Die Welt als Keller und Tiefparterre

Das Jenseits lag weit unter der Erde, bis spätestens das Christentum es in die Wolken hob. Unterbewusst sehnte sich der Mensch jedoch weiterhin nach den erlösenden Tiefen; wohl auch deshalb baute er sie so oft nach. – Eine Meditation mit Platon und Reiseerinnerungen.

von Michael Helming

 

Wolken gleich Zuckerwatte allüberall und mittenmang eine Pforte aus purem Gold; die gute Seele klopft an, Petrus tut auf und drinnen werden ewig währende Dauerlutscher in den Geschmacksrichtungen Lichterglanz und Glückseligkeit gereicht. So in etwa mag sich der Gutgläubige das Himmelreich vorstellen, wobei er den höllischen Glutofen ewiger Verdammnis als eigene Endstation freilich ausschließt. Man denkt naiv dualistisch in den Kategorien Gut und Böse, schlägt sich dabei, Kraft positiver Eigenwahrnehmung, freilich der ersteren zu. Auch im oder wenigstens nach dem Tod will man zur Upper Class gehören und ein sorgenfreies Penthouse in luftiger Höhe beziehen.
Allerdings liegt die Ewigkeit ursprünglich in entgegengesetzter Richtung, tief unter der Erde. Und zu Anfang war sie ausnahmslos für alle da! Wer ins Haus des Hades oder in den Orkus einzog, wurde mancherorts nicht einmal groß betrauert, denn im Gegensatz zu den bedauernswerten Lebenden war er alle Sorgen los, und in die Unterwelt eingehen, das war vielleicht in etwa so, wie wenn man heutzutage mit vierzehn, fünfzehn aus pubertierendem Freiheitsdrang vom gepflegten Jugendzimmer in den jahrelang ungenutzten Partykeller der elterlichen Doppelhaushälfte zieht: Man ist rundum versorgt, hat absolut alles, was man braucht und zugleich fühlt es sich für alle an, als sei man daheim ausgezogen; man führt ein Schattendasein, lebt im Verborgenen – trotz Fensterlosigkeit und über Putz liegender Rohrleitungen ein irgendwie komfortabler Zustand. Tatsächlich erging in archaischer Zeit nur selten mal an einen Sterblichen – und es musste schon ein großer Held sein – der Ruf, sich posthum im Olymp oder später im Elysium einzurichten. Nach und nach gelangte jedoch eine wachsende Zahl von Seelen in diesen paradiesischen Genuss; Luxus kam auch jenseitig in Mode und mit ihm die bis dahin rein weltliche Abgrenzung: Wir hier oben, ihr da unten. Die Balkanisierung der Unvergänglichkeit schritt voran und folglich entstand auch in der Unterwelt eine Unter-Unterwelt – der noch im alten Testament namentlich genannte Tartaros – wo Frevler und andere Übeltäter auf ewig Quartier beziehen mussten, womit die Normaltoten in der Durchschnittsunterwelt von ihnen unbehelligt blieben. Das Prinzip zog immer weitere Kreise, welche Dante Alighieri schließlich beim Aufbau seiner Göttlichen Komödie in dichterisch vollendeter Perfektion verfeinerte.
Zu Platons Zeit war die Vorstellung von einem Jenseits für alle zum Teil noch lebendig und wer einmal vor Ort war, der blieb in der Regel auch. Im „Kratylos“ bemerkt Sokrates über die Unterwelt, keiner habe „Lust von dort hierher zurückzukehren, selbst die Sirenen nicht, sondern diese sind ebenso gut bezaubert wie alle anderen, so vortreffliche Reden, scheint es, weiß Hades ihnen zu halten“. Gleichwohl belabert der seine Dauergäste nicht einfach nach Sophisten-Manier; als Wohltäter und exzellenter Gastgeber sorgt er für Bewirtung und Kurzweil, weshalb die Toten – obgleich sie nur noch Schatten ihrer selbst sind – recht gerne bleiben. Im „Phaidon“ sieht der gleichnamige Sokrates-Schüler jenseitiges Wohl eng mit Charakter und Verhalten im Diesseits verbunden, bescheinigt er doch seinem jüngst erst ins Schattenreich abgestiegenen Lehrer: „denn glückselig erschien mir der Mann, o Echekrates, in seinem Benehmen und seinen Reden, wie standhaft und edel er endete, so daß ich vertraute, er gehe auch in die Unterwelt nicht ohne göttlichen Einfluß, sondern auch dort werde er sich Wohlbefinden“.
Sokrates selbst meinte der Überlieferung zufolge: „unsterblich und unvergänglich, und in Wahrheit werden unsere Seelen in der Unterwelt sein.“ Im Keller wird demnach also das Gute aufbewahrt und konserviert: Gepökeltes, Geräuchertes, süß und sauer Eingemachtes. Essbare wie ethische Vorräte liegen dort kühl und trocken in dunklen Gewölben und sogar die Seele bleibt unter diesen Bedingungen lange frisch. Parallel findet der Strafvollzug bei Platon („Politeia“, 2. Buch) ebenfalls im Tiefgeschoss statt: „Aber freilich in der Unterwelt werden wir bestraft werden für die hier begangenen Ungerechtigkeiten.“ Wobei besonders böse Buben zuunterst im Dreck stehen müssen, wie ebenda zu lesen ist: „Die Gottlosen aber und Ungerechten vergraben sie in einen Schlamm in der Unterwelt und zwingen sie, in Sieben Wasser zu tragen.“ Derweil die guten Jungs also auf die Kartoffelkiste steigen dürfen, um auch an die Marmelade ganz hinten im Regal zu reichen, müssen die bösen mit ungeeignetem Werkzeug die Folgen eines Abwasserrohrbruchs beseitigen.

