Spitzenkünstler

Wer sich für Schönheit und Kunst die Fußgesundheit ruinieren will, geht zum Ballett, um totale Herrscher zu unterhalten – und in Konkurrenz zu denen zu treten, die zum ähnlichen Zweck aus ihrem Atemwegssystem einen brutalen Tenor schöpfen.

von Osman Hajjar

 

Blond wie BB, figürlich aber eher ihr Konterpart, war Brigitte Bügelbrett im Umgang mit ihren Mitmenschen keineswegs steif wie eine Ballettstange. Ein Beispiel hierfür war ihre Art, mich bei sich zu Hause zu empfangen: Wenn ich kam, tanzte sie splitternackt durch das Appartement, was ich – wie sich später herausstellen sollte – ganz richtig als eine Aufforderung deutete. Ihr Freikörperballett war nicht die einzige skurrile Attitüde. Eines Tages erzählte sie mir stolz, ihrer Kollegin die Spitzenschuhe geklaut zu haben: „Die bricht sich mit den Dingern ohnehin nur die Haxen!“ Inwiefern es ethisch vertretbar ist, wenn Kinder und Halberwachsene sich für die Kunst ruinieren, soll an späterer Stelle erörtert werden. Um zu verstehen, warum Brigitte ihre wie auch immer zu bewertende Fürsorgepflicht gegenüber der sich selbst gefährdenden Konkurrentin so ernst nahm, bedarf es einer Erläuterung, wie die graziösen Folterinstrumente funktionieren:

Der Spitzenschuh ist äußerlich ein zumeist mit rosafarbenem Satin überzogener, absatzloser Ballettschuh. Damit die Ballerina schwerelos auf ihren Zehenspitzen schweben kann, wird der vordere Teil mit harter Pappe gepanzert, sodass die Zehen eine eherne Stechkraft erhalten. Um zu vermeiden, dass sich die Tänzerinnen bei den Pirouetten in den Boden bohren, ist die Schuhspitze jedoch abgeschnitten, was auch eine stabilere Standfläche ergibt. Empfehlenswert wäre es daher für Elevinnen, sich nach Aschenbrödelschwestermanier die Zehen abzuhacken, sodass sie bequem auf allen fünf Zehenstümpfen stehen könnten. Gegen diese Methode hat sich aber der Tierschutzverband der Ballettratten in den letzten Jahren stark gemacht, weshalb der große Zeh zumeist das gesamte Gewicht der freilich federleichten Hungerhaken stemmen muss. Zusätzlich zur Vorderfußverstärkung ist der Spitzenschuh noch mit einer ebenfalls aus harter Pappe hergestellten steifen Innensohle ausgestattet. Das ist deshalb notwendig, weil der Spann überdehnt wird, sodass sich die Achse der Tänzerin nicht lotrecht über der Spitze befindet, sondern ein Stück davor. Auf diese Weise bleibt der Fuß ohne Muskelkraft gestreckt und das Gewicht der Tänzerin wird von den Bändern des Fußgelenks gehalten. Das schaffen diese aber nur, wenn das Knie kraftvoll durchgestreckt ist und der Fuß etwas zur Außenkante hin abgewinkelt wird, was man im Fachjargon „Schwalbe“ nennt. Ein einziger Augenblick der Unachtsamkeit und ein karrierevernichtender Bänderriss ist vorprogrammiert. Die Technik eines „Überspannens“ der Standspitze ist natürlich nur möglich, wenn der Fuß die entsprechende Form besitzt. Ist der Spann sehr prononciert, kann es wiederum notwendig sein, sich eine Stahlfeder in die Sohle einarbeiten zu lassen. Brigitte war genauso wenig wie ihre Kollegin von diesem Talent betroffen.

