Der Mensch als Zelt

Mitten im Einfachen offenbart sich das Komplexe samt seiner Schönheit. Rekonstruktion einer Meditation im winzigen Zelt: Durch nackte Weiten zwischen Skelett und Epidermis, via Innen- und Außenwelt direkt in die Seele und zurück.

von Michael Helming

 

„Hinter deiner Haut liegt ein Bezirk, der dir allein gehört; davor dehnt sich die Fremde…“
– Hermann Lenz: Andere Tage

Ausgestreckt daliegend schließe ich die Augen und unmittelbar fühle ich mich sicher, ein wenig fern des Geschehens, dafür geborgen, fast wie in einer Zinnkapsel, einer Blechdose, Nussschale oder in einem Ei. Und im nächsten Augenblick denke ich – eine Fehllei[s]tung meiner durch gewohnheitsmäßigen Medienkonsum manipulierten Assoziationskräfte [Ich bin Mensch meiner Zeit.] – ich denke an eine heiße Pfanne und darin brutzelnden Speck; die Geräuschkulisse um mich herum ist ein vermeintliches Schmurgeln und Aufspritzen von heißem Fett. In Wirklichkeit ist jedoch weit und breit keine Pfanne in der Nähe. Da Toningenieure aber seit Generationen eben diesen Sound verwenden, um Fernseh- oder Kinozuschauern Starkregen vorzugaukeln, statt Aufnahmen von echtem Niederschlag zu verwenden [Zu teuer. Zu viele Störgeräusche.], muss ich mich von diesem Bild [ver]stören lassen und ich mache mich mit einem groben Mix aus Erinnerung und Phantasie an seine Modifikation. Dabei entsteht ein akustischer Pointilismus. Es tröpfelt ein Bild von der Welt dort draußen zu mir herein. Da war dieses Dachgeschosszimmer in einem Hotel in Ungarn und Regen fiel aufs Fenster wie ungekochte Linsen oder Erbsen. [Weicher als Hagel, doch irgendwie fest.] Wolkenhöhe und Temperatur bestimmen die Größe von Regentropfen und ihre Größe bestimmt die Härte. Bei Turbulenzen in großer Höhe kollidieren fette Tropfen miteinander wie Billardkugeln und dabei zerbersten sie zu Staub, den man Niesel nennt. Regen als feines Hintergrundrauschen des Universums; ich höre das All, die Ohren gehen weit über die Welt hinaus und in der Ferne wiederholt sich immer wieder und wieder ein Ton in gleicher Höhe und Frequenz. Ein gefälliger, monotoner Rhythmus, ausgelöst durch Tropfen, die unermüdlich immer wieder auf die selbe Stelle fallen, auf einen Baumstumpf vielleicht oder einen großen Stein; ein helles Platschen hebt sich gegen das Rauschen ab. Ich versuche zu filtern, abzu[sc]halten, letztlich nur einen schwarzen, leeren Hintergrund in mein Bewusstsein zu lassen. Ich konzentriere mich auf einzelne Windböen, die von allein verstummen, blende dadurch sämtliches Rauschen [Bäume rauschen anders als Regen.] in Bild und Ton aus. Im Schwinden macht es [Selbst]wahrnehmungen platz. Meinen Leib kann ich beim besten Willen nicht ganz wegdenken. Der befindet sich mit mir in jenem Baumwollschlafsack, der mich schon seit Jahrzehnten durch die Weltgeschichte begleitet.

(Photo: Michael Helming)

Keine Menschenseele sollte sich ihres Körpers schämen, selbst wenn der furchtbarerweise aussieht, wie er nun einmal aussieht. Vom altehrwürdigen Godfather des Neuplatonismus, Plotin, behauptet dessen Schüler und Biograph, Porphyrios, jener „glich einem Manne, der sich schämt, im Leibe zu sein.“ [Ob Platon wohl immer gut mit seiner sterblichen Hülle klar kam?] Der Weg vom allerersten Menschen, der sich selbst im Spiegel erkannte, bis zu unserem modernen Körperbewusstsein war lang. Da liege ich nun auf einer Streuobstwiese auf der Höri, einer Halbinsel am Bodensee. Aufstehen will ich vorerst nicht mehr, denn ich bin eingenordet, ausgerichtet zwischen zwei sich senkrecht erhebenden Stangen. Eine ragt in der Nähe meiner Füße empor, die andere jenseits meines Kopfes. Darüber spannt sich eine Stoffhaut, die mich mit Abstand umgibt und dabei von jener wilden Ungemütlichkeit der Natur auf der anderen Seite trennt. Das Zelt ist nur dürftig, weil in Eile vor dem Wetter, mit schon reichlich verbogenen Heringen im Boden fixiert. [Bloß nicht dran rühren! Jetzt keinen Einsturz provozieren!] Nichts sollte den Stoff von innen her berühren, nicht einmal mein Rucksack, denn direkter Kontakt mit der dünnen, außen ja feuchten Wand, so fürchte ich, könnte Nässe und damit Kälte und Ungemütlichkeit einlassen. Das Rauschen ist zwar fast fort, von Gedanken verdrängt, doch dafür klopfen nun einzelne Tropfen pochend an wie ungebetener Besuch. Das klingt nach Ausdauer. Es regnet sich ein. [Ach, schlimmer wird es schon nicht werden.] Ich öffne kurz die Augen und sehe, es bleibt beinahe dunkel. Ob das bereits die Abenddämmerung ist oder lediglich wolkendichtes Regengrau, frage ich mich. Meine Uhr steckt ganz unten im Rucksack. Die Taschenlampe ebenso. Nötigenfalls werde ich hier bis zum Morgen ausharren. Die Alternative wäre, nass zu werden bis auf die Haut, denn zu Fuß sind es gut zwei Stunden bis zum nächsten Bahnhof. Ein Bus dahin fährt heute nicht mehr. Im Zelt zu bleiben, ist daher die einzig vernünftige Möglichkeit, den Guss und die Nachtkälte einigermaßen behaglich zu überstehen. Zwar kann ich mir jetzt im Sommer nicht den Tod holen, wie man so schön sagt; doch wozu zur nassen Katze werden. Zeit habe ich reichlich. Komfort ist was fehlt. Aber darf ein Mensch der Umwelt eigentlich mehr als ein wenig Sicherheit abringen? [Die beste oder die schlechteste aller Welten?] Hier in Mitteleuropa, wo wir uns nicht mit gefährlichem Getier herumplagen müssen, reicht im Prinzip die Trias trocken, warm und satt.

