Magnetismus trifft Sprachkritik

Die Wanderung begann in Lindau. Einen Tag und eine Lichtwolf-Ausgabe später bin ich endlich in Meersburg, wie Augustin Sumser in Geißlers Roman „Der Liebe Augustin“. Noch einmal hole ich das Buch aus dem Rucksack und lasse meinen gedruckten Guide sprechen. Zweiter Teil des Selbstversuchs am Bodensee.

von Michael Helming, 20.09.2011, 22:06 Uhr (Neues Zeitalter)

Tag 2, 14:45 Uhr, Meersburg, Friedhof

Hoch über der Stadt und dem See, eingerahmt von einer alten, schindelgekrönten Mauer, liegt der romantische Totenacker, zwar längst nicht mehr inmitten reifender Felder, sondern in einem Wohngebiet. Doch wie die Einfriedung Gedenken und Zeitlosigkeit bei einander hält, so scheint sie eben auch alles andere auszusperren. Viele Bäume sind noch kahl. Efeu, Immergrün und bunte Blüten auf den Gräbern streuen etwas Farbe. Ich schreite durch die Pforte, lege im Schatten einer Linde den Rucksack ab. Keine andere lebende Seele vor Ort. Es ist windstill und warm, wie auf Seite 171, wo ungefähr am selben Platz eine großartige Männerfreundschaft ihren Anfang nimmt. Augustin setzt sich nämlich hier auf eine Bank, neben einen fremden Mann: „einer von denen, die nicht mit der Zeit gegangen waren. Er trug noch Schnallenschuhe und Strümpfe, einen Rock nach dem Schnitte des sechzehnten Ludwig und eine zärtlich frisierte weiße Perücke.“ So beschreibt Geißler den ehemals berühmten Arzt Franz Anton Mesmer, dessen Idee vom „animalischen Magnetismus“ vielleicht zu den faszinierendsten Irrtümern der Wissenschaftsgeschichte gehört. Sieht Schopenhauer im Mesmerismus noch, „freilich nicht vom ökonomischen und technologischen, aber wohl vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet, die inhaltsschwerste aller jemals gemachten Entdeckungen; wenn er auch einstweilen mehr Räthsel aufgiebt als löst“, so spricht Ricarda Huch kaum ein halbes Jahrhundert später von „großer Kraft und gesunder Naivität“. Die Welt als physikalisch-metaphysisches Dominospiel, als lückenlos gefüllter Raum, in dem ein Partikel den anderen anstößt und Krankheit lediglich Stockungen in diesem Fluss darstellt, heilbar durch simple Ausstrahlung und Berührung; was für eine traumhaft schöne Vorstellung, schon bald zerstört durch die moderne Physik mit einem nahezu entleerten Universum. Hatte Mesmer eben noch eine ganze Epoche, die ja lediglich den kranken Leib kannte, auf die Verletzlichkeit der Seele hingewiesen, so glitt seine Theorie innerhalb weniger Jahre aus dem Zirkel ernsthafter Medizin in den der okkulten Phänomene ab. Manche Mesmer-Biographie erzählt, wie der Meister arbeitet, zum Beispiel Heiserkeit und Husten heilt, durch die von den Nervenenden seiner Finger ausstrahlenden menschlichen Geheimkräfte (eben die animalischen), die er auf seine Patienten wirken lässt, was ihnen als erstes Anzeichen der Heilung oft ein Wärmegefühl beschert. Müdigkeit, Brechreiz oder Brustschmerzen scheinen mögliche Nebenwirkungen gewesen zu sein, für die Mesmer seine Patienten jedoch „durch sein herrliches Spiel auf der Glasharmonika“ entschädigt. Soviel aus den Biographien, zurück zum Roman: Als Augustin Sumser dem alten Mesmer zum ersten Mal begegnet – und Geißler muss hier ein wenig schummeln, denn der Magnetiseur zog tatsächlich erst ungefähr ein Jahr vor seinem Ableben nach Meersburg, aber was wäre Fiktion, wenn ihr diese kleinen Freiheiten verwehrt blieben – da scheint der Mann leicht depressiv zu sein. Seine große Zeit ist lange vorüber; verworfen sind all die phantastischen Theorien, die sich doch einst in der Praxis höchst eindrucksvoll und mit internationalem Erfolg bewiesen hatten. Mesmer selbst bezeichnet sich nun als „schon lange tot“, obwohl er erst 1815 auf eben diesem Friedhof begraben werden wird. Augustin kennt weder Werk noch Wirken dieses seltsamen Doktor Franz Anton Mesmer: „Es war das merkwürdigste Gesicht, das Augustin je gesehen hatte. Rasiert, mit unzähligen Runzeln, Falten und Furchen; zwischen gramtiefen Mundwinkeln lagen Lippen, schöngeschwungen und geformt von Lust und Geist; eine feine Nase; helle blaue Augen leuchteten aus dem Spinngewebe von hundert Krähenfüßen.“ Kurz überlegt Sumser, ob dieses Gespenst wahrhaftig aus einem der Gräber aufgestanden sein könnte, bald bemerkt er jedoch, Mesmers „Gestorbensein“ ist lediglich eine übertriebene Metapher für sein „Vergessensein“. Der Alte verharrt dabei keinesfalls in Selbstmitleid, erkundigt sich auch nach Augustins Befinden. So erzählen sich die beiden Männer gegenseitig aus ihrem Leben und entdecken dabei sogar einen gemeinsamen Bekannten, den Baron Gravenreuth. Schließlich lädt der nach eigenem Bekunden eben doch einsame und unglückliche Mesmer seine neue Bekanntschaft ein, über Nacht als Gast zu bleiben. Aus einer Vielzahl von Gründen, nicht nur aus Mitleid, nimmt Augustin an.

