Alte Berufe: Rosstäuscher

von Timotheus Schneidegger

 

„Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung“, schreiben Internetevangelisten gern dem zwoten Wilhelm zu, der in Sachen Mobilität weiterhin am Pferd festhielt. Seither haben Internet und Auto dem Einzelnen Bequemlichkeit bereitet und den Rest dafür mit Verheerungen bezahlen lassen, von denen im Land der freien Fahrt für freie Bürger besser zu schweigen ist, würden diese doch jede Form von organisierter Kriminalität exkulpieren, solange daran 800.000 Arbeitsplätze hängen.

Lichtwolf Nr. 59 („Alte Berufe“) (E-Book)

Der banden- und gewerbsmäßige Betrug gehörte indes schon immer zum Mobilitätsgeschäft. Anders als gedacht ist der Rosstäuscher nicht eine Art Pferdeflüsterer, der mit drolligen Tricks Hengst und Stute hereinzulegen versteht, sondern ein Händler, der mit gar nicht drolligen Tricks über Zustand, Alter und Wert eines Pferdes hinwegtäuscht. Dieses wurde angemalt, mit Branntwein eingerieben oder es bekam „Pfeffer in den Arsch“, um lebhafter zu wirken. Häufiger und brutaler war das „Ohrenaufsetzen“ (die erschlafften Ohren wurden aufgestellt, indem die Haut zwischen ihnen zusammengenäht wurde), das Einschneiden der Augenlider, das Einwachsenlassen von Glassplittern in die Flanke und was der Tierquälereien zum Zwecke des Nepps noch ist wie das Einmeißeln und Neubefüllen des Gebisses – weshalb man dem Pferd „auf den Zahn fühlen“ musste, um dessen wahres Alter zu bestimmen.

Das Geschäftsgebahren des Rosstäuschers ging nahtlos ins Metier des Gebrauchtwagenverkäufers über, aber auch in eine Schlüsselindustrie, die wie gemacht zu sein scheint für ein fahrendes Volk, das das Denken den Pferden überlässt, weil die die größeren Köpfe haben.

 

Lesung

Dieser Text ist die unveränderte Fassung des Beitrags „Leuchtturmwärter“ aus LW59 und wurde von Timotheus Schneidegger auf der Lichtwolf-Lesung am 10.04.2018 vorgetragen:

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