 

Jenseits der Zeltbahn

Ich liege auf dem Rücken. Der Schlaf will nicht kommen. Ich denke an Kinder, denen ein völlig durchnässter Sandmann eine Schlammpackung ins Gesicht schleudert. Und dann denke ich daran, wie schön es an sich ist, hier draußen zu sein und in der nächsten Sekunde muss ich mich fragen, was dieses Draußen eigentlich ist – in jedem Fall etwas jenseits von mir, aber damit auch etwas Fremdes oder gar Lebensfeindliches. Ich denke an den nackten Menschen und seine Schutzlosigkeit und dann denke ich an mein altes, kleines Zelt, in dem eben genug Platz für mich und meine paar Sachen ist. Und da ich als Mensch gern vergleiche und ordne, um zu verstehen, entdecke ich plötzlich, dass mein Zelt und ich sehr viel gemeinsam haben. Wir sind, zunächst einmal leblos gedacht, für sich abgeschlossene Gegenstände, die Raum einnehmen und ihre Position darin verändern. Wir können uns nach außen hin öffnen, ich etwa mit dem Mund; mein Zelt besitzt einen Reißverschluss. Wir existieren, doch wir existieren nicht ohne zeitliche Begrenzung. Unser Sein hat einen Sinn; bei meinem Zelt bin ich mir da ganz sicher, derweil mir für meine Person zuweilen Zweifel kommen. Nun ist der größte Unterschied zwischen uns beiden offenbar, dass mein Zelt lediglich eine Sache ist und ich ein Lebewesen. Mein Zelt kann sich nicht aus eigener Kraft bewegen. Wie schön wäre es, wenn es sich selbst auf- und abbauen täte. Mein Zelt kann sich nicht reproduzieren, hat weder Stoffwechsel noch Gasaustausch, doch was heißt das schon; auch ich habe ja Momente, in denen mir die Luft wegbleibt, in denen ich [wie jetzt] keinen Hunger habe. Nachwuchs will ich auch nicht. Zudem, und dieser Gedanke vertieft sich in der intimen Monotonie des Unwetters, wo ich mit meinem Zelt allein bin, sind da zwischen uns einige unübersehbare anatomische Gemeinsamkeiten: Wir besitzen beide eine Hülle, die uns nach außen hin abgrenzt. Bei mir die mehrschichtige Haut und an meinem Zelt die dünne, relativ leichte und dabei sehr stabile Schicht aus textilem Gewebe, weitgehend wasserdicht imprägniert mit einem Kunststoff. Durch meine Haut geht Wasser nur in eine Richtung, nämlich raus in Form von Schweiß. [Um Feuchtigkeit einzubringen braucht es Cremes und so Zeug.] Regen bleibt draußen, kann aber meinen Körper schnell stark auskühlen lassen, denn im Gegensatz zu meinem Zelt bin ich nicht wechselwarm. Beide verfügen wir über ein Endoskelett, über ein Gerüst aus festen Elementen, das uns nach außen eine Form gibt. Derweil das Gestänge meines altmodischen Firstzeltes [Zwei senkrechte Stangen, den Rest erledigen Abspannschnüre und Heringe, der Dachfirst hängt also immer etwas durch.] innen hohl ist, gibt es in mir lediglich einige Schädelknochen mit leeren Ecken, die Gewicht sparen und meiner Stimme Resonanz geben. In der Regel sind meine Knochen markgefüllt und sie müssen mehr tun, als Haut unter Spannung halten.

