Zwischen Kapital und Haushaltskasse

Zwar ist der Marxismus längst bankrott, doch Karl Marx gilt manchen – und sogar einigen Gegnern – als brillanter Kapitalismuskenner. Privat hatte er allerdings nicht das geringste Gespür für Wirtschaft und Finanzen.

von Michael Helming

Da des Menschen Sehnsucht nach Reichtum und Überfluss seit jeher unstillbar ist, hat sich ein riesiges Füllhorn mit entsprechenden Sinnbildern angesammelt. Zu deren ältesten zählt die Nährflüssigkeit weiblicher Säugetiere, eine weißtrübe Emulsion aus Fett, Eiweiß und Zucker in Wasser – Milch genannt. Bereits das alte Testament spricht vom gelobten Land, „wo Milch und Honig fließen“. Derart gelobte Länder finden sich vielerorts. So dichteten unter anderem böhmische und westpreußische Patrioten ihrer Heimat wahre Ströme von flüssigem Zitzengold an. Ein milchweißes – sprich: leichenblasses – Gesicht galt einst als Ausdruck weiblicher Noblesse, gern mit Puder und Schminke hervorgehoben. Und last but not least verwendet unsere durchsexualisierte Umgangssprache die Bezeichnung „Möpse“ synonym für große, ertragreiche Brustdrüsen und für Bargeld.
Die seriösesten Dichter arbeiteten mit Milch: Schiller nannte rechtschaffendes, sittliches Gedankengut im Wilhelm Tell „die Milch der frommen Denkart“ und Paul Celan trank in seiner berühmten Todesfuge die „Schwarze Milch der Frühe“. Shakespeare sprach gar von „süßer Milch des Unglücks“ oder (nach Schlegels Übersetzung) „der Trübsal“; als solche gilt Bruder Lorenzo im dritten Akt von „Romeo und Julia“ die Philosophie. („Adversity’s sweet milk, philosophy.“)
Der Terminus Milch meint hierzulande meist die des Hausrinds. Jenseits der Hochkultur betreiben Manager und Reklamefritzen mühsam die Mystifikation der längst zum billigen Massenprodukt verkommenen Brühe der Kühe. „Change“ – „Veränderung“ sagt man in der „Branche“ nicht mehr – sei „wie Milch in den Kaffee kippen“, lassen besagte Zirkel ganz plakativ verlauten. Milch ist nicht mehr einfach „ein starkes Getränk“, das „müde Männer munter“ macht. Will Werbung heutzutage richtig absahnen, hat sie den Einzelnen individuell anzusprechen, wobei sich herauskristallisiert, dass Milch neben Kalzium die Worte MICH und ICH enthält. Wer von aufdringlicher Bedarfslenkung schlechte Laune bekommt, dem wird redensartlich die Milch sauer, denn auch das Volk redet nicht bloß Quark, wenn es den gehaltvollen Sud des Euters im Munde führt. Ohnedies muss Milch sogar im geflügelten Wort verkauft werden, was dort eine noch unerfahrene Milchfrau, eben das Milchmädchen erledigt. Allerdings mit nur ungenügendem Erfolg, denn die Milchmädchenrechnung ist bekanntlich eine absehbar nicht tragfähige Kalkulation, ein Projekt, das aufgrund irriger Annahmen oder illusionärer Vorstellungen zum Scheitern verurteilt ist, was sich dem aufmerksamen Beobachter offenbart, tragischerweise jedoch nicht der Person, die das Vorhaben plant und durchführt.