Tag 2, 16:30 Uhr, Meersburg, Vorburggasse

Heute befindet sich im ehemaligen Torkel des Heilig-Geist-Spitals in der Vorburggasse 11 das Weinbaumuseum, laut Deutschem Weininstitut ein „Höhepunkt der Weinkultur“. Auf einem Schild am Eingang lese ich unter anderem: „1815 starb hier Franz Anton Mesmer.“ Wohl tatsächlich nach einem Schlaganfall; gleich mehrere davon hat er im Roman. Geißler verlegt im Buch sogar Mesmers gesamte Wohnung in das Haus mit dem riesigen Tor, in dem Augustin in den kommenden Jahren ein und aus geht. Mesmer wird als Junggeselle vermutlich etwas eiserner und einsamer dargestellt, als er wirklich war: „Nur keine Frauen! Es ist eine faule Erfindung der Männer, daß für einen Haushalt Frauen notwendig seien.“ Er führt seine Wirtschaft also allein und „wünscht sich keine ungebetenen Gäste“. Im oberen Stockwerk an der Straßenseite hat Geißler ihm zwei Zimmer mit glänzenden Rokokomöbeln eingerichtet, darunter auch ein märchenhaftes Himmelbett mit vergoldeten Rosen und Engeln, die den Baldachin raffen. Mesmer schenkt seinem Freund Sumser eines Tages diese gigantische Prunkkoje, die von da an zwei Drittel seines Lindauer Zimmers ausfüllen soll. Während sich der Hausherr nun in seiner „apothekenhaft ordentlichen Küche“ um das Abendessen kümmert, macht sein Gast sich nützlich, indem er einheizt. „Auf dem Kamin schlug eine Uhr die sechste Stunde. Augustin betrachtete sie. Ein aus feinem Silber getriebenes Totengerippe neigte sich darüber und zeigte mahnend auf die Stundenziffern, auf dem Blatte seiner Sense waren die Worte ‚Una ex his‘ eingegraben.“ Einige Jahre später muss Augustin seinen Freund hier am Kamin im Lehnstuhl, eine Pelzdecke über den Knien, tot auffinden, womit er auch dieses silbern klingelnde Memento mori erbt. Doch vorher findet noch manch herzliche Begegnung nebst Musizieren am „schüchternen Spinettlein“ statt. Jetzt serviert Mesmer zunächst ein wohlausgesuchtes kaltes Abendbrot und einen Krug Meersburger Wein. Mein Abendessen wird noch eine Weile warten müssen, denn ich habe noch einen weiteren Ortstermin, bei einer Person, die der ganze Roman natürlich mit keinem Wort erwähnt, da sie zu einer anderen Geschichte gehört, aber eben auch zu Meersburg.

