Einleitung ins Titelthema „Mars“

Verkehrte Götterwelt
Das ist ja ein mythologischer Spott,
man staunt nicht genug des Wandels:
Seit wann ist Merkur denn des Krieges Gott
und Mars der Gott des Handels?
– Karl Kraus, Die Fackel Nr. 472, 25.10.1917, S. 2

von Timotheus Schneidegger, 20.09.2014, 08:11 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)

 

Abgesehen von der Venus und „unserem“ „eigenen“ zieht kein Planet so viel assoziative Aufmerksamkeit auf sich wie der Mars, der im Abendland bis vor kurzem für den Kriegsgott stand (und heute weltweit für einen Schokoriegel bzw. Lebensmittelkonzern).

Mit Jupiter und Quirinus bildete Mars die Trinität der römischen Hauptgötter. Der angebliche Vater der stadtgründenden Zwillinge Romulus und Remus war ursprünglich ein Fruchtbarkeitsgott, worauf der nach ihm benannte Monat hindeutet, in dem es Zeit für die Aussaat wird. Der Konnex von Krieg und Fruchtbarkeit hallt noch in der Marseillaise nach, in der fröhlich davon gesungen wird, die Äcker mit dem Blut der Feinde zu düngen.

Der Mars und seine Attribute waren und sind keine Nebensächlichkeiten oder Spleene, auch wenn sich solche aus der menschennaturgemäßen Faszination vom Roten Planeten ergeben. Michel Gauquelin etwa versuchte 1951 die Astrologie mit Statistik zu unterfüttern und glaubte festzustellen, in den Horoskopen von herausragenden Sportlern auffällig gehäufte Stellungen des Mars zu finden.

3.500 Jahre zuvor machte man sich in Mesopotamien erstmals daran, die erratischen Bewegungen des „Wandersterns“ Mars in der vom Ackerbau motivierten, gleichwohl assoziationsfreudigen Astronomie zu erforschen. Auf Babylonisch hieß der Mars Nergal, der Pest und Tod bringt, die Azteken nannten ihn Huitzilopochtli, den Zerstörer von Menschen und Städten. Im indischen Sanskrit dagegen wurde der Mars als „Mangal“ (verheißungsvoll), „Angaraka“ (Glühende Kohle) und „Kuja“ (der Blonde) bezeichnet und steht für Tat, Vertrauen und Zuversicht. Im alten Ägypten wurde Mars „Horus der Rote“ genannt. Der Name „Kairo“ leitet sich von „Al Qahira“ ab, dem alt-arabischen Namen für den Planeten Mars.

Diego Velázquez, Der ruhende Mars, ca. 1640.

Diego Velázquez, Der ruhende Mars, ca. 1640.

So unübersehbar, wie unser Nachbarplanet ist, so tief ist er in den Kalendern verwurzelt, auch wenn gerade nicht März ist. Der „Tag des Mars“ ist italienisch Martedi, französisch Mardi und auf Deutsch der Dienstag, weil Wikinger und Germanen Mars als Tyr kannten, den Gott des Rechts und des Krieges, oder als Tui, daher der englische Tuesday. Sein Symbol, bestehend aus Schild und Speer, teilt er sich mit dem Mars und der Männlichkeit.

Diego Velázquez malte den ruhenden Mars während des Dreißigjährigen Kriegs als Melancholiker, der auch im Schlaflager den Helm auflässt. Ganz so, als ahnte er, wie sehr ihm der Mensch bald auf die Pelle rücken würde. Johannes Keplers erste beiden Bewegungssätze der Planeten waren aus langjährigen Beobachtungen des Mars gewonnen. Heute ist die Erkundung des Weltraums Alltag. Obschon die Raumfahrt den Glanz und die Euphorie ihrer ein halbes Jahrhundert zurückliegender Anfänge eingebüßt hat und Mars den meisten hinter Lichtsmog verborgen bleibt, sind die kulturellen Residuen der jahrtausendelangen Faszination vom roten Lichtfleck, der an Blut und Feuer denken lässt, noch spürbar.

Erde und Mars

„Mars Earth Comparison 2“ von NASA/JPL/MSSS & User:DrLee – NASA/JPL/MSSS based on the these sources.. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

 

Im Mittel ist der Mars „nur“ gute 55 Mio. Kilometer entfernt und damit 143mal so weit wie der Mond. Obwohl nur halb so groß wie die Erde, ist Mars von allen Planeten im Sonnensystem dem unseren am ähnlichsten. Das Jahr ist dort 687 Tage lang, die jeweils 24 Stunden, 37 Minuten und 22 Sekunden dauern. Durch seine geneigte Rotationsachse gibt es auf dem Mars Jahreszeiten unter dem lachsfarbenen Himmel, der mindestens so gewöhnungsbedürftig ist wie die Kälte, die dünne Atmosphäre voller CO2 und die geringe Schwerkraft.