Ungemolkene vs. verschüttete Milch

Die Allegorie von der gescheiterten Investitionstheorie als Gedankenspiel einer naiven Milchhändlerin ist in der westlichen Sagenwelt erstmals im Mittelalter eindeutig belegt. Weithin bekannt ist sie in Gestalt der „Fabel vom Milchmädchen und dem Milchtopf“ aus der Sammlung von Jean de la Fontaine. Letzterer erzählt im siebzehnten Jahrhundert von einer Bauernmagd, die eines Morgens gut gelaunt in die nahe Stadt geht, um dort einen Topf Milch zu verkaufen. Die grundsätzlich an Leib und Seel’ gesunde Frau überschlägt, derweil sie den Weg zurücklegt, den zu erwartenden Gewinn noch rational, obgleich sie das bestmögliche Ergebnis zugrunde legt: Sie geht vom restlosen Absatz ihrer Ware aus. Fatalerweise hat sie im Gehen bereits Ideen, was sie mit der – bislang nicht real erwirtschafteten – Summe alles anschaffen könnte. In Gedanken hat sie letztere schon in eine Hühnerzucht investiert und durch Eierhandel ein Vermögen gemacht, mit dessen Hilfe sie weiter virtuell expandiert. In ihrem Tagtraum erwirbt sie ein Schwein, eine Kuh und letztlich einen kompletten Hof. Think big! Ihre Reichtümer schießen in absurde Höhen wie Börsenkurse. Überglücklich über ihre Pläne gerät sie ins Stolpern. Es folgt der Crash: Sie fällt, der Topf geht zu Bruch und mit der Milch sind nicht nur die sicher erwarteten Gewinne verloren; sie muss sogar in einen neuen Topf investieren, will sie je wieder Milch zu Markte tragen. Moral der Fabel: Wer mit Geld rechnet, das er noch nicht hat, muss öfter rechnen. Ganz anders der erfolgreiche Spekulant, der es mit Gespür, Risikobereitschaft und Marktkenntnis immer wieder fertigbringt, die Haut eines Bären zu verkaufen, den er noch nicht erlegt hat. Wer mit solchem Talent gesegnet ist, der vermag ungemolkene Milch zu verkaufen, aber eben – und da liegt der feine Unterschied – keine verschüttete.

Eine der berühmtesten Milchrechnungen der modernen Literatur ist die einer alten Frau. Sie stammt aus dem „Ulysses“ von James Joyce und addiert sich folgendermaßen: „Nun, das wären siebenmal morgens eine Pinte zu zwo Pence macht siebenmal zwo, macht einen Schilling und zwo und dann jetzt dreimal morgens ein Quart zu vier Pence macht drei Quart macht einen Schilling und einen und zwo macht zwo und zwo, Sir.“ Diese Rechnung wird nicht vollständig beglichen, denn der klamme Student Buck Mulligan bringt lediglich ein Zweischillingstück zum Vorschein. Das ist alles, was er hat. „Verlang nicht mehr von mir, mein Schatz. Denn was ich geben kann, das gab ich hin“, sagt er. Mit den restlichen zwei Pence hat es die Milchfrau, die sich die Münze in die betont „ungierige Hand“ legen lässt, nicht eilig. Sie kennt ihre Kundschaft. Zum einen wird sie schon öfter auf Pump geliefert und am Ende ihr Geld erhalten haben, zum anderen war sie im Vorfeld gar nicht auf diese Zahlung fixiert. Haines hatte die Rechnung verlangt. Offenbar hat die leicht hexenhaft-mythisch geschilderte Frauengestalt einen klaren Blick für ihre Situation. Sie strebt nicht nach Reichtum, nicht einmal nach Veränderung, gibt zur bezahlten Milch stets ein Quentchen dazu, von dem wir annehmen dürfen, es sei in ihrer Gesamtkalkulation berücksichtigt. Sie ist bescheiden rational, zwar alt, doch erfahren und geistig rege, ohne hochfliegende Hoffnungen und Pläne. Ihre Brüste werden als verschrumpelt beschrieben. Als pragmatische Realistin stundet sie ihren jungen Stammkunden auch weiterhin Teile der Kalziumzeche. Damit unterscheidet sich die Milchfrau vom Milchmädchen, welches in gleicher Situation die volle Rechnungssumme ja bereits verplant und damit auch darauf bestanden hätte, diese zu kassieren. Weil man jedoch nackten Studenten nicht in die Tasche fassen kann, wäre der Versuch erfolglos geblieben, vielleicht hätte man sich darüber sogar zerstritten und die Geschäftsbeziehung für immer beendet, langfristig ein großer Schaden.

