Literatur is’ mir Wurscht

Man soll Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Bei Büchern und Wurst hingegen macht die Sache vielleicht mehr als nur metaphorischen Sinn und auf jeden Fall Appetit. Gedanken zwischen Schwarte und Magen…

von Michael Helming, 20.06.2017, 20:38 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

 

Zitate sind zuweilen in bunten Variationen zu haben; eine Aufschnittplatte voller Bonmots. Da wird der Satz: „Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie!“, gern dem alten Reichskanzler Otto von Bismarck auf die Stulle gelegt, als hätte der sich den Vergleich vor allen anderen aus dem Hirnschmalz geschnitten. Nachweislich einige Jahre zuvor jedoch diktierte der US-Schriftsteller John Godfrey Saxe (1816–1887) der Zeitung „The Daily Cleveland Herald“ den Satz „Laws, like sausages, cease to inspire respect in proportion as we know how they are made.“ in die Spalten, was auf Deutsch oft sehr ungenau mit „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ wiedergegeben wird; wobei das Original doch nur darauf hinweist, dass der Respekt vor beiden sich antiproportional zu unserem Wissen über deren Herstellung verhält. Ob und wie weit wir die Prozedur in allen Einzelheiten untersuchen wollen, überlässt Saxe uns, seinen Lesern. Unbestritten eignen Zeitungen sich prima zum Wursteinwickeln, was nicht nur einen traditionellen Verpackungsservice beim Metzger, sondern zudem eine altbekannte Metapher für die Vergänglichkeit von Druckerzeugnissen darstellt. Denn darin gleichen sich Idee und Lebensmittel: Sie bleiben nicht ewig frisch. Obendrein sind sie nicht ganz ohne jede Mühe herzustellen. Wenn die eigene Produktion kärglich auszufallen droht, schneidet der Literat sich gern mal bei Kollegen die eine oder andere Scheibe ab. Das gilt sogar für den Dichter Saxe, der auch nicht alle seine Einfälle als Erster hatte; so verwurstete er die uralte indische Fabel von den blinden Männern und dem Elephanten, die in seiner Bearbeitung zu den namhaften Werken der amerikanischen Lyrik gehört. Echte Elephanten kommen derweil in Südafrika wohl auch heute noch in die Wurst. Das Fleisch soll angeblich in Dosen und als getrocknetes Beef-Jerky erhältlich sein. In unseren Breiten dagegen ist der Wurstelephant bloß ein kunstvoll in Elephantenform gebrachtes Frankfurter-, respektive Wienerwürstchen; vom Artenschutz her also völlig unbedenkliches Origami aus Schweinefleisch.

 

Das Verbindende von Büchern und Würsten

Nun füllen nicht allein Gesetze die dicksten Bücher, sogenannte Schwarten. Unzählbar viele Brocken Prosa, mehr oder weniger saftig, angefangen bei hochwissenschaftlichen Werken, Handbüchern und Ratgebern bis hin zu belletristischen Romanen, Thrillern und Krimis, landen Jahr für Jahr schlachtfrisch zwischen zwei Buchdeckeln und im Verzeichnis lieferbarer Bücher. Angesichts manch bizarrer Schriftstellerbiographie darf der Leser sich tatsächlich fragen, ob er leibhaftig dabei sein möchte, wenn Säufer, Pedanten und Nerds ihre Geistesblitze und Fiktionen in die Tastatur hämmern. In vielen Fällen wird man mit dem fertigen Produkt glücklicher. Der grundehrliche Arno Schmidt hat seine Leser wissen lassen, dass sie womöglich schwer enttäuscht wären, wenn sie ihn persönlich kennenlernen würden. So dürfen wir unser Zitat getrost ein weiteres Mal modifizieren und verknappen: „Bei Literatur und Wurst will man besser nicht wissen, wie sie gemacht werden.“ Lange vor uns, vor Bismarck und auch vor Saxe schrieb übrigens schon Jean Paul: „Wurst ist eine Götterspeise. Denn nur Gott weiß, was drin ist“, worauf Kollege Hajjar ab S. 62 anspielt. Bei Büchern reicht oft ein prüfender Blick ins Inhaltsverzeichnis oder auf den Klappentext, um das herauszufinden.

