Günther Vettel hat einen Job, der zur Zeit in Deutschland noch einzigartig ist. Er „betreut gefeuerte Mitarbeiter“. Allerdings muss er seine Klienten zunächst einmal aufspüren, denn er kümmert sich um sogenannte „Nooker“. Ein Gespräch mit Vettel über eine neue Qualität sozialer Verwahrlosung
von Michael Helming, 19.09.2010, 19:28 Uhr (Neues Zeitalter)
Lichtwolf: Herr Vettel. In den USA und Japan existiert das Phänomen schon länger. Wir Deutschen haben dagegen wieder mal keine Ahnung. Also: Was ist ein Nooker?
Vettel: Das Wort leitet sich vom englischen „nook“ ab und bedeutet so viel wie Ecke oder Nische, aber auch Schlupfwinkel. Es geht um Mitarbeiter, die entlassen wurden, danach jedoch ihre Bindung an das Unternehmen nicht lösen können, also trotz Kündigung wieder in der Firma auftauchen.
Lichtwolf: Die melden sich zum Dienst, obwohl man sie gefeuert hat?
Vettel: Anders. Diese Menschen haben schon verstanden, dass man sie nicht mehr braucht. Man unterscheidet zwei Arten von Nooking. Betroffene des ersten Typs tauchen meist in den öffentlich zugänglichen Bereichen ihrer alten Firma auf. In Foyers, Teeküchen, Aufenthaltsräumen, Treppenhäusern. Dort verbringen sie dann so viel Zeit wie möglich. Meist acht bis zehn Stunden. Diese Leute haben zwar ein Problem, aber es ist noch beherrschbar. Sie reden mit ihren alten Kollegen, lesen die Zeitung, gehen mittags mit in die Kantine und zu Feierabend nach Hause. Meist haben diese Leute einfach ihren Familien noch nicht gebeichtet, dass sie den Job verloren haben. Sobald alles auffliegt, was meist schon nach ein oder zwei Wochen passiert, nehmen diese Leute schnell Hilfe in Anspruch und kommen wieder auf die Beine.
Lichtwolf: Sie nooken also, weil sie den Jobverlust nicht zugeben wollen oder können? Sie schämen sich gegenüber ihren Familien?
Vettel: Jein. Das ist nur ein Nebenschauplatz des Problems. Zwar helfen starke Beziehungen zu Partnern und Familie, eine Nooking-Phase zu überwinden. Das eigentliche Problem sind aber die Arbeitgeber.
Lichtwolf: Klar. Die kündigen.
Vettel: Es geht um Bindungen. Nooking betrifft keine Handwerker oder Arbeiter, sondern qualifizierte Mitarbeiter in Handel und Dienstleistung. Meist in der mittleren Führungsebene. Da verlangen die Firmen von ihren Mitarbeitern bedingungslose Treue zum Unternehmen. Sie müssen sich für den Laden aufopfern, auch außerhalb der Arbeitszeiten erreichbar sein – quasi allzeit bereit – immer wenn der Betrieb ruft. Und wenn diese Abhängigkeit durch eine Kündigung gekappt wird, ist der Mitarbeiter unfähig, auch von seiner Seite her die Bindung aufzuheben. Er kompensiert das durch Nooking.
Lichtwolf: Also produzieren die Unternehmen Nooker durch die Art, wie sie ihre Mitarbeiter ausbeuten. Und die Folgen sind ihnen natürlich egal, solange der Profit stimmt.
Vettel: Beim Typ 1 kann man das im Prinzip so stehen lassen, wobei es den Firmen natürlich nicht ganz egal ist. Richtig sensibilisiert werden sie jedoch erst, wenn sie es mit Nookern des zweiten Typs zu tun bekommen. Die können nämlich Betriebsabläufe ganz empfindlich stören und für Unruhe bei den verbliebenen Angestellten sorgen.
Lichtwolf: Blockieren die den Photokopierer?
Vettel: Beim Typ 2 hört der Spaß auf. Diese Leute haben nur für ihre Firma gelebt. Junggesellen ohne Freunde. Hochmotivierte Arbeitstiere, die im Unternehmen ihre einzige Bindung hatten und diese einfach nicht aufgeben können. Die ziehen dann einfach da ein.
Lichtwolf: Wie meinen Sie das?
Vettel: So, wie ich es sage. Manchmal haben sie noch einen Schlüssel fürs Büro oder sie kommen auf andere Weise unerkannt hinein. Die kennen sich ja aus. Sie kommen nach Feierabend mit einem Schlafsack und verkriechen sich irgendwo, wo man sie nicht findet. Sie bleiben tagsüber in ihrem Versteck und kommen nur nachts raus. So haben sie das Gefühl, weiterhin zur Firma zu gehören.