Abstieg in die Katakomben

Gottlob habe ich eine Jacke mitgenommen, obwohl draußen sommerliche Temperaturen herrschen, auch jetzt im Dezember. Sobald man im Altarraum von Santa Maria della Sanità die unscheinbaren, von einem ehernen Geländer umfassten Treppen hinabsteigt, kühlt der Körper Schritt für Schritt ab. Ich habe den Eindruck, mich von der Welt der Lebenden zu entfernen, ins Totenreich einzugehen. Häufig und gern haben Menschen – besonders die Katholiken – das Jenseits nachgebildet, in unterirdischen Friedhöfen, den Katakomben, die sich mitunter auf mehreren Etagen viele Kilometer lang durch den Boden schlängeln. Im gut zweihundert Kilometer entfernten Rom wurden in den etwa sechzig Anlagen dieser Art neben Normalsterblichen zahlreiche Bischöfe, Märtyrer und sogar einige Päpste bestattet. Auch dort war das Konzept Katakombe kein primär ästhetisches, keines des Rückzugs, des Sichverbergens, sondern schlicht eines der Effizienz: Raum war bereits in den Großstädten der Antike verdammt teuer. Betongold.
Hier in Neapel faszinieren die morbiden Fresken aus dem 17. Jahrhundert, in deren Bildgestaltung einst echte verwesende Häupter integriert waren. Immer wieder überrascht mich die Nähe zum Tageslicht: An mehreren Stellen fällt es durch Schächte oder in großen, am Hang sich offenen Räumen in die Dunkelheit ein: Symbol der Hoffnung. Das Jenseits liegt nicht so tief, keinem Menschen derart fern, wie der ewig lange Marsch durch Stollen und über Treppen vermuten lässt. Die Grabnischen erscheinen mir wie verlassene Bettstellen. Nicht zufällig nennt man diese bis zu vier Meter hohen Grabkammern Cubicula, wie jene Nebenräume in römischen Häusern, die meist als Schlafgemach dienten. In ihnen liegen, tief in die Wände eingelassen, die Loculi, erinnern an Schiffskojen oder Pritschen in offenen Schlafwagen der Russischen oder Ukrainischen Bahn; als ob die Toten hier durch die Ewigkeit reisten, ohne je anzukommen. Auf seltsam fremde Weise kommen mir die Schlafsäle uralter Jugendherbergen in den Sinn, wo man mit dreißig, vierzig oder beinahe hundert anderen zusammen übernachtete, sich vorm Einschlafen Witze und Geschichten erzählte, wo überall Atmen, Husten und Rascheln war. Die antike Gräberkolonie als verblasstes, ewiges Sommerferienlager.