Qual bedingt die Qualität höfischer Machtdemonstration

Wie die extreme Auswärtsrotation der Beine ist die Vorverlagerung der Achse nicht nur eine anmutige Qual, sondern auch die Vorbedingung für eine besondere Qualität der Bewegung. Sie besteht darin, dass sich die choreographischen Figuren mit spielerischer Freiheit in den Raum schreiben. War die Ästhetik zur Geburt des Spitzentanzes die des Ätherischen, so ist sie in der Gegenwart wohl eher die des Automaten. Dieser modern-mechanisierte Reigen ist sicherlich von der industriellen Revolution inspiriert, es steckt aber meiner Ansicht nach noch deutlich mehr dahinter. Angefangen hat alles in einer Ära – in die Brigitte wunderbar hineingepasst hätte –, da steifspitzige Halskrausen modern waren und man weder die Formenfülle des Barock noch Hochleistungsspitzenschuhe erfunden hatte.

Was man hingegen bereits kannte, war die höfliche Völlerei, denn es war das Quattrocento, als der Mensch glaubte, die Quadratur seines Körpers und somit auch die Lust am Leben wiederentdecken zu müssen. Mäzene förderten in diesem Sinne die Kunst und alles Schöne. Antike Darstellungen mögen sie beflügelt haben, ihre Abendgesellschaften nicht nur durch Theater, sondern auch durch Tanzaufführungen zu animieren. Dabei ging es den italienischen Kleinstaat-Tyrannen nicht nur darum, den Kult um den menschlichen Körper zu sponsern: „They were also subtle, astute politicians who soon discovered that great art enhances the reputation of the state that produces it, in both the eyes of the citizens and the world at large – a fact that future leaders would rediscover many times in succeeding centuries.“ (Judith Steeh)

Zur politischen Machtdemonstration ließen die Fürsten bei ihren Festen gerne griechische Heroen und Götter das Tanzbein schwingen. Furore machte 1489 ein Ballett von Bergonzio de Botta anlässlich der völkerverkuppelnden Hochzeit des Mailänder Herzogs Galleazzo Visconti mit der französischen Prinzessin Isabelle de Valois. In Szene gesetzt wurde „Jason und die Argonauten“: Diese marschierten zu militärischen Klängen in den Saal, um nach dem Takt der Musik die Tafel mit dem Goldenen Vlies zu dekorieren. Götter und Helden tänzelten herbei, und kredenzten erlesene Köstlichkeiten, so ein Kalb, einen Hirsch und den Kalydonischen Eber. Politischer Höhepunkt des Spektakels war eine Pantomime, bei der berühmt berüchtigte Königinnen – unter ihnen Semirames, Medea und Kleopatra – von Amoretten liebevoll abgestraft wurden. Die Liebe siegt über den Krieg („Make love not war.“) dürfte die Botschaft gelautet haben.

Spitzenschuhe Anfang des 20. Jhs. im Museum des königlichen Schlosses Stockholm (Livrustkammaren). Quelle: Wikipedia

Ums Bezirzen ging es auch im berühmten „Ballet comique de la reine“, das Katharina von Medici 1581 in Auftrag gegeben hatte und hiermit die italienischen Luftsprünge im Louvre salonfähig machte. Die Liebe triumphiert in diesem Ballett allerdings genauso wenig wie in der unseligen Bartholomäusnacht, deren Massaker damals neun Jahre zurücklagen. Das Bühnenstück feiert demnach, wie die Zauberin Circe (als Symbol für den „Hexenkessel“, in den die Hugenottenkriege das Land verwandelt hatten) vom Blitz des Jupiter bezwungen und die weltliche Ordnung wiederhergestellt wird. Die Königin eröffnet daraufhin das grand ballet, das von der gesamten Hofbelegschaft getanzt wird.

Der Mensch übersteigt im Tanz seine Körperlichkeit.

Noch evidenter ist der kosmologische Aspekt im „Ballet royal de la nuit“ von 1653. Es handelt sich um eine Allegorie der Nacht, als Symbol für Dunkelheit und Anarchie, die durch das Morgenlicht der absoluten Monarchie vertrieben werden. Ludwig XIV. machte sich in der Hauptrolle der Sonne einen Namen. Als Zentralgestirn verspricht er der Welt eine glänzende Zeit, woraufhin sich alle Mitwirkenden im grand ballet vereinigen und zu einem irdischen Spiegelbild jenes ewigen bal des astres werden.

