Meditation zwischen Lípa und Chlum

Götter sind Worte und umgekehrt: Wer über das Schlachtfeld von Königgrätz wandert, bewegt sich zwangsläufig auch im geistesgeschichtlichen Schatten von Kriegsgöttern, die gerne mal in einen Topf geworfen werden, obwohl sie eigentlich weder verwandt noch verschwägert sind – so Ares und Mars.

von Michael Helming, 20.09.2014, 08:21 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

Mit zwanzig Lenzen fuhr mein Großvater per Bahn durch Frankreich. Ein Militärtransport. Er saß als Wachposten auf einem Güterwagen und warf neugierig an der Etappe stehenden Mädels Schokolade zu – versehen mit Namen und Feldpostnummer. Speed-dating in times of war. Jahrzehnte später, der heiße Krieg hatte sich längst auf Permafrostniveau abgekühlt, erklärte er dem Enkel beizeiten das Prinzip Krieg und ließ an der Veranstaltung kaum ein gutes Haar. Allerdings war er – wie wohl die meisten Angehörigen seiner und sämtlicher Generationen vor ihm, die ja teilweise durch mehrere Kriege gegangen waren – felsenfest von der Unvermeidlichkeit bewaffneter Konflikte überzeugt. Jeder Mensch sei mindestens einmal im Leben gezwungen, die Schrecken des Krieges hautnah zu erleben. Für ihn eine bedauerliche Tatsache, ein ungeschriebenes Gesetz. Falls in der Ukraine oder irgendwo sonst in näherer Zukunft nix anbrennt, haben unsere sogenannten Babyboomer – über die man derzeit vor allem spricht, weil sie demnächst in Rente gehen – die historische Chance, jene seit Menschengedenken existierende Regel zu überwinden und auf Kriegserfahrungen zu verzichten, was sie sicher gerne täten und man ihnen ebenso gerne gönnt.

Photo: Michael Helming

(Photo: Michael Helming)

Nun, mitten im Sommer 2014, landet ein Falter auf meiner staubigen Schuhspitze und ich selbst sitze rittlings auf einem Kanonenrohr, blicke über die Anhöhe nordwestlich von Chlum, wo einst, am Nachmittag des 3. Juli 1866, österreichische Batterien gegen die aus dem Svíbwald (siehe LW46, S. 8-16) und von Sadova her vordringenden Preußen in Stellung gegangen waren, um den eigenen Rückzug zu decken und sich von mörderischem Schnellfeuer aufreiben zu lassen. Der zum Euphemismus neigende Volksmund vergleicht den einfachen Soldaten seit jeher mit einem Schmetterling, da er im Kriege angeblich auch nur drei Sommertage lebt. Der echte Held hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass er in der Extremsituation des Gefechts andere Menschen überlebt; er ist per Definition „Immer-Sieger“ (Elias Canetti) und um diesen vorteilhaften Status zu erreichen „vertraut er sich Gott an“, wie nicht zuletzt in Kriegstagebüchern und Feldpostbriefen nachzulesen ist. Dieses Vertrauen in einen das Schlachtenglück lenkenden Gott scheint im Nachhinein nur bedingt gerechtfertigt. Manch (ewig lebender) Held wird und bleibt (mausetoter) Soldat. Logischerweise kann es nicht allein Helden geben, da ein Krieg ja dann keine Leichen, Krüppel und sonstige Verlierer mehr zu bieten hätte. Und doch müht sich die Propaganda um Stärkung der Kampfmoral, indem sie jedem Soldaten eine siegreiche und sichere Heldenrolle im Rahmen irgendeiner gerechten und guten Sache andichtet, wobei am Ende zuweilen eben doch der paradoxe Heldentod steht.

Hätte ich mich im Sommer 1867 auf diese Kanone gesetzt, so wäre mir hier, am Weg von Lípa nach Chlum, womöglich der Sprachphilosoph Fritz Mauthner begegnet. Der stammt nicht nur gebürtig aus dem nahegelegenen Horschitz (Horice v Podkrkonoší), er kehrte auch regelmäßig in sein Heimatstädtchen zurück, um den Großvater zu besuchen; so gleich im Jahr nach der Schlacht. Da die Eisenbahn damals noch in Königgrätz endete, musste er in eine schwerfällige, einspännige Britschka umsteigen. Zwei Stunden lang ließ er sich quer über das Schlachtfeld kutschieren, hart an Chlum vorbei, über Lípa und Sadova. Er berichtet, die zerstörten Häuser und Hütten seien zwar wieder aufgebaut gewesen und die „Kanonenkugeln in den Mauern des Wirtshauses von Sadowa, das jetzt die deutsche Inschrift ‚Zum Schlachtfelde‘ trug, sahen nach Reklame aus“. Trotzdem sei der Eindruck an jenem „friedlichen schönen Augusttage noch traurig genug“ gewesen. Überall an der Straße standen bereits Grabsteine und beim achtzigsten hörte Mauthner nach eigenen Angaben auf zu zählen. In den schnittbereiten Kornfeldern waren überall deutlich Massengräber zu erkennen, da die Bauern dort weder gepflügt noch gesät hatten. Vom Kutscher ließ er sich wilde Schlachtgeschichten erzählen und von Lípa aus will er die „niedere Höhe von Chlum“ besucht haben, wo damals „nichts mehr an die blutigen Stunden der Entscheidung erinnerte“. Heute gibt es hier neben zahlreichen Monumenten ein kleines Museum – und am Wegesrand eben ein paar Kanonen.