(Photo: Michael Helming)

Abermals im „Kratylos“, wo es eigentlich nicht um den Hades, sondern um die Herkunft der Worte geht, legt Platon dem Sokrates folgende Ausführungen in den Mund: „Über den Namen Hades aber dünkt mich, die meisten Menschen meinen, dass er eigentlich ein Unsichtbares und ein Dunkel, Aeides, bezeichnet, darum scheuen sie auch diesen Namen und nennen ihn lieber Pluton.“ Tatsächlich hat der Hausherr der Unterwelt viele Namen, die drei wichtigsten sind Pluton, Plutos und Hades, wobei heute keiner mehr sagen kann wie die drei ursprünglich zusammenhingen. Auffallend gleichen sich Pluton und Hades, allerdings sind Häufungen ihrer Kultorte geographisch recht gut zu trennen, was für eine vermutlich von Eleusis ausgehende Pluton-Verehrung spricht, die mit einer selteneren des Hades verschmolz. Letzterer existiert in mehreren Schreibweisen; bereits Homer kannte Ἄϊς, Ἄιδης und die Langform Ἀϊδωνεύς. Poetisch ist zuweilen von Ἁΐδης die Rede und im dorischen Dialekt nennt der Gott sich Ἀΐδας. Wir nennen ihn Hades, weil wir der attischen Form mit stummem i und aspiriertem a folgen. Wir könnten auch Aïdes sagen, würden das dämmrige Labyrinth dieses Namens damit jedoch nicht erhellen. Begibt man sich auf die steile Kellertreppe seiner Etymologie, geht erst recht das Licht aus. Oft wird angenommen, die Benennung gehe auf die Bedeutung „unsichtbar“ zurück, da Hades sich mit einer Kappe unsichtbar machen konnte. Platon bietet – wiederum im „Kratylos“ – durch Sokrates eine weitere und wesentlich hellere Deutung an: „Und weit gefehlt, dass der Namen Hades von dem Dunkel, Aeides, sollte hergenommen sein, ist der Gott vielmehr deshalb, weil er alles Schöne, aei eidenai, weiß, von dem Namengeber Hades genannt worden.“ Wo das große Fass mit Götternamen ohnehin schon bis zum Überlaufen gefüllt ist, kommt obenauf noch die große Zahl von Bei-namen, welche dem Hades zur Seite gestellt wurde und für die man eine eigene Lagerstätte bräuchte. Zu den wichtigsten gehören: der Ungebändigte, der Raue, der Ungeheure, der Abseitige/Abgewandte, der Nächtliche oder der Schwarze. Daneben nannte man ihn den Gastlichen, da er ursprünglich keinem neuen Bewohner die Tür wies.