(Photo: Michael Helming)

Das Gewerbe ist für beide Frauen gleich. Sie können Milch abmessen, ohne zu kleckern, beherrschen beide die Grundrechenarten. Doch nur die Milchfrau kennt die Feinheiten, schätzt die Lage realitätsnah ein und macht das machbare, derweil das Milchmädchen derart in Träumen, schwer erfüllbaren Wünschen und Utopien schwelgt, dass es den Blick für die Wirklichkeit verliert, aus dem Tritt kommt und ins Unglück stolpert. Fraglos eine tragische Figur, wie man sie nicht nur in der Fabel und im Drama findet, sondern überall, auch in der Philosophie. Da sehe ich jetzt einen deutschen Wahl-Londoner mit Rauschebart seinen Milchtopf zum Markt tragen: Karl Marx.

Analyse und Utopie vs. Marxsche Haushaltskasse

Am historischen Bloomsday 1904 war der Keith Richards des Kommunismus bereits einundzwanzig Jahre tot. Dennoch wird man sich im Mai 2018 mancherorts an seinen zweihundertsten Geburtstag erinnern. Biographien über Marx gibt es wie Milchkühe in Niedersachsen. Auch 2017 erschienen unter anderem dicke Bücher von Jürgen Neffe oder von Gareth Stedman Jones, letzteres ein Vieh von knapp neunhundert Seiten. Nach wie vor wird viel über den Erfinder des Marxismus geschrieben. Dabei dürften die Quellen längst umfassend ausgewertet sein. Sogar derbe Briefpassagen sind inzwischen öffentlich, bis weit ins 20. Jahrhundert waren sie noch zensiert, dem Mythos und der Ideologie zuliebe. Kurz: Es gibt nichts Neues, höchstens neue Deutungen.