In Mauthners Werk stolpern wir mehrfach über die Erkenntnis, dass Götter nur Wörter sind. So steht es nicht nur in „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“ (Band 1, VIII. Wortaberglaube) und in seinem „Wörterbuch der Philosophie“ unter dem Stichwort „Gott“. Er wagt sogar die Umkehrung: „Die Worte sind bloße Götter“. Damit sind Wörter und Götter herrlich austauschbar, was nicht allein Mauthner hilft, die Sprache zu enträtseln, beziehungsweise zu entmystifizieren; wir kommen mit dieser Entsprechung auch einem möglichen Grund dafür näher, warum es Kriege in unseren Breiten früher öfter gegeben hat beziehungsweise warum es sie vielleicht in Zukunft seltener geben könnte. Heute nämlich müssen die politisch Verantwortlichen ihre Aggressionen selbst begründen und verantworten, derweil sie sich eine Menschheitsgeschichte lang hinter Göttern verstecken konnten. Brach in der Antike ein Krieg aus, bei Homer oder sonst irgendwo in der mythologischen Überlieferung, so war die Ursache meist bei Intrigen zu suchen, die niemand geringeres als die Götter angestiftet hatten. Ungerechtigkeiten, Schwächen, Suff und Zoff unter den Bewohnern des Olymp taugten immer wieder, wenn nicht als direkter Kriegsgrund, so wenigstens als nachvollziehbare Ursache wechselnden Schlachtenglücks. Die Götter lenkten, sie schenkten Glück und Sieg. (Spätestens seit dem Gedicht „Ladislaus und Komkarlinchen“ von Peter Hacks haben wir verinnerlicht, eine Schlacht gehe stets „gewonnen und verlorn“!) Über die Jahrhunderte verringerte sich die Anzahl der Götter rapide, was nicht am Krieg lag, denn manche Völker übernahmen gern die Götter der Besiegten. Religionskriege wiederum sind ein wortreicher Fanatismus für sich. Wo jedoch mittelfristig nur ein Gott übrig blieb, musste der immer noch als oberster Lenker des Kriegsgeschicks herhalten. „Nobiscum deus“ war der Schlachtruf des späten Römischen und des Byzantinischen Reiches. In schwedischer Sprache taugte das Motto den Truppen eines Gustav Adolf im Dreißigjährigen Krieg und als „Gott mit uns“ diente es seit dem frühen achtzehnten Jahrhundert zunächst preußischen und bis zum Zweiten Weltkrieg deutschen Truppen. Die Armee eines postmodernen Staates sollte sich gar nicht mehr auf einen traditionellen Gott berufen. Sie steht „als letztes Mittel“ am Ende einer Kette, die sich politisch im weitesten Sinne auf Diskurs stützt, auf Verträge und Diplomatie, also auf geschickte Wahl und Wichtung von Worten, was immerhin die Einsicht beinhaltet, dass Kriege tatsächlich nur noch dann stattfinden müssen, wenn der Politik die Worte fehlen. Schon deshalb ist es sinnvoll, auch dann weiter zu verhandeln, wenn auf absehbare Zeit kein Ergebnis zu erwarten ist. Machtkonstellationen sind komplexe, wechselhafte und in sich fragile Gefüge; unterschiedliche Auffassungen oder Begehrlichkeiten sind zuweilen Ausdruck diffuser Ängste in der Öffentlichkeit oder bei den vermeintlich Mächtigen. Wie auch immer: Die Bundeswehr stanzt ihren Soldaten keinen wortwörtlichen „Gott“ mehr in die Koppelschlösser, sondern lediglich die drei Begriffe „Einigkeit, Recht, Freiheit“, die streng nach Mauthner allerdings auch nur Götter, Götzen sind.

Was auf Fahnen, Feldkoppeln und anderem Schnickschnack geschrieben steht, scheint emotional weniger wichtig als der verbale Schlachtruf, jene Worte, mit denen die Soldaten ins Gefecht und unter Umständen in die Krüppellaufbahn oder ins Jenseits sprinten. Zu diesem Zweck galt in Preußen 1866 ebenfalls ein „Gott mit uns“, der offizielle Wahlspruch des Königshauses. Daneben hatte jedoch jede Einheit oder jeder Haufen seinen eigenen Schlachtruf, der nicht nur zur Motivation der eigenen Mannschaft und der Einschüchterung des Gegners diente, sondern […]


Lichtwolf Nr. 47

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