Die eigentliche Revolution im Ballett fand schon wenige Jahre später statt, nämlich mit Lullys „Le triomphe de l’amour“. In seiner Machart unterscheidet es sich nicht wesentlich von Ludwigs Nachtballett – abgesehen davon, dass Jupiter der Liebe zuspricht. Brandneu hingegen ist die Eroberung der Bühne durch die ersten professionellen Ballerinen. Im folgenden Jahrhundert erfanden Marie Sallé und Marie Camargo nicht nur die von Voltaire dokumentierte guerre des étoiles, sondern letztere Marie entwickelte den absatzlosen Sprungschuh und experimentierte offenbar schon mit der Spitzentechnik. Ich vermute, dies war zunächst nur ein Exercice, um die Sprungkraft zu verbessern, denn die Camargo glänzte bereits mit dem Entrechat quattre (vier Beinschläge in der Luft, wobei ein und aus aber einzeln zählen) – eine Bravour, die auch von modernen Ballerinen nicht standardmäßig überboten wird.

Zum Durchbruch führte den Spitzentanz endlich Marie Taglioni. Ihr Weltruhm begann 1832 mit dem von ihrem Vater choreographierten Ballett „La Sylphide“ nach der Musik von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer. Hier handelt es sich nun im eigentlichen Sinne um eine Liebesstory. Der schottische Hochlandschäfer James verliebt sich am Vorabend seiner Hochzeit in ein geflügeltes Geisterwesen, die Sylphide. Von einer Hexe lässt er sich ein magisches Gespinst aufschwatzen, mit dem er die Sylphide einfangen könne, das aber nichts anderes als ihren Tod bewirkt. Die dramatische Tonart ist ein echtes Novum, das wir Jean-Georges Noverre verdanken, der das Genre des ballet d’action ins Leben rief. Tänzerinnen treten nun spitzenbeschuht als Geisterwesen auf, die 1841 mit Adolphe Adams „Giselle“ kopiert werden sollten, 1877 in Ludwig Minkus’ „La Bayadère“ als Opiumvision auftauchen und im gleichen Jahr ihren größten Erfolg im bezaubernden Schwanengefieder nach Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Klängen feiern.

Der mythologische Anstrich der alten Ballette ist also keineswegs ganz abgeblättert, und wenn es nun nicht mehr um prunkvolle Apotheosen geht, so zeigt sich der Mensch dennoch gern im mythischen Gewand, das 1912 in Vaslav Nijinskys Skandalballett „L’Après-midi d’un faune“ von Claude Debussy oder 1928 im neoklassischen George-Balanchine-Ballett „Apollon musagète“ von Igor Strawinsky durchaus auch ein griechisches sein konnte. Immer wieder übersteigt der Mensch im Tanz seine Körperlichkeit und verwirklicht wenn nicht seine Gottesnatur, so doch eine übernatürliche Geistigkeit.

Das Theater ist somit ganz klar ein Kultort, in der sich der Mensch selbst verherrlicht. Der Spitzentanz macht ihn zur Spitze der Säugetiergattung – nicht weil andere Tiere dies nicht könnten (siehe Pferde, Kühe, Schafe), sondern weil Homo sapiens es eben nicht kann und somit seine biologischen Grenzen überschreitet. Das Ballett feiert seine Sternstunden daher trotz aller Romantik im Schatten menschenverachtender Regime, vor allem in Russland, wo es unter den Zaren Alexander II. und III. aufblühte und die Schule der Vaganova-Akademie unter der Ägide Stalins eine Spitzenposition innerhalb der internationalen Ballettlandschaft erringen konnte. Besonders für die Sowjetunion erscheint es plausibel, das Theater als laizistische Kultstätte zu betrachten. Aram Chatschaturjans poststalinistischer „Spartakus“ (1956) erinnert an einen römischen Sklavenaufstand, der den Glauben an die kommunistische Wahrheit wiederbelebt und die Gründung der Sowjetunion als religiöse Erlösung glänzen lässt.