Nichts als Gold und Gerippe

Abertausende von Oberschenkelknochen, bis auf über zwei Meter Höhe aufgestapelt; je weiter das Auge der Knochenwand bodenwärts folgt, um so dünner wird das Material, ruht am Boden auf einer Schicht, von der man nicht weiß, soll man sie Sand oder Staub nennen.
In diese Mauer aus Gebeinen sind Schädel eingelassen; sie formen Muster, Sprüche. Der Raum der Kirche bildet den Himmel ab, das Beinhaus im Keller ist eine gebaute Kopie dessen, was man sich als Unterwelt dachte. In der Silberbergbaustadt Kutná Hora gibt es zwei Beinhäuser. Das im Stadtzentrum steht heute leer, dafür ist das etwas außerhalb in Sedlec gelegene überreich mit Gebeinen gefüllt: Sie bilden Pyramiden, Girlanden, Wappen und sogar einen Kronleuchter. Durch einen Knochenwall führt ein schmaler Tunnel, in dem blanke Schädel liegen wie unter einem Dach und ich denke an Neapel zurück, wo auf dem unterirdischen Cimitero delle Fontanelle – einem ehemaligen Steinbruch, der nach großen Katastrophen immer wieder als Massengrab diente – heute viele Köpfe ein eigenes Häuschen haben, quasi ein Haus im Haus des Hades. Da geht es zu wie im Bauch einer Matrjoschka. So entsteht fast ein Mise en abyme in Tuffgestein. Ein Bild im Bild und eine Zeit in der Zeit. Schon vor über fünftausend Jahren bestatteten Menschen ihre Angehörigen in unterirdischen Grabräumen. Ein Hypogäum (von ὐπο-γαιος = unterirdisch) ist das unter der Erde liegende. Durchs Hypogäum des Kolosseums tauchten Raubtiere und Gladiatoren wie aus dem Nichts in der Arena auf – und kamen dort im Kampf um.
Wo Platon im „Kratylos“ der Unterwelt vorsprachwissenschaftlich auf den Grund zu gehen sucht, lässt er einmal mehr den Sokrates sagen: „Pluton aber ist offenbar in Beziehung auf die Gabe des Reichtums, Plutos, so genannt worden, weil nämlich der Reichtum von unten aus der Erde kommt“. Alle Formen unterirdischer Reichtümer fielen ursprünglich in den Zuständigkeitsbereich des Gottes Plutos (Πλοῦτος), darunter Bodenschätze wie Gold und Silber, aber ebenso alles, was direkt aus der Erde herauswächst, also Getreide, Pilze oder andere Nutzpflanzen. Damit kommt Wohlstand irgendwie immer von unten; spätestens seit dem Raub der Demeter-Tochter Persephone, die bekanntlich den Sommer über zu ihrer Mutti darf, den Winter jedoch kampuscheskerweise bei ihrem Stecher Hades im Keller verbringen muss. Da Demeter und Persephone ebenfalls in Eleusis verehrt wurden, wo Plutos als kindlicher Doppelgänger des Pluton galt, ging der gesamte Reichtum wohl bei der Verschmelzung mit dem Hadeskult auf letzteren über, was ihm ein weiteres Epitheton einbrachte: der Reiche. Spätestens jetzt ist das Reich des Hades ein reiches, wobei Komfort und Behaglichkeit auch vorher nicht in Abrede standen. Bei Homer wird im 11. Gesang der „Odyssee“ die Unterwelt bereist und da findet sich an mehreren Stellen (Vers 69, 150 und 627) der Ausdruck δόμον Ἄιδος (Aïdes’ Wohnung). Nun kann δόμος Haus, Gebäude und Gebautes bedeute, sowie Zimmer oder Stall, im übertragenen Sinne Familie, Geschlecht, Hausstand, Vaterhaus oder Vaterland, zudem Aufgeschichtetes, Schicht oder Wand. In der „Illias“ finden wir als Haus Gottes Διὸς δόμος, womit der Tempel anklingt. Neben δόμος taucht bei Homer ein weiteres Wort für Haus auf: οἶκος. Es bezeichnet in der „Odyssee“ die Höhle des Zyklopen. In der „Illias“ sind Achilles’ Unterkünfte bei Troja oft οἶκος und zudem heißt οἶκος Vermögen oder Zelt. Flüchtige Werte und ständige Bereitschaft zum Aufbruch verweisen auf Vergänglichkeit.

[…]


Weiterlesen?

Lichtwolf Nr. 73 („unterirdisch“)

Der vollständige Beitrag sowie viele weitere unterirdische Essays stehen in Lichtwolf Nr. 73.

Schreiben Sie einen Kommentar