Lichtwolf: Wo kann man sich denn verstecken, ohne aufzufallen?
Vettel: Da gibt es viele Möglichkeiten. Dachböden, Lagerräume. Meistens verkriechen sich Nooker hinter Hängeböden und Zwischendecken, krabbeln in Hohlräume von irgendwelchen Wänden.
Lichtwolf: Die leben da also in Lüftungsschächten und so?
Vettel: Auch. Ja. In den meisten Großraumbüros sind die Decken abgehängt, um dahinter Leitungen und Rohe zu verstecken. Man kann zwar nicht aufrecht stehen, aber in diesen Nischen hat man kriechend und liegend genug Platz. Warm ist es meistens auch.
Lichtwolf: Das muss doch einen Heidenlärm machen, wenn da einer rumkriecht?
Vettel: Nooker verschlafen meist den Tag. Sie liegen in einer Ecke, meist weit weg von ihrem Ausstieg und verhalten sich mucksmäuschenstill.
Lichtwolf: Wie bemerkt man dann, dass es sie gibt?
Vettel: Da gibt es recht verbreitete Muster. Nooker kommen nachts hervor und holen sich, was sie zum Leben brauchen. Sie fallen also durch kleine Diebstähle auf, an denen z. B. bemerkenswert ist, dass eigentlich nie offen herumliegendes Geld verschwindet, sondern Lebensmittel und Süßigkeiten. Die vergessene Stulle eines Kollegen. Ein paar Gummibärchen, die jemand sich als Nervennahrung deponiert hat. Damit fängt es an. Später verschwindet alles mögliche, was der Nooker brauchen kann. Zeitschriften, Batterien für die Taschenlampe, vielleicht ein iPod, lauter Kleinigkeiten.
Lichtwolf: Nooker sind meistens männlich?
Vettel: Ich habe bislang noch nie von einem weiblichen Nooker gehört. Selbst in Japan nicht. Da gibt es immerhin um die hundert Fälle pro Jahr. Alles Männer.
Lichtwolf: Und die fliegen alle wegen dieser Diebstähle auf?
Vettel: Nicht sofort. Die Firmen haben das einfach noch nicht auf dem Schirm. Man verdächtigt zunächst die Kollegen und es kommt zu Streitigkeiten, weil immer Dinge passieren. Am Ende verdächtigt jeder jeden. Manchmal werden deshalb sogar Mitarbeiter zu Unrecht entlassen oder sie kündigen entnervt. Erst wenn absolut unsinnige Sachen verschwinden, geht den Verantwortlichen ein Licht auf.
Nach wenigen Wochen fangen Nooker an, sich heimisch zu fühlen. Dann stehlen sie Nippes, um ihre Höhle zu verschönern. Manche malen einfach auch die Wand in ihrem Schlupfwinkel an, mit Kugelschreibern oder Filzstiften. Aber manchmal besorgen sie sich auch andere Dinge. Ich hatte einen Fall im vergangenen Frühjahr bei einem Versicherungskonzern in Rheinland-Pfalz. Da sammelte ein Mitarbeiter auf seinem Schreibtisch die Figuren aus Überraschungseiern. Die verschwanden nicht alle auf einmal, sondern peu à peu. Sah wie ein Scherz aus. Aber es verschwanden eben auch Süßigkeiten. Nie Geld.
Lichtwolf: Irgendwann holt man Sie zur Hilfe?
Vettel: Es dauert immer noch sehr lange, bis der Personalchef oder sonst jemand einer Verbindung zwischen den Diebstählen und einer Kündigung herstellt. Es müssen ja nicht immer große Wellen sein, bei denen viele Mitarbeiter gehen. Hier und da wird eine Stelle abgebaut. Und da erwischt es aus Gründen der Sozialverträglichkeit meist Kollegen ohne Familie.
Lichtwolf: Ich glaube, ich würde auch nicht an so was denken.
Vettel: Viele Firmen wollen ja mit ihren Problemen auch nicht nach draußen. Die Geschäftsführung geht von Diebstählen unter Kollegen aus. Da meist kein großer Schaden entsteht, drängt man auf interne Lösungen und so schleppt sich die Sache hin. Es gibt bislang noch viel zu wenig Aufmerksamkeit für dieses Problem.
Lichtwolf: Wie muss man sich das vorstellen, wenn Sie vorbeikommen? Kommen Sie mit Helm und Grubenlampe und steigen in die Wände?
Vettel: Das geht nicht. Weil die Fläche, auf der ich suchen müsste, viel zu groß und zu unübersichtlich ist. Sie glauben gar nicht, wie klein sich ein Mensch machen kann und in was für winzige Löcher er sich zwängt.
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