Wundgetanzte Füße und kastrierte Sänger

Nun waren das Kirov- und das Bolshoi-Theater – genau wie ihre französischen Vorbilder – keineswegs nur Kultstätten des Balletts, sondern vor allem auch der Oper. Neben Stalins Lieblingsballerina Olga Lepeschinskaya galt der Tenor Iwan Semjonowitsch Kolowski, der mit seiner Schwertstimme die Hohe-C-Grenze schneidig zu durchbrechen pflegte, als sein „Hofsänger“. Wir haben es bei den theatralen Spitzenleistungen also nicht nur mit wundgetanzten Füßen zu tun, sondern auch mit Nasen, in deren Hohlräumen sich Töne entfalten, die ihrerseits das Maß menschlicher Normalität überschreiten. Beschäftigen wir uns im zweiten Teil dieses Artikels also mit den tenoralen Zaubernasen als Pendant zu den tänzerischen Zehenflügen.

Mit der Operngeschichte beginnen wir zwar nicht noch einmal im Quattrocento, wir müssen aber schon ein wenig zurückgehen, um zu verstehen, warum die Ästhetik der Tenorstimme nicht nur eine Qual für manche Hörer darstellt, sondern in jener des Spitzentanzes ihr Äquivalent hat. Begonnen hat die ästhetische Tortur zeitgenössischer Tenöre mit der Kastration sängerisch begabter Knaben im 18. Jahrhundert. Damals entwickelten sich männliche Soprane zu Superstars der Oper, die wegen ihres erotischen Sonderstatus und ihrer engelhaften Stimme nicht nur begehrt, sondern auch bereits als Sexsymbole gehandelt wurden. Entstanden sind die Kastratensoprane als Nebenprodukt christlicher Frauenfeindlichkeit. Die Formel „Mulier taceat in ecclesia“ führte dazu, dass man nach einer Alternative für das weibliche Klangspektrum suchte. Da Knabensänger, kaum dass sie ausgebildet sind, schon wieder in die Mutation kommen, entschied man sich, dem Stimmbruch „zum Lobe Gottes“ (wie Papst Clemens VIII. es 1592 ausdrückte) mit dem Messer beizukommen – ungeachtet dessen, dass der Operation weit mehr als die Hälfte der sängerisch Hochbegabten zum Opfer fielen. Wer wird es dennoch den Opernintendanten ankreiden, wenn sie das klerikal-vollbusige Gezwitscher für sich entdeckten und den fähigsten Kirchensängern einen fabulösen Zuverdienst anboten. Moralische Zweifel kamen Papst Pius X. erst ein Jahrhundert nachdem die femininen Primi uomini von den Opernbühnen schon verschwunden waren: 1903 verbot er die Einstellung von Kastraten in Kirchenchören.

John Vanderbank (1694-1739): Händels „Flavio“. Gaetono Berenstadt, Francesca Cuzzoni, Francesco Bernardi Senesino. Die Karikatur zielt auf tatsächliche körperliche Disproportionierung von Kastraten. (Quelle: Wikipedia)

Hier kommen wir nun nicht um den angekündigten Exkurs in die Ethik herum. Besonders in Sachen Beschneidung ist man heutzutage ja hellhörig geworden und bereits die religiös begründete Zirkumzision wird zum gesellschaftlichen Zündstoff. In welchem Umfang lässt sich also der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit kultisch und kulturell rechtfertigen? Sind Piercing und Tattoo der Jugendkultur ethisch vertretbar? Bis zu welchem Punkt darf man gehen, gibt es ein absolutes Tabu? Ich meine, dass die Grenze innerhalb der jeweiligen Kultur gezogen werden muss. Nur innerhalb ihrer Diskurse lässt sich ermessen, ob eine seelische Verletzung durch Verstümmlung über die des gewöhnlichen „Kulturkastraten“ hinausgeht. So war es auch keineswegs eine Unmenschlichkeit der Orchiektomie, weshalb die singenden Unmänner sich auf der Opernbühne nicht behaupten konnten, sondern weil die Überschreitung des Menschenmöglichen per Messerschnitt auf die Dauer nicht überzeugte. Anders als in Deutschland konnte man in Frankreich den „heiseren Kapaunen“, wie Stendhal sie nach einem Konzert in der Sixtinischen Kapelle nennen sollte, ohnehin nie etwas abgewinnen. Denker wie Rousseau brachten zudem den Diskurs des Naturzustands auf, der die Romantik einleitete. Hatte Georg Friedrich Händel „Julius Cäsar“ 1724 in London noch als Mezzosopran auf die Bühne gebracht, so passte dies nun nicht mehr zu schwärmerischen Vorstellungen von einem Helden.