Glauben wir Marx-Biographen wie Francis Wheen, vertritt seit den Neunzigerjahren eine wachsende Zahl von Managern und anderen Wirtschaftsvertretern – darunter überzeugte Neoliberale – die Ansicht, lasse man den ganzen Sozialismus-Marxismus-Quatsch außen vor, sei Marx durchaus ein fundierter Kenner des Kapitalismus gewesen. Bei der Fülle von Biographien widersprechen freilich auch einige dieser Auffassung, zum Beispiel Jonathan Sperber, der Marx bei der Analyse des globalisierten Kapitalismus nicht für hilfreich hält. Eine große Anzahl der Wortmeldungen tut jedoch genau dies und so wird Karl Marx zur tragischen Figur, zu einem Milchmädchen im oben gedachten Sinne: Er schöpfte mit „Das Kapital“ eine umfassende Kritik der kapitalistischen Gesellschaft seiner Zeit. Werk und Wirken blieben bis ins 21. Jahrhundert einflussreich, da Marx anscheinend zentrale Probleme der Ökonomie weitsichtig überblickte. Doch er träumte von einer utopischen Gesellschaft und scheiterte am Ende auf allen Ebenen. Sämtliche Staaten, die mit seinen Ideen Staat zu machen versuchten, gingen bankrott und schließlich unter. (Die Ausnahme VR China bestätigt vielleicht diese Regel.) Privat, im Kleinen, war das Wirtschaftsdesaster ebenfalls umfassend, weil Marx einfach nicht mit Geld umgehen konnte, wie Wheen vor allem anhand von Briefen belegt. So schreibt er von einem Morgen im April 1853, an dem ein Bäcker bei Marx in der Dean Street auftauchte und erklärte, er werde kein Brot mehr liefern, bis die offenen Rechnungen bezahlt seien. Gläubigerbesuch kam oft, manchmal der Gerichtsvollzieher. Marx’ Briefe an Engels sind laut Wheen „eine endlose Litanei von Kummer und Sorgen.“ In einem vom 8. September 1852 steht: „Meine Frau ist krank […] Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit acht bis zehn Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.“ Ein Jahr später, am 8.10.1853, lesen wir: „Schon seit Tagen ist kein Sou mehr im Haus.“ und am 13.09.1854: „Im Pfandhaus habe ich jetzt allein 25 Prozent zu zahlen und kann überhaupt wegen der Rückstände nie in Ordnung kommen.“ Kurz vor Weihnachten 1857 wird Engels wie folgt angepumpt: „Habe eben 3te und letzte Warnung von dem lausigen Steuerkollektor erhalten, dass wenn ich bis Montag nicht zahle, ich Montagnachmittag den broker ins Haus gesetzt bekomme. If therefore möglich, schick mir einige Pfund bis Montag.“ Einige Pfund hier und da summierten sich zur umfangreichen Unterstützung. Allein im Jahr 1851 erhielt Marx von Engels und anderen Gönnern über hundertfünfzig Pfund, eine Summe, von der, wie Biograph Wheen meint, „eine Familie der unteren Mittelklasse durchaus in einem gewissen Komfort leben konnte.“ Er vergleicht die privaten Ausgaben und Einnahmen von Karl Marx und schätzt, dass dieser seit 1852 mit Schreiberei – etwa für die New York Daily Tribune oder die Neue Oder-Zeitung in Breslau – ein jährliches Einkommen von mindestens 200 bis 250 Pfund verdiente. Die Jahresmiete für seine Wohnung in der Dean Street betrug zweiundzwanzig Pfund. Er hatte trotzdem nie einen Penny, weil er kein Gefühl für sinnvolle Ausgaben hatte und eisern an großbürgerlichen Gewohnheiten festhielt. Dürftig ernährte er seine Kinder und manchmal konnten die nicht mal zur Schule gehen, da er ihre Kleider und Schuhe versetzt hatte. Die ganze Kohle ging für Status und äußeren Glanz drauf. In dem Punkt war Marx Verzicht unmöglich. Er brauchte die Fassade. So beschäftigte er einen Sekretär, Wilhelm Pieper, der wohl einerseits weder besonders effektiv arbeitete und andererseits ohnehin nur Dinge tat, die Jenny Marx für das Geld wohl gern übernommen hätte. Ihr Mann wollte um jeden Preis den bürgerlichen Schein wahren und rechtfertigte dies mit irrationaler Logik: Man dürfe über seine Verhältnisse leben, um nicht weiter abzusteigen. Die Töchter besuchten ein Damenseminar für acht Pfund im Quartal, sie nahmen Privatstunden in Italienisch, Französisch, im Zeichnen und in Musik. Die Jammerbriefe an Engels, wie der vom 27. Februar 1852, stehen dazu in scharfem Kontrast: „Seit einer Woche habe ich den angenehmen Punkt erreicht, wo ich aus Mangel an den im Pfandhaus untergebrachten Röcken nicht mehr ausgehen und aus Mangel an Kredit kein Fleisch mehr essen kann.“ Wheen sagt es deutlich: „Der Jammer eines Mittelklassebürgers war nicht der eines Mittellosen.“ Marx ließ sich von seinem Genossen und Ghostwriter nicht nur Geld, sondern auch Alkohol schicken. Manchmal Sherry, dann Cognac oder ein paar Kisten Wein, gerne Claret und Rhein; Rheinwein galt zu der Zeit als edel und war entsprechend teuer. Der steinreiche Unternehmersohn und Privatus lieferte alles, was Marx wollte und letzterer hatte, obwohl seit Jugendzeiten ein geübter Zecher, nicht die Leber, um das nahezu unerschöpfliche Vermögen eines Friedrich Engels zu versaufen. […]


Weiterlesen?

Den kompletten Essay finden Sie in Lichtwolf Nr. 61 („Milchmädchen“).

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