Lieber tot als gar kein Zuhause

Der Friedhof ist eine Art Zerrspiegelbild der Stadt: Zu mancher Zeit als Nekropole dem Wohnort der Lebenden gegenüber und außerhalb liegend, zu anderer wie in einem Mise en abyme mitten ins Stadtbild gesetzt.

von Michael Helming, 20.12.2014, 23:20 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Die folgende, vermutlich ursprünglich aus Osteuropa stammende Gruselanekdote hat sich spätestens im zwanzigsten Jahrhundert bis in westliche Gefilde verbreitet: Zwei etwa gleichaltrige Buben wachsen als beste Freunde im selben Dorf auf. Bereits in jungen Jahren versprechen sie einander, sich gegenseitig zur Hochzeit einzuladen. Dummerweise stirbt einer der beiden plötzlich an einer seltsamen Krankheit, noch bevor er überhaupt ins geschlechtsreife Alter kommt. Trotzdem vergisst der Freund sein Versprechen nicht und macht am Tage X, auf dem Weg zu seiner Vermählungszeremonie – das Aufgebot wartet bereits an der Kirche – einen kurzen Abstecher auf den Friedhof, eben um seinen alten Kumpel als Gast zur Festivität zu bitten. Der so bedachte ist selbstredend daheim, dankt artig für die Einladung, möchte dann aber doch nicht mitkommen, da er befürchtet, mit seinem blassen und abgezehrten Äußeren die übrigen Partygäste zu vergraulen und der Braut den Tag zu versauen. Alternativ bietet er an, die Zeremonie möge fünf Minuten warten, so könnten die Jungs einen Moment unter sich bleiben, um in der modrigen Heimstätte des verstorbenen Gefährten einen Umtrunk aus dessen Hausbar zu nehmen. Der lebende Freund willigt ein und begibt sich hinab in die düstere Grube, wo ihm aus einer hübschen Schale überaus guter Wein kredenzt wird. Inmitten der heimeligen Atmosphäre nimmt man in Erinnerung an gemeinsamer Streiche und Erlebnisse diverse Gläschen zu sich. Als der angehende Bräutigam schließlich Abschied nimmt und leicht angeheitert wieder dem Grabe entsteigt, sind zu seiner Überraschung viele Jahrhunderte vergangen, da die im Jenseits keine Rolle mehr spielende Zeit derweil übereilig verflogen ist. Friedhof, Kirche, Aufgebot und Dorf sind längst verschwunden, der heiratswillige Jüngling findet sich letztendlich als lediger Geist und obendrein völlig entwurzelt, ohne Heim, ohne eigene Grabstelle wieder.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wir übertreten manche Schwelle und wissen immerhin, der Letzte macht das Licht aus und die Tür zu. Um einigermaßen sicher durch die Welt zu kommen, hat der Mensch sich eine Statik von ihr gemacht – eine Ordnung vom Keller bis zum Dach in die Dinge gebracht, die sich auf möglichst stabil konstruierte Fundamente gründet. Wo immer es machbar war, hat er tragende Wände hochgezogen: Gewissheiten, die auch mal was aushalten, an die man sich anlehnen kann. Unvorstellbar, dass wir uns heute noch schutzlos in die Kälte hinaus begeben – ohne Rückzugsoption, ohne eigenes Zimmer, ohne zu wissen, wo wir hingehören. Ereignisse und Gebäude sind gleichsam begehbar. Gemeinsam mit anderen begangene Rituale, Großereignisse wie Taufen, Hochzeiten, Klassentreffen und Beerdigungen fixieren uns in der Zeit. Bauwerke und andere Objekte geben uns Halt im Raum; Punkte, die wir verlassen und an die wir zurückkehren, die wir öffentlich oder privat nutzen und gestalten können – eben einen Platz, an dem wir daheim sind. Home sweet home. Wir werfen unsere Sachen in die Ecke und machen uns breit. Wenn wir wohnen, ordnen wir bestimmte Aspekte unseres Lebens ausgewählten Bereichen unseres Domizils zu. Es gibt vier Wände – eigentlich sechs, wenn man Decke und Fußboden mitrechnet – zwischen denen zum Beispiel gekocht und gegessen wird, zwischen