 

Im Prinzip liegt Buch und Wurst derselbe Wunsch zugrunde: Es geht um Konservierung von Nahrung, hier für den Magen und dort fürs Hirn – beides gleichermaßen für die Seele. Beide müssen den Geschmack des Publikums treffen, um zu gefallen, denn die Kenner unter den Käufern sind in beiden Fällen Gourmets. Sie schätzen nicht nur den Inhalt, sondern auch das Drumherum: Einband und Pelle. Nur mit guten Zutaten entsteht am Ende auch ein gutes Produkt: Es braucht im richtigen Verhältnis gutes Fleisch, erlesene Gewürze und Rauch, beziehungsweise gute Ideen, dann richtig gewählte Worte und gutes Papier. Bücher und Würste brauchen gleichsam Zeit, müssen reifen und abhängen. Es soll Leser geben, die keinen Text anrühren, der nicht mindestens zwanzig Jahre alt ist.

 

(Photo: Michael Helming)(Photo: Michael Helming)

 

Am Ende bleibt beim Konsum alles eine Geschmacksfrage, derweil die Herstellung den Unterschied macht. Die Entstehung von Literatur ist ein Prozess aus und in verschiedene Richtungen: An einer Stelle kombiniert der Autor seine Ideen zu einem Text, den er immer wieder hinterfragt und verändert. Sein Lektor kritisiert und ermutigt ihn, greift in den Prozess und damit auch in den Text ein. Während die Worte also nach und nach reifen, wird drumherum eine Schrifttype für den Druck gewählt, bei bibliophilen Ausgaben sogar das Papier. Der Umschlag nebst Klappentext wird entworfen, bevor das mehrfach abgeschmeckte Brät dann irgendwann in die Druckerei geht. Es wird also in verschiedenen Töpfen gerührt, bevor Literatur im Laden liegt. Bei Wurst sieht die Sache anders aus: Es gibt schon bei Produktionsbeginn ein fertiges Rezept. So ist der Ablauf eine fixe Sache. Alle Inhaltsstoffe werden abgewogen, zerkleinert und dann miteinander vermengt, in Darm gefüllt und zuletzt gebrüht oder geräuchert. Die Wurst an sich ist eine Mischung, weniger eine Komposition, immer ein Ding aus einem Guss. Beim Buch folgt von Anfang bis Ende alles einer Richtung, einem Spannungsbogen. Die Wurst muss dagegen homogen sein, an jeder Stelle gleich schmecken.

 

Wilhelm Busch bezeichnete nicht nur ein zugeklappt daliegendes Buch als „ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen“, er setzte auch des Schweines Ende mit der Wurst Anfang gleich. Der Volksmund schließlich meint: Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. In der Produktion mag sie noch Anfang und Ende haben, wie ein Buch. Das Ergebnis kennt keine Richtung mehr. Wurst hat keinen Anfang, man beginnt bei ihr stets am Ende, auch wenn unwichtig ist, an welchem. Die Wurst ist so gesehen fleischgewordenes Palindrom: in jede Richtung sinnvoll konsumierbar. Mit ihren zwei Enden ist sie zugleich das Symbol für den allgegenwärtigen Dualismus; sie ist das Ding mit den zwei entgegengesetzten und doch irgendwie gleichen Seiten. Deswegen sagt man gern, etwas ist wurscht, wenn einem eine Sache egal ist. Denn es ist ja tatsächlich wurscht, an welchem Ende man die Wurscht anschneidet. Ein literarisches Werk wird man dagegen meist am Anfang beginnen. Allerdings waren sich Bücher und Würste einst, zumindest von den Zutaten her, bemerkenswert ähnlich, denn beide waren sie aus Tier gemacht: Wurst aus Fleisch und Darm, Bücher aus Leder und Pergament. Das Buch wurde mit der Zeit vegan. Ein Trend, dem jüngst auch Wurst zu folgen sucht, weil Veganismus derzeit „in“ ist. Im Land von Bifi und Landjäger wird die Kreation „Vegane Wurst“ allerdings zuweilen auch als Betrug gesehen, da Wurst ohne Fleisch per Definition keine Wurst sei, womit sich wiederum Kollege Rode ab S. 46 befasst. Für alternative Fakten dieser Art kriegen Marketingstrategen dann schon mal ihr Fett weg. Das kommt davon, wenn man mit der Wurst nach der Speckseite wirft.

 

Das Trennende von Büchern und Würsten

Damit gelangen wir zum wichtigsten Unterschied zwischen Wurst und Buch: Weniger die Haltbarkeit, aber wohl deren unterschiedliche Lebensdauer. Wenn die Wurst gelesen ist, dann ist sie leider unwiederbringlich verschwunden. Man muss eine neue besorgen, wenn man den Genuss wiederholen möchte. Ein Buch kann man dagegen immer wieder und wieder verschlingen, es bleibt physisch vorhanden. Man kauft es ein einziges Mal und kann sich lange daran laben, bis man es wirklich satt hat, was bei guten Büchern nie der Fall ist.

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Lichtwolf Nr. 58

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