Der Meister ist tot

„Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Werth für die Erkenntniss“, schreibt Nietzsche in § 114 der „Morgenröthe“ aus eigener Erfahrung:

„Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte hinaus auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden“.

Norbert Hildebrand nannte sich ganz unbescheiden „der Meister“ und da er das mit Fug tat, wurde er auch so genannt, seit er 2005 in den Kreis der Lichtwolf-Autoren eintrat. Hier war er mit seinem gesamten Portfolio gut aufgehoben, sogar mit seinen Experimentalfilmen, von denen einer das kurzlebige LichtwolfTV auf Youtube verdüsterte. Die Zeitschriftenkollegen von Macondo bevorzugten Hildebrands Photos, sonst konnte die Welt nichts mit seinem Werk anfangen. Hatte sie einfach Schiss?

(Illu: Norbert Hildebrand, „Schmauchspuren“)

 

Getroffen haben wir uns nie, erst recht nicht telephoniert, aber lang und breit korrespondiert – der gesunde Herausgeber und der schwäbische Dichter, dessen Verse vor der Kraft strotzten, die andere „freie Lyrik“ gerne hätte und die nur zu gewinnen ist, wenn ein munterer Geist mit einer tödlichen Krankheit ringt, die sich Zeit lässt. Seit seinem achten Lebensjahr litt Norbert Hildebrand am Peutz-Jeghers-Syndrom. Die Phraseologie nennt eine solche Krankheit gern „tückisch“, obschon das Wort „scheiße“ treffender wäre.

In seinem Gedichtband „Eine dreckige Spüle, der Tod und andere Streicheleinheiten“ von 2004 findet sich der „LebensNichtschwimmer“:

Am starren Sturm

klebt doch nur

der Lebenswurm

 

Lass es fließen,

fließen, lass

es laufen.

 

Leben, Leben, du

ich könnt’ in dir ersaufen!

In Lichtwolf Nr. 17 stehen erstmals Gedichte Norbert Hildebrands, der auch dann noch in diesem Format veröffentlichte, als die „Zeitschrift trotz Philosophie“ längst „eigentlich“ nur noch Essays bringen wollte. Es gab und gibt einige Menschen, die trotz und wegen einer schweren Krankheit zu einem nietzscheanischen Humor fähig wurden, der den Gesunden einen Schauer über den Rücken jagt. Dafür habe ich die Zeilen und Illustrationen von Norbert Hildebrand so geschätzt und sie immer wieder vermisst, wenn er – wie zuletzt – seine knapp bemessene Zeit vor allem in Wartezimmern beim Arzt und auf OP-Tischen zubringen musste.

Ende 2017 begann er, in kurzer Folge fünf Taschenbücher mit Gedichten, Photos, Kurzgeschichten und Zeichnungen bei Amazon zu veröffentlichen. Ausverkauf? Angstblüte? Nachlass? Sie sind und bleiben – unerkannt und unterschätzt. Norbert Hildebrand – der Meister, der Hilde brannte – ist am 26. Januar mit 49 Jahren verstorben.

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