Nachtzug nach S(c)hotter Island

Eine Reise durch die ganz alltägliche Welt des Rausches und der Schizophrenie. Uralte Ausgrabungen folgen. Von dort aus geht es zu frischbackenen Zauberbergen mit hervorragender Sicht auf Gefahrengut mit Charisma. Ein länderübergreifender und nicht zuletzt interdisziplinärer Versuch über Schotter

von Manuel Zabel, 20.06.2015, 13:56 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

 

Es könnte Zucker sein oder Mehl, im richtigen Licht erinnert es an Parmesan. Abgepackt in kleinen Tüten kommt es daher (seltener wird es auf Pasta serviert). Hat man Schotter, Kies, Moos, Blüten oder dergleichen, dann holt man sich das Gramm für 100 Kröten. Das Crack von heute: Flakka bzw. Gravel (dt.: Schotter, Kies; norddt.: Grand). Einbildungen gehören zum Programm. Stunden-, ja tagelang kann man sich durch das Angebot „beamen“. Kopfkino in Reinkultur! Der finale Stopp wird meist auf S(c)hotter Island eingelegt. Der Film wird sogar in 3D geschoben. Man ist bedient, ferngesteuert – und weiß es noch nicht einmal. Des Menschen Fähigkeit zur Selbsttäuschung ist bald grenzenlos (hat mal einer gesagt). Die flektierten Formen dieser Fiktionsspritze lesen sich in etwa so: erregt, ver(w)irrt, unberechenbar, leidenschaftlich rabiat (also gewalttätig), paranoid. Zu guter Letzt darf die selbstmörderische Affekthascherei nicht fehlen. Vielleicht als Hyperbel dessen gedacht, wovon die einstige Frohnatur ergriffen ist: Die auf die Spitze getriebene Pathologie eines Verlustgeschäfts. Klingt ganz nach einer Wahnsinnsdroge. Und dann plädiert ausgerechnet der ehemalige Alaska-Senator und Präsidentschaftskandidatenaspirant der Demokraten, Mike Gravel, für die Legalisierung von Cannabis. Nun, Präsidentschaftskandidat wurde er nicht, Demokrat ist er auch nicht mehr, dafür jetzt Geschäftsführer einer Firma, die mit Hanferzeugnissen aufwartet. Bleibt nur zu hoffen, dass Herr Gravel seinem Namen nicht gerecht wird.

Die synthetische Zusammensetzung des Schotters vermag der gemeine Nutzer nicht aufzuspüren. Da kann er das Zeug noch so sehr sniefen. Dem wesentlichen Bestand des Alpha-PVP wird auch mal Rattengift und Badesalz beigemischt. Vorsicht mit dem Salz! Die Rede ist von einer Designer-Droge, nicht von herkömmlichem Badezusatz. Also besser nicht für ein Vollbad ver(sch)wenden! Doch derlei Erholungskur braucht es gar nicht, solange sich in anderer Form ins nasse Vergnügen gestürzt werden kann. Für Schwitzattacken, Bluthochdruck und Hautwunden muss man nicht in die Wanne steigen. Etliche Vorfälle sind bereits registriert; darunter ein Mann, der nackt durch die Gegend schoss und unter einem Baum innehielt – um ihn zu ficken. Dass hier etwas nicht der Norm entspricht, ist klar. Cocktails dieser Art ziehen für gewöhnlich so einiges in Mitleidenschaft. Die Nerven liegen blank. Alles objektive Sachverhalte, die Rückschlüsse auf mentale Zustände erlauben: Die Schrauben sind nicht fest und die Tassen nicht im Schrank.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Ganz sicher wäre es ein Abenteuer, sich des Getriebes in der Birne anzunehmen, es zu befreien von dem Knäuel, das sich da verfangen hat. Da es in diesem Hexenkessel eventuell nur zu einer Verstopfung kam, würde es wahrscheinlich schon helfen, das Durcheinander zu entknoten und anschließend fein säuberlich auszulegen (ob des Druckausgleichs). Es geht nicht nur darum, den Zirkus zur Räson zu bringen. Auf eine Weise offenzulegen, was in solchen Momenten vor sich geht, hat seinen ganz eigenen Reiz. Erlebnisse in eine andere ontologische Kategorie zu bringen, kann ungeachtet der dem Unternehmen innewohnenden Pragmatik fesseln und ist in der Tat nervenzerreißend. Mit anderen Worten: Von subjektiven Qualitäten zu abstrahieren ist eine dufte Sache. Sie sind allerdings so tief in Subjektivität getränkt, dass es schwerfällt zu glauben, die Lücke zwischen dem bewussten Erleben und Erklärungen der Wissenschaft könne gänzlich geschlossen werden. Den phänomenalen Gehalt bis aufs letzte zu funktionalisieren bleibt wohl selbst Illusion. Am Ende wird sich sein intrinsischer Kern jedem objektiv zugänglichen Vokabular entziehen. So verschlägt es wohl beim Anblick seines behavioristischen Pendants jedem Beobachter dieses Ereignisses zu allererst die Sprache. Nichts als dumpfe Laute finden ihren Weg nach draußen. Doch stehen gerade sie der Aussagekraft jener theatralischen Performancekunst, der ihr Kommentar gebührt, in nichts nach. Wird es zu heftig, hat man keine Wahl, als sich der altbewährten Mimikry zu bedienen: Nachahmung und Schutzfärbung. Doch wie aufregend wäre es, jenen Schauspielen in ihrer Konkretion deckungsgleich auf den Grund gehen zu können, an ihnen teilzuhaben, eins zu eins? Sich ganz und gar in einer anderen Person wiederzufinden, sich jenseits der Wirklichkeit zu bewegen, die andere so nennen mögen, da sie sich nicht der Illusion der Freiheit zu bemächtigen wissen. Wäre das nicht „mind-blowing“? Damit kann selbst die sublimste Empathie nicht mithalten.

