Was sich gehört und wozu

In zahlreichen Briefen versuchte Philip Dormer Stanhope a.k.a. Lord Chesterfield seinen Söhnen beizubringen, wie man sich benimmt. Das junge Bürgertum sah in der guten alten Schule allerdings nur Heuchlei und Kalkül.

von Georg Frost, 20.12.2015, 11:11 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Weder als Kind noch als Philosoph bekommt man eine anständige Antwort auf die Frage, warum man bitte und danke sagen soll. Sie zu beantworten hieße, in den ethischen Abgrund zu blicken, dass Manieren und Moral einander nicht bedingen.

Als die Bourgeoisie in der frühen Neuzeit das Selbstbewusstsein des Adelsstands als herrschendes zum Takt der Guillotine vermittels der Laterne aufhob, tat sie das in dem hegelschen Sinne, den das Marxwort (MEW Bd. 3, S. 70f.) meint. Aufgehoben wurden auch die höfischen Verhaltensregeln des Standes, an dessen Stelle sich nun das Bürgertum breitmachte. Der dialektische Umschwung betraf den Benimm selbst wie auch das ihm zugrunde liegende Menschenbild. Die höfische Kultur ging – geschult an Hobbes, Machiavelli und Castigliones „Il cortegiano“ – von artigen Raubtieren aus, die bürgerliche dagegen von schönen Seelen. An die Stelle von Verkehrsregeln sollten nun Tugend und Moral treten. Dieser Deutungskonkurrenz fiel auch Lord Chesterfield (1694-1773) zum Opfer. Die Briefe, mit denen der Lord seine beiden Söhne über die „Kunst zu gefallen“ unterrichtete, wurden vom geschätzten Brevier über das Comment bei Hofe zu Beweisstücken für die Oberflächlich- bis Hinterfotzigkeit der aristokratischen Umgangsformen.

Chesterfield, Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

In Cambridge studierte Chesterfield zunächst alte Sprachen, Französisch, Geschichte und Philosophie, ehe er 1713 zur traditionellen „Grand Tour“ durch Kontinentaleuropa aufbrach – eine Sitte, die auch das heutige Bürgertum seinen Fortpflanzen nach Abi bzw. Studium gerne gönnt. In Paris verkehrte er u.a. mit Montesquieu und Voltaire und wurde nachhaltig von der französischen Kultur beeindruckt. Im folgenden Jahr wurde Chesterfield nach der Inthronisierung Georgs I. Kammerherr des Prince of Wales und als Abgeordneter von St. Germains ins Unterhaus gewählt, wo dieser Teufelskerl unerlaubterweise sechs Wochen vor der Volljährigkeit mit 21 Jahren seine Debutrede hielt. Nach dem Tod des Vaters 1726 erbte er dessen Titel und Sitz im Oberhaus und war im Laufe seiner Karriere u.a. Oppositionsführer, Vizekönig von Irland und Staatssekretär. Nach seinem Rückzug ins Privatleben aufgrund von politischer Frustration und zunehmender Taubheit erlebte Chesterfield 1751 seine letzte politische Sternstunde als Redner bei der Eingabe des Gesetzes zur Einführung des gregorianischen Kalenders.

Zwischen 1728 und 32 hatte der Lord als außerordentlicher britischer Botschafter in Den Haag gedient, wo er mit der Gouvernante Elisabeth du Bouchet, die sich angeblich über seinen Lebenswandel entrüstet haben soll, Sohn Philip zeugte. Aufgrund der Konventionen war es Lord Chesterfield nicht möglich, seinen unehelichen Sohn selbst zu erziehen. Dennoch war er leidenschaftlich darum bemüht, aus dem Kind ein Mitglied höchster gesellschaftlicher Kreise zu machen. Als der junge Philip gerade fünf Jahre alt war, begann sein Vater, ihm regelmäßig zu Erziehungszwecken zu schreiben. Bis zum frühen Tod des Sohnes im Jahr 1768 hatte er über 400 Briefe von seinem Vater erhalten, die nicht viel nützten: Der Filius blieb schüchtern und unbeholfen im Umgang, trotz der Beziehungen des Vaters hatte er es nur auf den Posten eines Gesandten in Dresden gebracht. Der Verlust war für Lord Chesterfield umso schmerzlicher, als er erfahren musste, dass sein Sohn heimlich eine Frau aus niederem Stand geheiratet hatte. Von sowas lässt sich ein echter britischer Lord aber nicht unterkriegen: Um 1764 übernahm er die Erziehung seines Patensohns, Cousins und späteren Erben, ebenfalls Philip genannt (1755-1815). Ihm schrieb Lord Chesterfield nochmals 236 Briefe, um ihn zu einem gefürchteten Redner, angesehenen Gesellschafter und geschickten Diplomaten an den Höfen Europas zu erziehen.

