Die Krone der Mängelwesen

Nasen und Füße scheinen mehr als andere Körperteile zu beweisen, dass der Mensch im Vergleich nicht etwa die Krone der Schöpfung, sondern vielmehr ein Mängelwesen ist. Aber jeder Blick trügt, der nicht von weit genug außen kommt.

von Marc Hieronimus, 20.09.2016, 16:15 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

° Die Idee vom Menschen als Mängelwesen wird gemeinhin auf Herder zurückgeführt. In seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ sagt er aber ausdrücklich, „Lücken und ‚Mängel‘ können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein.“ Den Begriff prägt erst Arnold Gehlen in seiner Schrift „Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt“. Aufgrund seiner Mangelhaftigkeit habe er sich erstens Technik, zweitens Gemeinschaft und Institutionen, drittens eine gewisse Psychostruktur geschaffen bzw. herausgebildet, brauche aber angesichts der ihm zunehmend unangemessenen eigengesetzlichen Kulturentwicklung eine möglichst starke staatliche Ordnung. An dieser 1940 durchaus opportunen Haltung hat er auch nach der NS-Zeit festgehalten.

° Die Geringschätzung des Menschen zieht sich also keineswegs durch die ganze Philosophiegeschichte. Der Mensch ist freilich nicht perfekt. Er ist das einzige Landsäugetier, das ohne Prothesen nicht gut laufen kann. Vielleicht wäre er im Wasser besser aufgehoben, in dem er nach der steilen These Elaine Morgans eine prägende Phase seiner Phylogenese verbracht hat. Menschen laufen ohne Schuhe wie auf Eiern oder eben wie auf spitzen Steinen. Man wundert sich, wie sie durch die Steinzeit gekommen sind.

° Auch der Nase haftet etwas Lächerliches an. Man kann Jugend- und Erwachsenencomics mit großer Treffsicherheit anhand eines einzigen Panels in humoristisch und ernsthaft unterteilen, indem man nur die Nasen betrachtet. Übertriebene Knubbel- und Langnasen sind komisch, während seriöse Gesichtserker sehr dezent ausfallen (die Ausnahme bilden die Funny Animals: Tiere mit menschlichem Verhalten haben die Riechorgane ihrer Spezies, egal ob sie in Auschwitz oder Entenhausen leben.): Ernste Männernasen sind klein und kantig, Frauennasen neigen zum Verschwinden.

° Die erotisch konnotierte Verehrung einer besonders wohlgeratenen Nase (etwa der Kleopatrens) steht dem nicht entgegen. Gerade weil es wie ein unnütz gewordenes Überbleibsel früherer Zeiten im Zentrum des Gesichtes prangt, kann ein weniger unansehnliches und seinem Bestimmungszweck enthobenes weibliches Exemplar durchaus anziehend wirken. Ähnlich erklärt sich die fetischisierte Verehrung weiblicher Füße in den einschlägigen Medien der Erwachsenenunterhaltung, in denen die Füße manches erdulden, aber weniges tun müssen, vor allem nicht laufen.

° Im Filmbusiness können Männer mit markanten Nasen in lustigen Filmen mitwirken, man denke an die „Supernasen“ Thomas Gottschalk und Mike Krüger im gleichnamigen Klamauk von 1983 (fortgesetzt als „Zwei Nasen tanken Super“, D 1984). Aber Frauen? Rossy de Palma spielt einige illustre Rollen in den Filmen von Pedro Almodóvar und sonst nirgends; Jennifer Grey hat sich nach „Dirty Dancing“ (USA 1987) ihr Markenzeichen richten lassen – und nach dem nose job nie wieder auf sich aufmerksam gemacht.