Helming: Weinmuseum

Photo: Michael Helming, Weinmuseum in Meersburg

Tag 2, 18:15 Uhr, Meersburg, Glaserhäusle

Mit seiner Frau Hedwig soll er eremitenhaft auf diesem Hügel gelebt haben. Ich schaue den steilen Hang des Weinbergs entlang, hinunter auf die Abfahrt der Autofähre. Nur knapp fünf Kilometer sind es übers Wasser bis nach Konstanz. Der Landweg um den Überlinger See ist zehn Mal länger. Man hört die Dieselmotoren bis hier oben, allerdings nur leise, unaufdringlich. Als Fritz Mauthner 1909 in dieses Haus kommt, existiert noch keine Fährverbindung. Ich erinnere mich, auf einem Photo sah ich den erst aus Berlin, dann aus Freiburg Geflüchteten im Bodensee baden. Hier oben verfasst das Enfant terrible der Sprachkritik sein zweibändiges „Wörterbuch der Philosophie“, in dem auch Borges gern gelesen und aus dem er zuweilen sogar zitiert hat. Die bereits zwischen 1901 und 1902, noch während seiner Berliner Zeit, erschienenen „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ werden hier zwischen 1906 und 1913 für eine zweite Auflage durchgesehen und überarbeitet. Wie Mesmer darf man wohl auch Fritz Mauthner zu den missverstandenen Denkern am See rechnen. Seine Kritiker, unter ihnen Lars Gustafsson, sparen nicht mit Vorwürfen: Die Ausdrucksweise sei wissenschaftlich (Wissenschaft dürfte für den Skeptiker Mauthner lediglich ein mehr oder weniger wackeliges Konstrukt auf Sprachbasis dargestellt haben!) nicht exakt, in der Art seiner Darstellung könne er sich als Philosoph sehr laienhaft anstellen, einige Gedankengänge seien aus unterschiedlichsten Gründen nicht zufriedenstellend. So verneint er die Unterscheidung von „langue“ und „parole“ und meint mit seinem Begriff von „Bedeutung“ weder „Konnotation“ noch „Denotation“. Für Mauthner bedeutet Sprache laut Gustafsson ein soziales Spiel zwischen Automaten, die nach einem komplizierten Muster Wortbälle fortstoßen und wieder auffangen, wobei dem Schweden dabei wohl ein Flipperautomat vorschwebt. Diese Automatenvorstellung teile ich nicht, dafür ist mir die Schreibe zu bunt, zu menschlich. Freilich sind Denken und Sprechen für Mauthner identisch. Der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks ist eins mit dem individuellen Erlebnis. Das ganze Spiel dient sozialen Kontakten, jedoch keinesfalls dem Gewinn von Erkenntnissen, auch, weil alle Sprache für Mauthner Tautologie ist. Natriumchlorid ist Kochsalz. Wir erklären also nur, was wir ohnehin schon wissen. Mit dieser reichlich eigenwilligen Auffassung von Sprache muss man natürlich vielerorts anecken. So beachten viele Zeitgenossen Mauthners Werk zunächst nicht gerade wohlwollend oder sie ignorieren es ganz, sodass sich der Autor im Vorwort zur zweiten Auflage schon über einige positive Stimmen freut. Eben da schreibt er dann, „daß die philosophischen und philologischen Fachmänner mein Buch gern benutzen“, und er meint recht optimistisch, an der Wirkung seiner Ideen nicht mehr zweifeln zu müssen. Lars Gustafsson gibt bei aller Kritik zu, hinter Mauthners laienhaften Formulierungen verbergen sich beachtenswerte Gedanken. Vielleicht liest er sich deshalb auch nach hundert Jahren noch so frisch und unterhaltsam. Über zweitausend Seiten lang kann ich einem Autor beim Denken zuschauen, wenn ich Mauthners Beiträge lese, mit allen Abschweifungen, kleinen Beobachtungen und großen Gedanken, die sich manchmal eben in der Unzulänglichkeit seiner „Zufallssinne“ und damit in absolut zufälliger Wahrnehmung und Wahrheit verlieren. Das Wissen träumt und der Traum weiß. Das ist Literatur. Was könnte ich als einfacher Leser mehr von einem Buch verlangen? Gleich im ersten Band schreibt Mauthner: „Die Sprache nun ist der instinktive Teil unseres Denkens oder Gedächtnisses und der unbewußte instinktive Teil des Bewußtseins. Das Denken muß entarten, muß sich vom jeweiligen Sprachgebrauch emanzipieren, wenn es als stolzes Selbstbewußtsein über das Gedächtnis hinausgelangen will.“ Diese Emanzipation beobachtet er quer durch alle Themenbereiche, bis in die beiläufigsten Assoziationen hinein. Widmen sich die primär transparenten Kapitel noch übergeordneten Komplexen wie Psychologie, Wesen der Sprache, Logik, Grammatik oder der Sprachwissenschaft inklusive ihrer Geschichte – Mauthner fragmentiert freilich im Ansatz sogleich, indem er beispielsweise über das Zahlwort redet, die Metapher, Aberglaube, Subjektivität oder Induktion – so taucht er mit und in seiner Ordnung nach und nach ein in einen Ozean aus Eingebungen und Ideen: lauter mikroskopisch kleine Denkbiotope. Mauthners Beiträge suchen überall in der menschlichen Geistesgeschichte nach Bildern, Anekdoten und Vergleichen. Das kann mitunter banal sein. So habe ich mir beispielsweise im dritten Band allein elf Bemerkungen über Käse notiert. „Millionen Menschen essen Käse und sprechen von Käse, Millionen Menschen behaupten ihre Rechte und sprechen von ihren Rechten, ohne einer Definition der Begriffe ‚Käse‘ oder ‚Recht‘ zu bedürfen.“ Aus allen Himmelsrichtungen und Zeiten mischt der Sprachkritiker Gedanken, breitet sie faltenreich dem Leser aus, wie der Verkäufer auf Seite 191 des dritten Bandes einen Kleiderstoff vor der Kundin. Zuweilen streift Fritz Mauthner die Gedankenwelten des Buddhismus, nicht nur, wenn er das „Ichgefühl“ als Lebenstäuschung bezeichnet. („In unserem Glaserhäusle bei Meersburg“, wie es in der Widmung für seine Frau heißt, schreibt er die 1913 erschienene Erzählung „Der letzte Tod des Gautama Buddha“.) An anderen Stellen der Beiträge verwendet er Magnetismus, Transatlantikkabel, Leben aus dem Weltraum oder Röntgenstrahlen. Mauthner legt dem Leser ein Bild nach dem anderen vor, bis ein bewegtes Universum von der Eiszeit bis zum Industriezeitalter inklusive Kulturgeschichte zusammenkommt. Nichts davon ist freilich allumfassend, weil es ja nur Sprache ist, die unzulänglichste und zugleich faszinierendste Substanz von allen im All. Manch malerische Skizze stammt aus der Natur, so beschäftigt ihn die Anwendung des Seelenbegriffs auf die Pflanzenwelt und bei einer Gelegenheit spricht er sogar von schlafenden Pflanzen: „Der Schlaf ist der natürliche Zustand jedes Organismus. Die Pflanze schläft fast immer: sie atmet und frißt dabei weiter und macht außer diesen mikroskopischen Veränderungen und denen des Wachstums von Zeit zu Zeit noch eine schlaftrunkene Bewegung der Sonne zu und dergleichen. Diesen Pflanzenschlaf schläft der Mensch, soweit sein ‚niederes‘ Gehirn und das Rückenmark tätig sind. Er wie alle Tiere.“ Was für ein phantastisches Bild!