In Sachen schriller Maskulinität schlägt Tenor den Kastraten.

Die Antwort auf die Virtuosität der Kastraten kam etwa hundert Jahre später mit der Premiere von Gioachino Rossinis „Wilhelm Tell“, 1831 im toskanischen Lucca. Der französische Sänger Gilbert-Louis Duprez sang bei dieser Vorstellung zum ersten Mal auf einer Opernbühne das hohe C mit der männlichen Vollstimme. Offenbar war der Komponist von dieser Sensation nicht übermäßig begeistert, denn er kommentierte diesen Ton als „Schrei eines Kapauns, dem die Gurgel durchgeschnitten wird“. Wir können davon ausgehen, dass Rossini, der selbst einer Kastratenkarriere knapp entgangen war und seine „Petite Messe solennelle“ 1863 für zwölf Sänger der drei Geschlechter schrieb, jenen Kapaunenklang mit dem dritten unter ihnen identifizierte. Für ihn war klar, dass die Vollstimme eines Mannes natürlicherweise nicht übers g‘ reicht und ein Nicht-Kopfstimmen-c“ nur ein Kunstprodukt sein kann (NB: Kopfstimme wird hier mit Falsett oder Fistelstimme gleichgesetzt). Anders als beim Kastratensopran wird bei der tenoralen Expedition in neue Klangbereiche auf den Messertrick verzichtet, was sie zu einer wahren Eroberung macht. Dass kunstvolle Koloraturen notwendigerweise zurückgedrängt wurden, war nicht nur eine Einbuße, sondern auch die Bestätigung einer männlichen Haltung als charakterliche Beständigkeit.

Alexandre Lacauchier (fl. 1833-46): Gilbert Duprez als Gaston in Giuseppe Verdis „Jérusalem“. Galérie dramatique. 26 x 22 cm. Um 1847. (Quelle: Wikipedia)