 

Die Haut als Seelensitz

Wie ich in umrauschter Dunkelheit liege, nichts zu tun habe und nichts tun kann, machen sich freilich die Gedanken selbstständig in alle Richtungen auf, denn die sind ja stets frei, müssen nicht im Zelt bleiben. So komme ich auf romantische Abwege und vom Körper auf die Seele, von der wir Menschen ja auch nach Jahrtausenden nicht sicher wissen, ob es sie gibt, weil wir sie noch nirgends lokalisiert haben. Wenn es sie gibt, wissen wir nicht wo. Mancher wollte sie im Herzen sehen oder in der Leber, im Gehirn oder in den Augen. Ich sehe nun die Möglichkeit, mit meinem Zelt auch spirituell vereint zu sein. Haben wir nicht beide, das Zelt und ich, irgendwo ein jeder seine Seele? Vielleicht gleicht die Zeltseele gar der Menschenseele irgendwo in ihrer Form und Beschaffenheit. Technisch gedacht könnte man möglicherweise die eine Seele beim jeweils anderen einschrauben, wie Leuchtmittel in verschiedene Leuchten. [Die Seele als Glühbirne?!] Ist Seelen ein Standardgewinde eigen? Wie sollten sie sonst wandern. Wenn ich mich recht erinnere, war es Novalis, der behauptete: „Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkt der Durchdringung.“ Für Menschen bedeutet das, dass die Seele auf ihrer Haut liegt und, so wie Novalis das sagt, nicht nur an einem oder mehreren Punkten, beziehungsweise in Zonen auf selbiger; die gesamte Oberfläche der Haut wäre mitsamt ihrer Ober- und Unterseite Ort der Seele. [Von Seele durchdrungen wäre Haut das Organ der Transzendenz!] Immerhin ist die Haut das größte menschliche Organ. Da kommen ein paar Quadratmeter Seele zusammen. Der Satz von Novalis wirkt beiläufig, aber er hat einige Köpfe beeinflusst; sogar Henry Miller zitiert ihn. [Ich glaube in „Sexus“.] Dabei war Haut für den Mann sonst „nichts anderes als ein Sack, in den lose eine ziemlich kunterbunte Sammlung von Knochen, Muskeln, Sehen, Blut, Fett, Lymphe, Galle, Urin, Kot und so weiter hineingestopft war.“
Nach Novalis wäre Seele integrierter Belag dieses Sacks, eine Haut der Haut, imprägnierter Zeltstoff. Überall im Gewebe, dort an sich unsichtbar und doch fühlbar vorhanden. An verborgenen Dingen interessiert und fasziniert uns Menschen natürlich, was wir nicht sehen: Aussehen, Gestalt. Für kaum ein Etwas gibt es derart viele metaphorische Vergleiche wie für die Seele, die bei den alten Griechen Psyche hieß und irgendwie die Totalität der Gefühle und Bewusstseinsvorgänge in einem Individuum meint. [Das Eigentliche seiner Identität. Ich plus X.] Keine Kultur und keine Religion kommt ohne Vorstellungen von der Seele aus. Sie wurde als Mädchen mit Schmetterlingsflügeln dargestellt, als Schmetterling selbst oder als Fledermaus und Vogel. Bei Platon war sie ein Pferdegespann mit Wagenlenker [Könnte man sie heute als Bus oder Mittelklassewagen mit Fahrer in Szene setzen?] und unsterblich. Nicht nur für Jakov Lind war sie aus Holz und als gegenständliches Ding müsste sie freilich eine Masse, ein Gewicht besitzen, an dessen Bestimmung sich einige erfolglos versuchten. Es gab vor Jahren in der Zeitschrift „Titanic“ mal eine Serie, in der die menschliche Seele in knappen Zeichnungen [In der Art eines Drudel.] dargestellt wurde. Sie kann in unserer Vorstellung alles sein. [Was denn sonst?] Zumindest immateriell gesehen ist sie zwangsläufig alles.

(Illu: Georg Frost)

Die Dunkelheit hüllt inzwischen alles ein, löscht jede Gegenständlichkeit aus. Es lohnt nicht mehr, die Augen zu öffnen. Der Regen hat derweil den Rhythmus geändert, hat das Zischen und Rauschen eingestellt, schlägt jetzt einen anderen Takt, deutlich langsamer, dafür fester und gleichmäßiger. Vor meinem inneren Auge sehe ich kalkweiße, runde und auffallend leichte Perlen auf die Zeltbahn fallen, von ihr abprallen und lautlos ins nasse Gras fallen. Dabei fällt mir dieser Satz aus „Schloß Gripsholm“ ein: „Draußen fiel der Regen in perlenden Schnüren.“ Tucholsky erinnert dort sogar das Rascheln von Decken und Bettzeug an fallenden Regen. Ich bewege mich nun ein wenig, um meinen Schlafsack rascheln zu hören, doch die Baumwolle bleibt nahezu lautlos. Dafür gibt die Zelthülle weiterhin Geräusche von sich. An den Grenzen von Dingen raschelt, rauscht oder perlt es. Ist das der Sound der Seele? […]

 

Lichtwolf Nr. 74 (Haut und Knochen)

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