Als ich meinen Rucksack ablege, da erinnere ich mich natürlich: Auch vom Wandern weiß Mauthner schöne Gleichnisse zu berichten. So sieht er im ersten Band der Beiträge die Kulturgeschichte gleich einer Schneckenlinie, die stets im Kreise um einen Berg herumführt, aber jedesmal etwas höher eintrifft als beim vorherigen Rundgang. Auch Sprache und Philosophie will er als eine solche Schneckenlinie verstanden wissen, nur dass auf dem Weg um den Berg herum niemals der Gipfel erreicht werden kann, weil der Berg sich bewegt: „Der Wanderer aber, der dies erkannt hat, wenn und weil er müde geworden ist, wischt sich die bleiche Stirne und stirbt. Marterkreuze bezeichnen den Weg. Wer an vielen Marterkreuzen vorbeigekommen ist, der erfährt das Geheimnis zu spät.“ Pausenlos könnte ich weitere Beispiele erinnern, wie jenes vom Bienenstock, der kein Herz hat und doch Organismus ist. Aber Platz und Zeit sind begrenzt, langsam versinkt die Sonne über dem See und ich sollte mir Gedanken machen, ob ich noch eine weitere, abermals sternenklare wie kalte (siehe Lichtwolf Nr. 34) Nacht im Freien verbringen möchte. Ich schultere also meinen Rucksack und marschiere gemächlich in die Stadt zurück.

[…]


Lichtwolf Nr. 35

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