Von solchen geo- bzw. marsologischen Details konnte Immanuel Kant nichts wissen, als er 1755 seine Theorie „Von den Bewohnern der Gestirne“ verfasste. Demnach führen die „Entfernungen der Himmelskörper von der Sonne gewisse Verhältnisse mit sich“, die „einen wesentlichen Einfluß [auf] die verschiedenen Eigenschaften der denkenden Naturen nach sich ziehen, die auf denenselben befindlich sind“. Je näher ein Planet der Sonne, desto träger die Materie, nicht nur „Quelle des Lasters, sondern auch des Irrthums“. Dagegen sind die Einwohner sonnenferner Planeten in Denken und Gestalt von geisterhafter Geschicklichkeit.

Damit begründete Kant den Mythos vom überlegenen Marsbewohner. Bereits 1790 wurde mit Carl Ignaz Geigers Roman „Reise eines Erdbewohners in den Mars“ der literarische Erstkontakt unternommen – wenn auch als Parodie auf die deutschen Verhältnisse Ende des 18. Jahrhunderts.

Ihren Durchbruch ins Weltkulturerbe verdanken die Marsianer Giovanni Schiaparelli von der Mailänder Sternwarte. Er entdeckte im Jahr 1877 schnurgerade Linien auf dem Mars, die er als „canali“ bezeichnete und zunächst nicht für die technischen Anlagen hielt, als die sie in der Übersetzung „Kanäle“ um die Welt gingen. Acht Jahre nach Fertigstellung des Suezkanals war damit das Marsfieber auf Erden geweckt. Percival Lowell, Lebemann aus vermögendem Hause, wurde zum Mars-Enthusiasten und baute sich 1894 ein eigenes Observatorium. Lowells hartnäckige Überzeugung vom bewohnten Mars wurde gleichwohl schon zu seinen Lebzeiten widerlegt.

Zu genau der Zeit schließt der Mensch von sich auf die Marsianer und beschäftigt sich mit der Aussicht, von der technisch überlegenen Zivilisation des Roten Planeten das erwarten zu haben, was den Einwohnern jenseits Europas durch den weißen Mann widerfuhr. 1897 kommt die Mars-Invasion zwei Mal in Romanform daher, zeitgleich verfasst vom deutschen Mathematiker Kurd Laßwitz und natürlich vom Lowell-Leser H. G. Wells („War of the Worlds“).

Mit dem „Krieg der Welten“ verarbeitet Wells auch das Unbehagen am Imperialismus, wie es noch in Bradburys „Mars-Chroniken“ von 1950 zu spüren ist. Längst ist der westlichen Welt klar, ihren Wohlstand einem Handel zu verdanken, der eher Plündern ist und nicht ohne Gewalt stattfinden könnte. Den Zusammenhang zwischen Krieg und Handel ahnen auch wir nicht erst, seit deutsche Bundespräsis ihr Volk auf die Bereitschaft einschwören, im Namen der Freiheit (der Warenwege) Blut zu vergießen.

Wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dem Karl Kraus die vertauschten Bahnen von Mars und Merkur im Eingangszitat bemerkte, veranlasste eine Werbeanzeige ihn unter der Überschrift „Reklamefahrten zur Hölle“ zu einem selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlichen Zornesausbruch: „In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:“

Die Fackel, Nr. 577, Nov. 1921, S. 96

(aus: Die Fackel, Nr. 577, Nov. 1921, S. 96)

 

In der weltweiten Anspannung, die nach dem Münchner Abkommen herrschte, strahlte Orson Welles am 30.10.1938 seine Hörspielbearbeitung vom „Krieg der Welten“ aus und löste damit eine Massenpanik aus. Die Hysterie über Bewohner des Kriegsgestirns war selbst dann nicht aus den Köpfen (auch der Wissenschaftler) zu kriegen, als in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ersten Sonden den Mars erkundeten. Das Marsgesicht in der Region Cydonia ist fest in der Popkultur verankert, auch wenn schnell klar war, dass zufällige Schattenmuster dem Hügel ein humanoides Antlitz verliehen hatten. Die Sonden photographierten und vermaßen eine lebensfeindliche Wüste, die mehr sein musste als das. Wenn einige darin Reste einer hochentwickelten Zivilisation sahen, die sich mit fortgeschrittenen Waffen selbst zerstört haben musste, wurden der Mars und seine Bewohner einmal mehr zur Projektionsfläche der menschlichen Furcht vor sich selbst.