Hierin ist die Tenorstimme genau das Gegenteil zum Spitzentanz, der vielmehr Labilität ausdrückt (was sich darin zeigt, dass die Tänzerin einen Partner benötigt, der sie beim Pas de deux stützt). Es stellt sich nun die Frage nach der Technik: Ließ sich die Funktion des Spitzenschuhs mit wenigen Worten erklären, so ist dies beim hohen C wesentlich schwieriger. Wie die Geisteswissenschaft zeichnet sich das Gesangswesen dadurch aus, dass höchste Uneinigkeit besteht. Mancher meint, der weiche Gaumen müsse gehoben werden, andere meinen, der Nasenraum werde auf diese Weise geschlossen, weshalb der Gaumen vielmehr zu senken sei. Auch der Begriff des Nasalen ist reichlich unklar. Eine Erklärung besagt, der negativ bewertete nasale Klang komme durch einen gehobenen Kehlkopf zustande und habe mit den Nasenresonanzen des klassischen Gesangs nichts zu tun. Das klingt überzeugend, der Kehlkopf lässt sich aber auch anheben, ohne eine nasale Färbung der Stimme hervorzurufen – und umgekehrt. Hinsichtlich der hohen Tenorlage gibt es heute vor allem den Streit um das „Belting“ („Schmettern“), daher das Singen hoher Töne mit einer forcierten Bruststimme. Viele Lehrer verteufeln dieses, andere behaupten, jede künstliche Ausdehnung eines Registers stelle ein Belting dar. Wie aber wird dieses erzeugt? Landläufig meint man, es handle sich hierbei tatsächlich um die Bruststimme. Wahrscheinlicher ist, dass ein Tenor-C vom Timbre her wie diese klingt, in Wirklichkeit aber vor allem mit den Kopfresonanzen und daher im Nasenraum erzeugt wird. Charakteristisch für das Tenor-C ist, dass es diffus klingt und nicht wie das Falsett oder die Frauenstimme an eine Flöte erinnert. Das Diffuse hat der Tenorklang mit der Bruststimme gemeinsam, dennoch handelt es sich aber nur um eine „Luftspiegelung“. Hierfür spricht, dass Luciano Pavarotti lehrte, allein mit den Rändern der Stimmbänder zu singen. Dies sind die Schleimhäute, die normalerweise für den falsettartigen Klang verantwortlich sind, während die muskulären Stimmlippen die Bruststimme erzeugen. Vielfach ist auch die Rede von der gemischten Stimme, die als eigenes Register betrachtet wird. Das würde aber bedeuten, dass sie eben nicht eine Mischung von Brust- und Falsettstimme darstellt, sondern einen im Kopf produzierten „Brustklang“. Unterstützt wird dieser Effekt schriller Maskulinität seit Enrico Caruso häufig durch eine Baritonfärbung, die anscheinend der Natur seiner Stimme entsprach. So wird die Anekdote erzählt, dass bei einer Aufführung von Giacomo Puccinis „La Bohème“ der Bassist keinen Ton herausbrachte, woraufhin Caruso dessen „Mantelarie“ quasi im Playback vortrug, ohne dass das Publikum dies bemerkte. Hier haben wir wiederum einen Hinweis dafür, dass es zwei Arten von „Bruststimme“ gibt, nämlich die eigentliche, mit der Caruso die Basspartie mimte, und die tenorale, mit der er Berühmtheit erlangte. Dennoch sei betont, dass die Rede von Stimmlagen und Registern sich zwar eignet, das Tenorwunder zu erklären, es handelt sich aber keineswegs um eine stimmliche Realität. So ist das menschliche Organ keine Orgel und hat folglich auch keine Register, die einfach gezogen werden können (schließlich besitzt man keine Pfeifenreihen, sondern einen einzigen Kehlkopf). Jedenfalls sind wir hiermit wieder bei der Kirchenmusik angelangt, und ich möchte die von Caruso intonierte „Mantelarie“ zitieren, um zu zeigen, dass durchaus ein sakraler Unterton mitschwingt. „La Bohème“ sagt schon deshalb über das Heiligtum Oper etwas aus, weil es um die Misere der Künstler geht, also um die jesuitisch unheiligen, stets fehlenden Mittel. Der Mantel, der als letztes Hemd weggegeben werden muss, ist hierbei ein Symbol für einen absoluten kultischen Tiefpunkt, der mit der Bass-Arie des Philosophen Colline erreicht ist:

„Hör, alter Mantel, ich bleibe hier unten, du aber musst zum Heiligen Berg hinaufsteigen [um auf dem Sacré-Cœur-Markt verscherbelt zu werden]. Von mir erhältst du die Weihen … Niemals beugtest du deinen verschlissenen Rücken vor den Reichen und Mächtigen. In deinen Taschen verkehrten Philosophen und Poeten wie in stillen Höhlen. Nun da die frohen Tage entfliehen, sage ich dir Addio, mein treuer Freund, Addio …“

Fraglos hat die Religion des Ästhetischen den Kultort Theater als ein kostenaufwändiges Relikt hinterlassen und sich inzwischen aufs Kino, Fernsehen und Internet verlegt. Genau das ist das Phantastische am Ästhetheismus, nämlich dass er seinen Prinzipien treu bleibt, sich aber beinahe unbegrenzt anzupassen vermag.

Wie wir gesehen haben, ist sein Kult geschmeidig von den Renaissancehöfen zum Royalismus, von der bourgeoisen Revolution zum diktatorischen Regime übergelaufen und hat heute die maximale Demokratisierung erfahren. Menschlicher sind die modernen Medien nicht unbedingt geworden. Vor allem sind sie viel schwieriger zu durchschauen, weshalb die Welt der schrillen Tenöre und der sich schraubenden Tänzerinnen philosophisch immer noch lukrativ ist und ihre Spitzenerzeugnisse weiterhin ihren ästhetologischen Wert besitzen.

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