Mindestens vierzehn der Briefe waren ausdrücklich als Kursus gemeint „über die Pflicht, die Nützlichkeit und die Mittel zu gefallen“. Ziel war die Vermittlung von politischer und sozialer Klugheit für eine höfische Gesellschaft. Chesterfields Briefe, die „elegant und geistreich geschrieben, skrupellos Ratschläge erteilen, wie man gesellschaftlich avanciert“ (so der Eintrag in Meyers Enzyklopädischem Lexikon), stehen in einer aristokratischen Höflichkeitstradition, die nach dem Grundprinzip der „submission of the self to the disciplines of social interaction“ vornehmlich der Distinktion und Karriere dient. Ausgehend von der Annahme, jeder Mensch habe den egoistischen Antrieb, anderen zu gefallen, und sei auch dazu verpflichtet, schließt der Lord auf den großen Nutzen, den es hat, anderen Gefälligkeiten zu erweisen: Sie erregen den Wohlwollen, der sich in soziales Fortkommen ummünzen lässt.

Der richtige Umgang basiert auf einer Reihe von Disziplinen, die es zu erlernen und einzuhalten gilt. Am Anfang steht für Lord Chesterfield eine fundierte Kenntnis von Geschichte und Mythologie, die sich bald erweitern sollte zu einem Wissen über die Menschen und die Welt im Allgemeinen. Lord Chesterfield fordert von seinem Sohn beständige Wachsamkeit gegenüber der Erscheinung und dem Inneren anderer: „You must look into people, as well as at them. […] And, when you have found out the prevailing passion of any man, remember never to trust him where that passion is concerned. Work upon him by it, if you please; but be upon your guard yourself against it, whatever professions he may make you.“ (4.10.1746)

Aufmerksamkeit ist zentral nicht nur für Lord Chesterfield. Wie tief verankert sie in unserem Höflichkeitsverständnis ist, zeigt sich in der Dankesfloskel „Sehr aufmerksam.“: Wir verwenden sie (zu selten!), wenn jemand zuvorkommend war, uns also die Verlegenheit erspart hat, ihn um den Gefallen bitten zu müssen, durch dessen Gewährung er oder sie unser Gefallen gewinnt. Beim britischen Lord dagegen besteht die Aufmerksamkeit aus schon fast nachrichtendienstlichem Belauern und Ausbaldowern. Lord Chesterfield weist seinen Sohn scharf zurecht, nachdem ihm dessen unaufmerksames Verhalten bei Tisch zu Ohren gekommen ist, und erklärt: „I know no one thing more offensive to a company than that inattention and distraction. It is showing them the utmost contempt; and people never forgive contempt.“ (22.9.1749) Aufmerksamkeit muss demonstriert werden als Zeichen des guten Willens, die jeweils angebrachten Umgangsformen zu erkennen und einzuhalten. Dafür ist mehr als nur scheinbare Aufmerksamkeit notwendig: „Les bienséances are a most necessary part of the knowledge of the world. They consist in the relations of persons, things, time, and place; good sense points them out, good company perfects them (supposing always an attention and a desire to please), and good policy recommends them.“ (13.6.1751)

Der Sohnemann muss den Sprung ins kalte Wasser wagen. Die Briefe können ihn nur über das Wesen der großen Gesellschaft aufklären. Damit die richtigen Umgangsform in Fleisch und Blut übergehen, ist Übung notwendig. Aufmerksamkeit ist anderen durch die geeignete Wahl von Miene, Kleidung und Auftreten (bspw. durch das angebrachte Maß von Vertraulichkeit) zu erweisen. Man muss die Menschen vor Ort zu studieren, um herauszufinden, was ihnen gefällt. Denn für den Erfolg gilt: „il faut nécessairement être Aimable“; umgekehrt ist, wer nicht gefällt, ein Niemand. Es ist darum eine fast schon existentielle Notwendigkeit, „manners“ zu haben. Sie sind für Lord Chesterfield „the result of much good-sense, some good nature, and a little self-denial for the sake of others, and with a view to obtain the same indulgence from others“; zum Beispiel „to be civil with ease, and in a gentlemanlike manner“, „an engaging address, and an insinuating behaviour“, „a genteel [sic!] carriage and a graceful manner of presenting youself“, „a distinguished politeness; an almost irresistible address; a superior gracefulness in all you say and do.“

Die besten Manieren schaut man sich in bester Gesellschaft ab – für Chesterfield ist das die französische Aristokratie, die in seinen Augen eine natürliche Höflichkeit an den Tag legt. Ähnlich gut lässt sich die Kunst zu gefallen in der Gesellschaft von Frauen erlernen. Sie „polieren“ (der Lord benutzt das französische Wort „décrotter“) Erscheinung und Auftreten eines jungen Mannes – ein Vorgang, der so wichtig ist, dass sich Lord Chesterfield bei seinem in Rom weilenden Sohn erkundigt, ob er bereits eine gute „Entschmutzerin“ gefunden habe.

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Lichtwolf Nr. 52

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