerhin könnten sich nicht nur völkische Beobachter wie FJ Wagner (BILD) oder Günther Beckstein (CSU) vorstellen, das neue Konzept (Reiche dürfen Arme unterdrücken, alles wird überwacht und nachher schön populistisch zusammengeschnitten) nach erfolgreichem Testlauf bundesweit anzuwenden.

Ganz wie E. Jünger damals hat die Verzweiflung im Angesicht des nahen Todes die klugen Erfinder der TV-Labsal zu den wüstesten Kapriolen getrieben: Der frühere Ablauf der Sendung (Einsperren & ausschlachten) ist verlängert und hierarchisch verhügelt worden.

Und die Werbekampagne dahinter ist extragroß.Es braucht einen Moment, um zu verstehen welch subtile Gesellschaftskritik RTL II mit seiner Big Brassa-Sache verfolgt. Erstmal natürlich die Sendung selbst: Ganze Heerscharen von arbeitslosen Ethikern mit Fernsehtechnikumschulung sind durch die standardisierte öffentliche Empörung über den medialen Idiotenzoo wieder in Lohn und Brot gekommen. Wir begreifen dadurch, was das Arbeitsamt leisten könnte, wäre es nur ein Fernsehsender. Doch erst die Plakate, mit denen RTL II vorgeblich „wirbt“, sind Hinweise darauf, wie das, was einen über die Brownsche Röhre ereilt, zu verstehen ist: „Opium für das Volk“, Marxens Charakterisierung des von allen ausbeuterischen Staatsformen zur Herrschaftssicherung propagierten Christentums, wird zum Interpretationsschlüssel der Werbekampagne einer Sendung, die beweisen will, daß es nicht ausreicht, Dystopien auszumalen, sondern daß sie real werden müssen, um die Gesellschaft kathartisch zu behandeln.

 

„Liebe Deinen Nächsten“
Besser hätte der Vatikan es auch nicht gebracht.

 

Die Werbeaufklärer lehnen sich mit der Reklame „Liebe deinen Nächsten“ noch weiter aus dem Fenster: Noch vor Marx, auf Hegel nämlich rekurrierend, benutzen sie den bekannten Werbespruch des soeben vorgeführten Christentums im eröffneten Negationskontext zu dessen Defamierung, genauer: Zu der des dahinterstehenden affirmativen Untertanentums, heute in Gestalt der Quote, zu der auch die beisteuern, die nur gucken um sich darüber aufzuregen. Das Plakat „365 Tage Ich AG“ schlägt dann den synthetischen Bogen zur Gegenwart, in der Manager die Bischöfe und Beraterfirmen die Inquisition sind.

So wird dann auch die frühere Aufregung des Establishments über Big Brassa verständlich: Sie haben geahnt, wie dieses Projekt sie bloßstellen würde, indem es in der Manier eines Tyler Durden bis zum Nullpunkt geht und sich von keinem Gebot der Geschmacks- oder Sprachsicherheit mehr in seinem offenbarenden Schleierlüften zügeln lässt.

Die Situation stellt sich nun wie folgt dar: RTL II verarscht sich (und alle anderen) mit Big Brassa selbst. Und alle, die RTL II mitverarschen wollen, sind dazu genötigt täglich – oder zumindest wöchentlich die Zusammenfassung – Big Brassa anzuschauen, um die aktuellsten Gründe zu finden, weswegen diese Sendung Scheiße ist. Und: tatata alle werden mitmachen. Getreu dem Motto: Na, hast du gestern gesehen, welcher Scheiß gestern wieder bei BB lief?

Da bekommt selbst der grünste Soziologe und Praxisethiker voll den BB-Hype. Bald wird es die erste Doktorarbeit über diese Staffel geben, mit der Quellenangabe: 96 Stunden BB pro Tag mal 365 Tage… So macht Quellenarbeit doch mal Spaß. Und alle Profs, die ihren Senf dazu geben wollen, sind ebenfalls gezwungen auf dem aktuellsten BB-Stand zu sein. Die nächsten Soziologentagungen laufen dann so ab: „Jaja, habe Sie gesehen, letzte Woche haben sie die Container-Demokratie eingeführt, ist das nicht lächerlich/faszinierend?“ „Ja, lieber Herr Kollege, nach Marx werden sie auch bald die Sklavenhaltergesellschaft überwunden haben, Hahaha!“

Hahaha.

Beinahe wären auch wir Parodiewilligen unter den Nichtguckern auf diese Masche hereingefallen, bis offenbar wurde, daß Big Brassa selbst die beste Parodie ist. Und wer die Sendung parodieren wollten, müsste zuschauen – gleicher Effekt. Jedoch: Bevor es soweit kommt, kann man lieber noch einmal Orwells „1984“ für den kleinen 2-Minuten-Haß lesen. Und wenn „1984“ zum Code of Conduct der US-Regierung geworden ist, verhält sich das Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“ aus der „Dialektik der Aufklärung“ zu den Schöpfern von Big Brassa (und Co.) auf gleiche wegweisende Art.

 

Ein Bildschirm, auf dem Big Brassa aus anderen Zeiten läuft.

 

Deren Plakataktion könnte einerseits nur von der Fähigkeit der Werber zeugen, irgendwo wichtig klingende Sprüche aufzuschnappen, andererseits könnte sie eben Anlaß zu obigen Spekulationen über die wahren Absichten derer geben, die uns eins in praxi demonstrieren wollen: Aus der Aufhebung aller ästhetischen Regeln und der Weisheit „sine lege nulla poena“ ergibt sich, daß gar kein Betrug am Zuschauer mehr möglich ist. Alle Produkte der Kulturindustrie und der selbsternannten „reinen Kunst“ sind bedeutungslos (vgl. Lichtwolf Nr. 5, S. 2f.), weil es egal ist, was sie darstellen oder aussagen. Man könnte ununterbrochen auf allen TV-Kanälen Testbilder zeigen. Die Normos würden es trotzdem gucken, weil sie dabei sein wollen, wenn wieder „richtiges“ Programm kommt.

Big Brassa macht nur den Sargdeckel über der eh oxymoronischen „TV-Kultur“ zu – daß sich keiner mehr aufregt ist bezeichnend: Ein Fall für den Leichenbeschauer.

Die ungerührte Ausstellung ihres plastinierten Kadavers durch das via Reklame und Büroklatsch einbezogene auch diesen Stiefel verstummt schluckende Publikum ist die „hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traums vom Gesamtkunstwerk“ (DdA, S.132), das gute alte „Ce n’est pas une pipe“ deutschlandweit oder einfach auf Plakate geschleimter und in Fernsehgeräte geschissener Menschen- und Kulturhaß, der den Leuten hinter Big Brassa am Ende schon wieder eine sympathische Note verleiht.

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