anderen schlafen oder arbeiten wir und zumindest in der deutschen Sprache gibt es ein Zimmer – einen räumlich verwurzelten Lebensmittelpunkt – da wird ganz abstrakt gewohnt, was immer das auch für den Einzelnen bedeutet. Im englischen Sprachraum dient die entsprechende Kammer ganz einfach dem Leben, das auch immer irgendwie ein wildes, ungeordnetes Überleben ist. Im französischen Wort séjour liegt ein eher steriler Aufenthalt, ein einfaches Verweilen. Den Sinn des spanischen cuarto de estar dominiert rudimentäres Sein, quasi das universelle Zentrum der Ontologie zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit; weit reicht da der Blick über die Ebene bis hin zum Horizont. Dagegen erscheint das tschechische Wohnzimmer zumindest rein etymologisch etwas beengter, denn dort ist mehr los, weil der obývák immer auch zumindest ein bisschen bevölkert wird. Ungarisch gesehen liegt auf der ersten Silbe des nappali szoba der Tag, den man in der Bude verbringen darf, woraus sich die Frage ergeben könnte, wohin denn der Ungar am Abend geht. Wie auch immer: Es gibt für alle Tätigkeiten und Einfälle einen kulturell gewachsenen Ort innerhalb des Hauses. Wenn man nun aber stirbt, reduzieren sich mit den Vitalfunktionen normalerweise auch Interessen und Aktivitäten. Es spielt keine Rolle, ob man im Bad oder im Flur tot ist. Zwar wurde man früher trotzdem noch eine Weile lang im Haus gelagert, aufgebahrt und ausgestellt, allerdings schaffte die Moderne diese Gnadenfrist schleichend ab. Ein Toter darf heute nicht mehr den Gastgeber im heimischen Salon spielen. Obwohl Mietverträge nicht mit dem Tod enden, muss die Leiche das Feld räumen, solange sie noch steif ist und vor allem bevor sie anfängt zu stinken. Egal, ob aus Furcht vor Wiedergängern oder weil man seelenentleerte irdische Hüllen für unästhetisch, unhygienisch oder gar pathogen hält, seit Menschengedenken trennt man die Toten zeitnah von den Lebenden. Es ist ein wenig so, wie wenn Kinder selbstständig und erwachsen werden. Wir alle ziehen eines Tages daheim aus, in unsere eigene Bude beziehungsweise ins Grab. Natürlich braucht man dort nicht viel Platz, weder fließendes Wasser noch Zentralheizung, kein Kabelfernsehen und kein Internet, ja nicht einmal einen Briefkasten. Kadaver sind bescheiden, schlafen sie doch ohnehin immerzu und bis in alle Ewigkeit. Derweil in der frohen Riesenvilla des Daseins das Leben lärmt und pulsiert, schreibt man der bescheiden möblierten Einraumwohnung des Verstorbenen eben sprichwörtliche Grabesruhe zu, vielleicht auch immer im Angedenken an Seneca, der die Lautstärke ja an die Größe des Hauses koppelte: Parva domus, magna quies.

Bei genauerem Hinsehen ist diese Zuordnung allerdings nicht richtig, denn Friedhöfe waren in der Vergangenheit häufig öffentliche Plätze mit gewaltigem Trubel und eher wenig Ruhe. Philippe Ariès erklärt in seiner Geschichte des Todes, im Mittelalter und bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein sei der Gottesacker Brennpunkt des sozialen Lebens gewesen, als Ersatz für das antike Forum. Zwar wurden auch Bestattungen vorgenommen, da die weltliche Macht jedoch an den Grenzen der kirchlichen Einfriedung endete, griff hier unter anderem das Privileg des Asylrechts. Die Heiligen gewährten ihren Schutz nämlich nicht nur den Toten, sondern auch den Lebenden und manchmal richteten sich Flüchtlinge, die auf dem Friedhof um Asyl nachgesucht hatten, dauerhaft dort ein. Manche begnügten sich mit kleinen Kammern über den Beinhäusern, andere wiederum erbauten feste Wohnstätten. […]


Lichtwolf Nr. 48

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