° Die Nase ist sowohl exponierter als auch mangelhafter als die Füße und darum wohl auch von stärkerer symbolischer Aufladung. Stupsnasen kann man nicht ernst nehmen, Kerlen mit großen Zinken aber unterstellt man mächtige Gemächte: Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes. Ob darin nicht auch wieder ein wenig Penisneid und narzisstische Kränkung gegenüber den Juden mitspielt? Bekanntlich glaubte man noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts, man könne jüdische Männer an ihren vermeintlich typischen Nasen erkennen. Gleichzeitig dachte man(n), die Beschneidung führe zu einer Unempfindlichkeit der Eichel, die es dem Beschnittenen erlaube, weitaus standfester zu sein als der seiner Vorhaut noch nicht verlustig Gegangene (vgl. zum Komplex Sexualität und Judenhass die als Fortsetzung des Werkes von Magnus Hirschfeld angelegte „Sittengeschichte des Zweiten Weltkriegs“). Kein Wunder, dass die derart verwöhnte Jüdin unersättlich ist und den arischen Mann mit ihrer Unzüchtigkeit zur Rassenschande bewegen kann!

° Wir vermessen heute keine Nasen mehr, wir lassen sie operieren, und zwar ausschließlich unter optischen Aspekten. Fuß-OPs dagegen sind rein therapeutisch und recht selten. Kein Wunder, der Mensch ist motorisiert.

(Photo: Marc Hieronimus)

(Photo: Marc Hieronimus)

° Möglicherweise lassen sich die meist erst durch Hypnose zutage gebrachten „Begegnungen der Dritten Art“ als eine unterbewusste Hominidenkritik verstehen. Die Aliens, die da Menschen entführen, um sie zu untersuchen und sexuelle Handlungen an ihnen zu vollziehen, sind wie in die Zukunft projizierte Bessermenschen: Sie haben lange Finger, große Hirne und Augen, bleiche Haut – und keine nennenswerten Nasen mehr. Das ist die Bestimmung unserer Art! Es wäre interessant zu untersuchen, wie sehr die Opfer tatsächlich an ihrem menschlichen So-Sein leiden – wenn man nicht annehmen möchte, dass sie wirklich entführt wurden.

° Warum sind die Pop- und Psycho-Aliens meist nackt? Oder sind sie es gar nicht? Welcher Art sind ihre Füße? Auf die lange Liste der noch zu schreibenden Bücher gehört unbedingt auch die Psychokulturgeschichte der Außerirdischen.

° Der Mensch ist an seinen Lebensraum angepasst. Der einfache, „wilde“ lebt am Aquätor gut ohne Schuhe. Was braucht er Argus- oder Adleraugen, den Geruchssinn eines Hais, einer Mücke oder eines Fuchses (die übrigens auch alle keine Adleraugen haben), er würde verrückt in der stinkenden Stadt! Was braucht er Bärenkräfte? Menschheitskritik ist die Kritik westlicher Kultur.

° Mängelwesen? Da gibt es andere! Artenschützer müssen die letzten Riesenpandas quasi zur Brunftzeit aufeinander binden, damit sie sich endlich zur Fortpflanzung bequemen. Die Nashörner und Tiger werden verschwinden, weil sie sich anders als manch andere Megafauna (wie Wildschweine oder Wölfe) nicht anpassen können. Weit dramatischer ist das Artensterben bei den Amphibien und zahlreichen Insekten, die sich einfach nicht an unseren bislang noch unverhandelbaren Lebensstil gewöhnen können: Die „Todbringer“ Herbizide, Fungizide, Pestizide, aber auch die en passant in immer größerer Menge freigesetzten und kaum in ihrer Einzel-, geschweige denn in ihrer Wechselwirkung getesteten normalen Weichmacher, Farbstoffe, Nanopartikel, Schwermetalle usw. rotten just in unserem historischen Moment mehr Arten aus als je zuvor seit dem Dino-Sterben vor rund 65 Mio. Jahren.

° Wir überstehen das. Man unterschätze nicht die Leistung der Jäger und Sammler, die wir körperlich-geistig in weiten Teilen immer noch sind. Der Autor dieser Zeilen hat unlängst bei einem Helfertag im Köln-Dünnwalder Wildpark einem mannshohen Wisentbullen in die Augen gesehen. Da stockt schon mal der Atem. Unsere Ahnen sind nicht zurückgewichen, sondern haben zugeschlagen, wenn hunderte dieser dem amerikanischen Bison verwandten Büffel sich schützend vor ihrer Herde aufgebaut haben. Das ging nur mit Waffen – und die fürchterlichsten waren Geist und Sprache.

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Lichtwolf Nr. 55

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