Seit Laßwitz und Wells haben unzählige weitere Autoren den Mars zum Schauplatz von allzuirdischen Geschichten und Abenteuern gemacht. Dabei ist der Beitrag der Fiction zur Science gar nicht zu überschätzen: Sci-Fi-Geschichten haben viele große Forscher wie Carl Sagan erst zu ihrer Wissenschaft hingezogen, was ihre Vorannahmen prägte und ihren Enthusiasmus gegen Rückschläge immunisierte. Ohne diesen phantastischen Impfstoff wäre es mit der wenig ergiebigen Erkundung unseres kosmischen Hinterhofs längst aus. Ernüchtert wird auf dem Mars allenfalls nach Mikroorganismen gesucht. Das Wasser-eis an den Polen räumt dabei die Möglichkeit früheren Lebens ein – und die von künftigem in Form von Mars-Kolonien.

Doch nicht nur die Kosten lassen die Politik davor zurückschrecken. Menschen bräuchten rund 200 Tage zum Roten Planeten. Treibstoff- und Energieversorgung sind dabei ebenso große Herausforderungen wie die physiologischen und psychischen Folgen, die der jahrelange Aufenthalt in Schwerelosigkeit, Strahlung und engen Räumen auf die Besatzung hätte.

 

Gegen Ende des Kalten Kriegs schien es, als könne der Mars als nur gemeinsam zu bewältigende Herausforderung zum Friedensstifter zwischen Sowjetunion und USA werden. Der Erfinder der V2, Wernher von Braun hatte immerhin schon 1952 mit „Das Marsprojekt“ ein Standardwerk der Missionsplanung vorgelegt. (Im gleichen Jahr prägte Arthur C. Clarke mit „Projekt Morgenröte“ den Begriff des Terraforming auf dem Mars.) Doch mit dem Systemgegensatz endete auch die Finanzierung von prestigeträchtigen Missionen mit ihrem wehrtechnischen Beifang. Nicht nur, aber besonders wenn es um den Mars geht, scheint die martialische Natur der Raumfahrt blutrot auf. Carl Sagans Plädoyer ist immer noch aktuell: Raumfahrt ist genauso anspruchsvoll wie die bevorzugte Rüstungsforschung, aber preiswerter. Die Gesamtkosten des letzten Mars-Projekts der NASA, „Curiosity“ betrugen 2,5 Mrd. $, denen ca. 700 Mrd. $ gegenüberstehen, die der Irakkrieg von 2003 bis 2009 verschlang.

Aller Freude an teuren Landkriegen zum Trotz scheint es das unvermeidliche Schicksal des Menschen zu sein, in den Weltraum und damit zum Mars vorzustoßen. Ohne einen grundlegenden Bewusstseinswechsel dürfte das für den Roten Planeten bedeuten, kein neuer Anfang, sondern eine zweite Erde zu werden, ganz so wie aus Amerika ein zweites Europa wurde. Statt einer grausamen Kolonisation wird die Transformation mittels Terraforming betrieben werden. Die Bewohnbarkeit des Mars wird über Jahrhunderte hergestellt mittels des Treibhauseffekts, der die Bewohnbarkeit der Erde gefährdet.

2024 will die private Stiftung Mars One zum Roten Planeten aufbrechen. Obwohl aus Kostengründen auf den Rückflug verzichtet und mit dem Medienkonzern Endemol („Big Brother“) kooperiert wird, haben sich 200.000 Freiwillige gemeldet. Auch in der Literatur feiert das Marsfieber neue Schübe: Reinhard Jirgl erzählte 2013 in „Nichts von euch auf Erden“ opulent von der gewaltsamen Rückkehr der Marskolonisten auf die pazifizierte Erde. „Die Zukunft des Mars“ aus dem gleichen Jahr dagegen ist wüst und primitiv, wie auch die verheerte Erde; geschrieben hat den Roman Georg Klein, der sich den Namen mit dem Bundeswehr-Oberst teilt, der 2009 Tanklaster in Kundus bombardieren ließ.

So zieht der Mars seine blut- und feuerroten Kreise.

 


Lichtwolf Nr. 47

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