Nicht falsch verstehen: Ziemlich konkret, zudem unterhaltsam ist der Versuch mit einem Baum zu verkehren allemal – gerade für einen Außenstehenden. Konkreter soll er gar nicht werden. Nicht zu fassen, so etwas! Es ist schon interessant zu sehen, wie hier ein Versuch unternommen wird, Mutter Natur zu vermenschlichen. Vielleicht triggert gerade das den Schein, sie könne beherrscht werden. Der psychischen Leistung folgt die physische Errungenschaft. Man befruchtet sich gegenseitig. Die Gedanken kreisen unentwegt um das Ei des Kolumbus. Das steht wie eine Eins – im Kopf wie in der Hose. Und der Baum als reizend emporragendes Phallussymbol sowieso. Das Werk scheint vollbracht, eine Lösung gefunden. Was für ein „Brainfuck“.

 

Komik und Tragik liegen bekanntlich eng beieinander. Es ist nicht leicht anzunehmen, dass es Zeitgenossen gibt, die nicht von einem Quäntchen Schizophrenie gezeichnet wären. In den Kinderjahren ist die ihre eigene Welt schaffende Phantasie noch gang und gäbe. Mit der Zeit werden mehr und mehr Korrektive zwischengeschaltet. Wenn dann aber plötzlich nichts so recht gefiltert wird, setzen die Fehlwahrnehmungen ein, dann ist Polen quasi offen. Die Armeen des Wahns halten Einzug. Leidensgenossen, die wissen, wovon sie sprechen, würden diese irre(führende) Spaltung vermutlich als Phänomen der Alltäglichkeit beschreiben, als sei eine Glaswand zwischen Subjekt und Welt geschoben. Die Teilhabe an faktisch vorherrschenden Szenerien nimmt einen bemerkenswert ambivalenten Charakter an. Das Ausharren auf der sicheren Seite verschleiert die Kulisse auf der anderen. Natürlich kann es sein, dass jene Trennung so oder so zu jeder Zeit präsent, ihre Beschaffenheit nur ständigen Änderungen unterworfen ist. So mag für den, der mit dem Baum tanzt, die Wirklichkeit, oder besser, ihr Abbild nichts weiter als blasse Farbe sein, die von der Wand bröckelt. Sie bröckelt und fällt auf den Boden unübertragbarer Tatsachen – überall und nirgends. Ein kurzes Staunen überfällt. Dann kommt die Angst ins Spiel. Man beginnt zu fegen. Entzückt, obgleich sichtlich konsterniert ist der, der allen Rest ins Eck gekehrt sieht. Das, was die anderen für wahr halten, löst sich auf, dekonstruiert sich fast schon von selbst. Seltsam, diese Wand! Blicke verfolgen Spuren brüchiger Eindrücke. Dem Glas entlang erklären sie der Leere seines Untergrunds den Krieg. So transparent milchig wie der ist, wird er immer und immer wieder ausgeschmückt.

[…]

 


Lichtwolf Nr. 50

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